Ein neuer Engel für die große Stadt
Eine Krimi-Kurzgeschichte von Renate Behr
Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Die Nächte waren schon empfindlich kalt. Bald würde er sich eine Bleibe suchen müssen, um die frostkalten Nachtstunden zu überstehen. Das Leben auf der Straße – er hatte sich damit arrangiert. Im Sommer, da hatte es einen Hauch von Freiheit und Abenteuer und war genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Aber jetzt, wo der Winter in greifbare Nähe gerückt war, da wurde es unangenehm. Er sah sich um. Die Leute hasteten an ihm vorbei, würdigten ihn keines Blickes. Alle wollten sie schnell wieder ins Warme.
Der Rucksack auf seinem Rücken war schwer, er enthielt alles, was ihm geblieben war. Ein oder zwei warme Pullover, eine Decke, ein wenig Geschirr und sein Radio. Allerdings waren die Batterien lange leer und er hatte kein Geld, um sich neue zu kaufen.
Sein Magen rumorte. Er hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen. Er sah sich suchend nach einem vielversprechenden Opfer um. Da, an der Imbissbude stand eine alte Dame und biss genussvoll in ihr Bratwurstbrötchen. Er näherte sich vorsichtig. Manchmal reichte es schon, wenn man sie hungrig ansah, diese alten Damen. Das weckte für gewöhnlich ihren Mutterinstinkt. Aber bei dieser da schien das nicht auszureichen. Sie hatte kurz aufgeblickt, als er näher herankam, die Stirn gerunzelt und sich umgedreht. Offensichtlich wollte sie von ihm nicht belästigt werden. Normalerweise hätte er sich zurückgezogen und nach einer anderen Frau Ausschau gehalten. Aber es war schon dunkel und die Aussicht auf Erfolg war gering. Also trat er noch ein wenig näher heran.
»Verzeihung«, sagte er leise. Die Frau sah ihn an, die eisblauen Augen blickten hart und kalt. »Ich habe Hunger, haben Sie vielleicht etwas übrig für mich?« Der Blick, der ihn jetzt von Kopf bis Fuß streifte, war verächtlich und jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
»Verschwinden Sie«, zischte es aus ihrem Mund.
Er hätte auf sie hören sollen. Aber der Hunger war einfach zu groß, ihm war übel vor Hunger und deshalb ließ ihn sein Instinkt im Stich.
»Bitte«, sagte er verzweifelt. »Ich habe seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Mir ist kalt und ich habe furchtbaren Hunger. Nur ein kleines Stück von Ihrem Brötchen, gute Frau. Bitte.«
Hass flackerte auf in ihren Augen.
»Es ist immer dasselbe mit euch Pennern. Warum arbeiten Sie nicht wie jeder anständige Mensch? Stattdessen stehen Sie hier herum und betteln mich an. Haben Sie denn gar keine Ehre im Leib?«
Sie schüttelte den Kopf, dann nahm sie den Rest ihres Brötchens und warf es demonstrativ in den Abfalleimer. Sie wischte sich Hände und Mund ab und warf die benutzte Serviette hinterher.
»Jetzt können Sie es nehmen, wenn Sie wirklich schon so tief gesunken sind.« Dann drehte sie sich um und ging mit kleinen, schnellen Schritten die Straße hinab.
Er griff nach dem Stück Brötchen. Ja, er war so tief gesunken. Es machte ihm nichts mehr aus, sich Essen aus dem Abfall zu nehmen. Das halbe Brötchen war noch warm von der Bratwurst. Gierig stopfte er es sich in den Mund. Da legte ihm jemand von hinten die Hand auf die Schulter.
»So schlimm?«, fragte eine Männerstimme. Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand ein Mann, mittleren Alters, mit einer warmen Felljacke.
»Kommen Sie, ich wohne nicht weit von hier, da gibt es zu essen und zu trinken. Und wenn Sie wollen, ein Bett für die Nacht.«
Er hätte wegrennen sollen, so schnell er konnte. Aber die Aussicht darauf, diese kalte Herbstnacht nicht draußen verbringen zu müssen, war zu verlockend. Und der Mann sah so ordentlich und ehrlich aus, was konnte da schon passieren. Er nickte und ging mit.
Schon nach wenigen Minuten erreichten sie ein kleines Haus mit einem großen Garten. Der Mann schloss die Tür auf und ließ ihn eintreten. Wärme schlug ihm entgegen.
