Jimmy Spider – Folge 6
Jimmy Spider und die Frau aus der Konserve
Normalerweise bevorzuge ich es ja nicht gerade, in den Zirkus zu gehen, aber wenn dort augenscheinlich übernatürliche Dinge geschehen, muss eben eine Ausnahme die Regel bestätigen.
Offenbar hatte ein Kontaktmann der TCA bei einem Zirkusbesuch gemeinsam mit seiner Familie hier etwas Unglaubliches erlebt: Eine wunderschöne schwarzhaarige Frau soll sich aus einer menschengroßen Konservendose geschält haben. Und das, obwohl zuvor nur Thunfisch in der Dose zu sehen gewesen war. Teurer Thunfisch.
Zuerst hatte ich gedacht, der Mann hätte zu viele Konserven gefrühstückt, aber nachdem mein Chef den Auftrag als solchen angenommen hatte, kam ich nicht umhin, mir ebenfalls ein Bild von der (möglicherweise sehr schmackhaften) Dame zu machen. Doch jedes Mal, wenn ich an den Inhalt der Dose dachte, fiel mir auch wieder der Fischer ein, der mich vor Kurzem hatte skalpieren wollen. So blieben meine Gedankengänge eher an zwei hübschen Damen haften.
Zum einen an der Frau, die sich in der Konserve befinden sollte, und zum an meiner hübschen Begleiterin. Tanja Berner hieß sie, eine dreiundzwanzigjährige Schweizerin, die vom dortigen Geheimdienst zur TCA gewechselt war und mir zur Eingewöhnung als Partnerin zugeteilt worden war.
Ich hatte uns bereits einen Platz auf der Tribüne des Zirkus gesucht und mit – so hoffte ich – Schweizer Spezialitäten versorgt. Auch meinen Schweizer Dialekt hatte ich extra für unsere Begegnung etwas aufpoliert.
Meine Kollegin ließ sich noch etwas Zeit. Sie hatte mir gesagt, dass sie vor Beginn der Show sich noch einmal etwas umsehen wollte. Ich hatte nichts dagegen, schließlich war ich nicht ihr Kindermädchen, und die Show würde erst in ein paar Minuten losgehen.
Die Stimmung schien recht angeheitert. Viele Erwachsene hatten ihr Kleingetier, sprich Kinder, mitgebracht, das vor der Vorstellung überall wild herumwuselte.
In der Manege selbst war noch nichts zu sehen. Nur ganz normaler Sand. Keine versteckten Thunfische oder Konserven.
Hinter mir hörte ich ein Hüsteln, und als ich mich umdrehte, sah ich eine junge, braunhaarige Schönheit, eingepackt in einen roten Wollpullover, blaue Jeans und weiße Turnschuhe. Tanja Berner war gekommen.
Sie lächelte mir entgegen. »Darf ich?«
»Was denn?«
»Mich hinsetzen.«
»Oh, natürlich. Kommen Sie.«
Ich half ihr auf ihren Platz links neben mir. Als sie sich gesetzt hatte, bot ich ihr meine mitgebrachten Speisen und Getränke an.
»Möchten Sie vielleicht eine hübsche Brezeli? Oder eine warme Käffli?«
Augenblicklich erstarb ihr Lächeln. Ihre Augen verengten sich zu zwei Schlitzen, und das, was man von ihnen noch sah, blitzte mir böse entgegen. »Passen Sie auf, dass ich Ihnen dafür nicht Ihr Zipferli verbrühe.«
Ich schaute an mir herunter, bevor ich antwortete. »Wenn Sie meinen. Ich habe noch genug davon im Schrank.«
Mit einem Mal weiteten sich ihre Augen, während ihr Mund offen stand. Damit hatte sie offenbar nicht gerechnet. Aber was hatte sie nur gegen meine Krawatte?
Sekunden später erstarb unser Gespräch, denn irgendwo brandete Trommelwirbel auf, während fanfarenartige Musik aufgespielt wurde. Die Show ging also los.
Nun, die ersten dreißig Minuten der Vorstellung waren schnell erzählt. Während ich mir genüsslich die Brezel und den Kaffee einführte, taten ein paar Clowns, Zirkustiere und Trapezkünstler ihr Möglichstes, um mich an den Rand des Einschlafens zu bringen.