»Setzen Sie sich.« Der Mann deutete auf einen Stuhl. »Ich mache Kaffee und hole Ihnen etwas zu essen.«
Neugierig sah er sich um. Die Küche, in der er sich befand, war sehr ordentlich und aufgeräumt. Der Mann hantierte an den Schränken und an der Kaffeemaschine.
»Ach, bevor ich es vergesse, ich heiße Martin.« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich bin Jens«, antwortete er.
Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber. Jens hatte schon die zweite Tasse Kaffee vor sich und eine große Portion Rührei mit Speck im Bauch. Er fühlte sich rundherum wohl. Martin lächelte ihn an.
»Ich zeige dir jetzt, wo du schlafen kannst.«
Jens nahm seinen Rucksack und folgte Martin in den Keller. Dort gab es so eine Art Gästezimmer mit eigenem Bad.
»Du kannst duschen, wenn du willst. Ein Bademantel hängt hinter der Tür. Und da ist eine Waschmaschine, wenn du gern deine Sachen waschen willst.«
»Warum tust du das, du kennst mich doch gar nicht. Hast du keine Angst, ich könnte dir was antun?«
Martin schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht, da bin ich sicher. Gute Nacht.«
Jens verstand die Welt nicht mehr. Bisher hatte er – seit er auf der Straße lebte – kaum ein gutes Wort von jemandem bekommen und nun das hier. Aber wozu darüber nachdenken. Für heute war gesorgt und was morgen kam, das würde man schon sehen. Er gönnte sich den Luxus einer heißen Dusche. Als er zurück in das kleine Zimmer kam, sah er, dass Martin ihm noch ein Sandwich und einen frischen Kaffee hingestellt hatte.
Er setzte sich auf das frisch gemachte Bett, aß das Sandwich und trank den Kaffee. Er war wohl etwas zu stark geraten, er schmeckte ziemlich bitter. Dann wurde ihm auf einmal schwindlig. Er ließ sich zurücksinken auf das Bett. Alles um ihn herum versank in einer dunklen Wolke.
Der Mann, der sich Martin nannte, stand in der Tür und sah auf den mageren Jungmännerkörper. Na, viel ist da nicht dran, hoffentlich ist er wenigstens gesund, dachte er. Dann ging er nach oben und griff zum Telefon.
»Martin hier, ich habe was für dich. Aber du musst sofort kommen und ihn abholen, ich will nicht, dass er hier wieder aufwacht. Und bring das Geld mit.« Dann legte er auf.
Kurze Zeit später klopfte es an der Hintertür. Zwei Männer in dunkler Kleidung standen davor. Martin wies ihnen den Weg zum Keller.
»Wo hast du den denn aufgegabelt?«, fragte einer der beiden.
»Er hat um Essen gebettelt, lebt wohl auf der Straße. Den wird niemand so schnell vermissen.« Martin nahm einen Umschlag entgegen. Er zählte das Geld nach und nickte zufrieden. »Nehmt ihn und verschwindet«, sagte er.
Die beiden anderen lachten.
»Der Chef hat schon alles vorbereitet. Wir haben eine Menge Leute auf der Warteliste, also sieh zu, dass du uns bald wieder etwas besorgst.«
Dann nahm der eine Jens auf die Schulter, der andere sammelte seine wenigen Habseligkeiten ein und sie verließen das Haus auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren.
Jens öffnete vorsichtig die Augen. Etwas stimmte nicht. Er war nicht mehr da, wo er eingeschlafen war und, verdammt, er hatte Schmerzen. Vorsichtig versuchte er, sich aufzurichten. Da ging die Tür auf.
»Schön liegen bleiben, mein Junge.«
»Wo bin ich?«, fragte Jens.
»Im Krankenhaus. Du bist auf der Straße zusammengebrochen. Innere Blutungen, wir mussten dich operieren. Und jetzt schlaf mal wieder.« Und bevor Jens etwas sagen konnte, wurde ihm ein Betäubungsmittel gespritzt, das ihn gleich wieder in tiefen Schlaf fallen ließ.
Der Arzt verließ das Zimmer. Draußen gab er einem Pfleger noch einige Anweisungen.
»Er schläft jetzt wieder. Die OP hat er gut überstanden, die Niere ist schon unterwegs. Wir müssen zusehen, dass er bei Kräften bleibt bis nächste Woche. Dann brauchen wir die Leber und das Herz. Ich will mal sehen, ob wir nicht auch noch einen Interessenten für die zweite Niere finden. Wäre doch schade, wenn wir die einfach drin lassen müssten.«
Kommissar Hallmann stand im Gerichtsmedizinischen Institut und sah den Pathologen an. In der Nacht hatte man die Leiche eines jungen Mannes gefunden, der frische Operationswunden aufwies. Hallmann war hier, weil der Gerichtsmediziner ihm die Ergebnisse der Obduktion persönlich sagen wollte.
»Todesursache?«, fragte Hallmann.
»Wenn es nicht so makaber klingen würde, würde ich sagen ›Herzlosigkeit‹.«
Verständnislos sah Hallmann ihn an. »Wie meinen Sie das denn?«, fragte er.
»Nun, ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass der Leichnam frische OP-Wunden aufwies. Man hat ihm – sehr fachmännisch übrigens – alle wichtigen Organe entnommen. Die linke Niere muss so ungefähr vor 10 Tagen entfernt worden sein, die rechte Niere, die Leber und das Herz erst gestern. Die Untersuchung des verbliebenen Körpers ergab deutliche Mangelerscheinungen und die Art und Weise, wie er gekleidet war und was er bei sich hatte, lässt darauf schließen, dass er auf der Straße gelebt hat.«
Hallmann schüttelte den Kopf. Er versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was der Gerichtsmediziner gesagt hatte. Organhandel, ein sehr lukrativer Zweig der Kriminalität. Aber dass hier, in seiner Stadt, Obdachlose als Organlieferanten umgebracht wurden, das konnte und wollte Hallmann nicht glauben. Er nahm sich Fotos von dem Toten und machte sich auf die Suche.
Fast den ganzen Tag war er durch die Stadt gelaufen. Er hatte Obdachlose befragt, Kiosk- und Tankstelleninhaber, Passanten, alles ohne Erfolg. An einer Straßenecke sah er einen Imbiss. Der Duft von frisch gegrillter Bratwurst stieg ihm in die Nase. Er ging hinüber und bestellte sich eine Bratwurst. Auch dem Imbiss-Besitzer zeigte er das Foto.
»Ja, der war vorige Woche hier. Hat versucht, Frau Patzke anzubetteln.«
»Wer ist Frau Patzke?«, fragte Hallmann.
»Ach, die alte Dame kommt zwei Mal in der Woche hier Bratwurst essen. Einsam ist und verbittert. Und Sie hat einen ziemlichen Hass auf Obdachlose. Penner sind das, sagt sie. Ich weiß auch, warum das so ist. Ihr einziger Sohn, der ist bei einer Schlägerei von einem Obdachlosen mit dem Messer so schwer verletzt worden, dass er daran gestorben ist. Seitdem hasst sie alles, was keinen festen Wohnsitz hat. Tja, sie hat ihm nichts gegeben, aber ihr Brötchen weggeworfen. Das hat er sich aus dem Abfall geholt. Ich hatte schon überlegt, ob ich ihm eine Bratwurst schenke, aber da kam so ein Typ und hat ihn einfach mitgenommen. Was ist denn passiert, der sieht so tot aus auf dem Foto?«
»Tja«, antwortete Hallmann. »Das ist er auch. Können Sie den Mann beschreiben, der ihn mitgenommen hat?«
Der Imbissbesitzer schüttelte den Kopf. »Eine Felljacke hatte er an und er trug eine Brille. Er ist öfter mal hier in der Gegend, aber ich habe ihn mir einfach nie genauer angesehen. Ist einfach so ein Durchschnittstyp.«
Nachdenklich ging Hallmann zurück zu seinem Wagen. Konnte es sein, dass dieser angebliche Durchschnittstyp ein Zulieferer für die Organ-Mafia war? Und wenn ja, wie sollte er ihn dann finden? Er brauchte einen Lockvogel, aber das war gefährlich. Wem konnte er so etwas zumuten? Ein Entschluss reifte in Kommissar Hallmann. Er würde es selbst machen müssen.
Zurück im Kommissariat begann er alles Notwendige in die Wege zu leiten. In zwei oder drei Tagen würde er die Aktion starten können. So lange brauchte es, bis er sich einen einigermaßen glaubwürdigen, ungepflegten Bart stehen lassen konnte. Seine Kollegen waren nicht begeistert von Hallmanns Idee, hielten sie für viel zu gefährlich. Aber letztendlich stimmten sie zu. Hallmann wurde mit mehreren Abhörgeräten ausgestattet. Und dann ging er los, auf die Straße. Er drückte sich an allen möglichen Orten der Innenstadt herum und beobachtete die anderen Obdachlosen, die es in dieser Großstadt natürlich fast überall gab. Er versuchte ihre Bewegungen zu imitieren, um glaubwürdig zu wirken. Und dann, als es Abend wurde und Hallmann schon total durchgefroren war, ging er zu dem Imbiss, an dem auch an diesem Abend Frau Patzke wieder ihre Bratwurst aß.
Jetzt kommt das Schwierigste an dem ganzen Auftritt, dachte Hallmann.
»Verzeihung«, sprach er die alte Dame an. »Verzeihen Sie mir, ich habe Hunger.«
Frau Patzke starrte den Mann hasserfüllt an. »Dann gehen Sie arbeiten und belästigen Sie nicht alte Frauen. Immer dasselbe mit diesem Pack. Nichts tun und ehrliche Menschen angreifen.«
»Aber«, wollte Hallmann erwidern, doch Frau Patzke hatte bereits ihr halb angebissenes Brötchen weggeworfen und ging davon. Hallmann seufzte. Dann bückte er sich nach dem Brötchen. Würde er das jetzt wirklich essen müssen? Er hatte Hunger, aber er ekelte sich auch ziemlich. Noch bevor er die folgenschwere Entscheidung treffen musste, wurde er angesprochen.
»Wirf es weg. Ich wohne hier ganz in der Nähe. Du kannst mitkommen, wenn du willst. Es gibt zu essen und zu trinken und ein Bett für die Nacht.«
Dann wandte sich der Mann um. Er trug eine Felljacke und eine Brille, das musste der Typ sein, den der Imbissbesitzer beobachtet hatte. Hallmann aktivierte die Abhörgeräte. Er wusste, dass seine Kollegen ihn von jetzt an nicht mehr aus den Augen lassen würden. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl. Im Körper des toten Jungen waren Spuren von starken Betäubungsmitteln nachgewiesen worden. Und wahrscheinlich war er schon im Haus dieses Mannes betäubt worden. Und er sollte dort nun etwas essen und etwas trinken.
Hallmann saß am Küchentisch und schaute zu, wie der Mann, der sich als Martin vorgestellt hatte, das Essen zubereitete. Hallmann war sich ziemlich sicher, dass er nichts unter die Rühreier gemischt hatte und auch nichts in den Kaffee getan hatte. Also aß und trank er mit gutem Appetit. Dann zeigte Martin ihm das Appartement im Keller. Hallmann ging in das Badezimmer, ließ die Dusche laufen und nahm sein Handy.
»Hallmann hier, ich bin der Stauferstraße 27, im Keller. Ich bin sicher, dass man mir hier gleich ein Betäubungsmittel verabreichen wird. Ihr müsst das Haus im Auge behalten. Ich werde jetzt nichts mehr essen oder trinken, aber ich werde eine Ohnmacht vortäuschen. Entweder das Ganze passiert hier an Ort und Stelle oder er bringt mich hier weg. Zugriff erst, wenn ihr wisst, wo die Organentnahmen durchgeführt werden«
»Oder wenn dir Gefahr droht, Kollege. Überlass das mal uns, wir passen schon auf.«
Hallmann war ein wenig beruhigter, aber so ganz wohl fühlte er sich noch immer nicht in seiner Haut. Er ging zurück in das kleine Zimmer und fand dort Kaffee und belegte Brote auf dem Tisch. Von Martin war weit und breit nichts zu sehen.
Hallmann goss den Kaffee im Bad in den Ausguss, die Brote ließ er unberührt. Dann legte er sich rücklings auf das Bett und schloss die Augen.
Nach fünfzehn endlos scheinenden Minuten ging die Tür auf. Offensichtlich war der Mann zufrieden mit dem, was er sah. Hallmann hörte, wie er oben telefonierte.
Nun war er sich ganz sicher, dass dieser Martin für die Organ-Mafia arbeitete und Obdachlose von der Straße wegholte. Obdachlose, die in einer Großstadt niemand so schnell vermissen würde. Aber Hallmann wollte die Drahtzieher haben. Er schrieb eine SMS an seine Kollegen und informierte sie, dass er bald abgeholt würde.
Hoffentlich passen die gut auf, dachte er. Wenn die bemerken, dass ich nicht betäubt bin, bringen Sie mich vielleicht schneller um als die Kollegen reagieren können. Aber seine Sorge war unbegründet.
Es kamen zwei Männer in den Keller hinunter, von denen der eine Hallmanns Sachen packte, der andere lud sich den nicht gerade leichten Kommissar wie einen Sack Zement über die Schulter. Dann ging es durch die Hintertür hinaus in den Garten und über einen Seitenweg zu einem Minivan. Ziemlich unsanft wurde Hallmann auf die Ladefläche geworfen und der Wagen setzte sich kurz darauf in Bewegung.
Nach einer ungefähr halbstündigen Fahrt hielt der Wagen an. Jemand öffnete die hintere Tür. Und noch bevor man versuchte, den angeblich betäubten Obdachlosen aus dem Auto zu ziehen, hörte Hallmann die vertraute Stimme seines Kollegen:
»Schön vorsichtig die Hände hoch und keinen Mucks, mein Bester. Sie sind verhaftet, unter anderem wegen Beihilfe zum Mord.«
Hallmann sprang aus dem Wagen und sah, dass seine Kollegen die beiden Männer, die ihn hergebracht hatten, schon in Gewahrsam hatten. Er sah sich um. Der Wagen parkte vor dem Hintereingang einer kleinen, in dieser Stadt gut bekannten Privatklinik, die am Rand der großen Stadt lag und eigentlich ein Zentrum für plastische Chirurgie war. Hier also war der junge Obdachlose zu Tode gekommen. Es dauerte nicht lange und die Beamten hatten die beiden Ärzte, die sich durch den Verkauf von Organen ein nicht unerhebliches Vermögen angelegt hatten, festgenommen. Der Chef der Klinik, der inzwischen informiert worden war, hatte angeblich keine Ahnung von dem, was hier vorgegangen war. Nun, das war nicht mehr Hallmanns Sache. Die Staatsanwaltschaft würde ermitteln und vielleicht auch die Hintermänner noch dingfest machen können. Die beiden Ärzte würden sicher reden, wenn es sich für sie strafmildernd auswirken würde.
An einem der nächsten Abende fuhr Hallmann mit seinem Wagen zu dem Schnellimbiss. Schon von Weitem sah er Frau Patzke dort stehen und ihre Bratwurst essen. Er holte sich ebenfalls ein Bratwurst-Brötchen und trat auf die alte Dame zu.
»Guten Abend, Frau Patzke.« Erstaunt sah sie ihn an.
»Sie erinnern sich nicht an mich, nicht wahr. Vorgestern Abend, da bat ich Sie um etwas zu essen.«
»Sie waren das? Aber wieso, wie ist das möglich. Sie sahen doch aus wie ein Penner.«
»Ja, das war Absicht, Frau Patzke. Mein Name ist Hallmann, ich bin von der Kriminalpolizei. Es ist noch nicht einmal zwei Wochen her, da hat ein junger Mann Sie hier ebenfalls um etwas zu essen gebeten. Sie haben ihn genauso abgefertigt wie mich vorgestern. Und einen Tag später war er tot. Jemand hat ihn von hier mitgenommen, und weil er so hungrig und verzweifelt war, hat er jede Vorsicht über Bord geworfen. Er wurde betäubt und man hat ihm seine Organe herausgeschnitten und einzeln verkauft. Und seinen Leichnam, den hat man weggeworfen, genauso, wie Sie Ihr Brötchen weggeworfen haben, als er sie um etwas zu essen bat.«
Hallmann wusste, dass er kein Recht hatte, der alten Dame das vorzuhalten. Aber irgendwie erschien sie ihm mitschuldig am Tod des jungen Mannes. Frau Patzke war blass geworden. Dann erzählte sie dem Kommissar, wie ihr Sohn in eine Schlägerei mit Obdachlosen geraten war, durch Messerstiche verletzt wurde und letztendlich daran gestorben war.
»Seitdem habe ich alles gehasst, was nicht in ordentlichen Verhältnissen lebte. Aber Sie haben recht, Herr Kommissar. Man darf nicht alle über einen Kamm scheren. Ich werde mir das merken, es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen. Wenn mich das nächste Mal ein Mensch anspricht, weil er Hunger hat, kaufe ich ihm eine Bratwurst.«
Hallmann lächelte.
Und so hat unsere große Stadt einen neuen Engel gefunden, dachte er, als er sich auf den Heimweg machte.
Copyright © 2009 by Renate Behr