Dann, endlich, kam die Show zu ihrem Höhepunkt. Scheinwerfer erleuchteten die Manege, und als ein weiterer Trommelwirbel aufbrandete, trugen vier Männer eine menschengroße Konservendose herein. Nur gut, dass ich gerade erst gegessen hatte, sonst wäre mir das Wasser im Mund zusammengelaufen.
Nachdem die Dose in die Mitte der Manege gestellt worden war, verließen drei der Helfer wieder das Zirkuszelt, während von irgendwo der Zirkusdirektor das folgende Geschehen ankündigte.
»Meine Damen und Herren, es ist soweit. Sehen Sie nun eine Frau, eine Weltsensation, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat. Von der schönen Insel Madagaskar stammt diese namenlose Schönheit, die Sie in den folgenden Minuten in sprachloses Erstaunen versetzen wird. Erleben Sie nun mit mir gemeinsam … die Frau aus der Konserve!«
Heilloses Gemurmel herrschte nun auf den Zuschauerrängen, was der Sprecher mit einem streng klingenden Ruhe bitte! quittierte. Meine Kollegin dagegen schwieg beharrlich. Offenbar hatte sie immer noch an meinen Schweizer Sprachkünsten zu knabbern.
Der letzte verbliebene Helfer, ein muskulöser Mann in einem blauen Hosenanzug und einem weiß-rot-gestreiften Shirt, rieb sich demonstrativ die Hände, bevor er langsam (spannungsfördernd) den Verschluss der Dose öffnete. Zum Vorschein kam … Thunfisch! Welch Überraschung.
Doch kaum, dass sich die Zuschauer wieder gefangen hatten, begann sich der Thunfisch zu verändern. Wellen entstanden in der Dose, und an einem Ende färbte er sich. Ein wenig schwarz, etwas beige. Als wäre das nicht sonderbar genug, schien zusätzlich noch etwas aus dem farbigen Thunfisch hervorzuwachsen – oder besser, zu entstehen.
Zuerst waren es nur schwarze lange Haare, dann ein Kopf, und schließlich wuchs ein ganzer Oberkörper aus dem Thunfisch hervor.
Eine unheimliche Stille herrschte unter den Zuschauern.
Aus einem Teil des Thunfisches war eine schwarzhaarige Frau mit splitternacktem Oberkörper entstanden. Nur die Beine fehlten, denn dort, wo sie hätten sein müssen, breitete sich noch der Thunfisch aus.
Die äußerst wohlgeformte Dame schenkte den Zuschauern ein vielsagendes Lächeln samt noch viel mehr sagendem Schlafzimmerblick, bevor sich die ersten Besucher dazu durchringen konnten, leise zu applaudieren. Immer mehr stimmten ein, und schließlich war das gesamte Zelt von den Laudationes der Applaudierenden erfüllt.
Auch ich gehörte dazu, denn so etwas sah ich auch nicht alle Tage. Selbst meine Kollegin klatschte zaghaft.
Kaum zu hören, meldete sich wieder der Zirkussprecher zu Wort.
»War das nicht fantastisch, meine Damen und Herren? Die Frau aus der Konserve, wie sie leibt und lebt. Ein Wunder der Natur, eine Weltsensation. So etwas hat es noch nicht gegeben. Sollten Sie sie noch einmal erleben wollen, besuchen Sie doch einfach auch unsere Nachmittagsvorstellung.«
Während seiner Worte erschienen wieder die Helfer und trugen den wertvollen Thunfisch samt Dose und Frau wieder aus der Manege. Für die Zuschauer war das wohl ein Zeichen, dass die Vorstellung vorbei war, denn nur Sekunden später herrschte auf allen Rängen reges Gedränge.
Von der Seite stupste mich Tanja Berner an. »Und, was denken Sie?«
»Schöne Vorstellung. Und eine schöne Dame.«
Die Schweizerin verdrehte die Augen. »Ja, natürlich. Haben Sie eigentlich noch auf etwas anderes geachtet, als auf den blanken Busen der Schwarzhaarigen?«
»Natürlich. Und ich weiß auch schon, was wir als Nächstes tun werden.« Ich stand auf und half meiner Kollegin von ihrem Sitz. »Wir werden dieser werten Dame einen kleinen Besuch abstatten.« Ich schaute mich etwas um. »Haben Sie eine Ahnung, wo es hinter die Bühne geht?«
Tanja Berner lächelte mich kurz an, bevor sie sich umdrehte, die Treppe zum Ausgang herunterging und mir laut »Kommen Sie!« zurief.
Dies ließ ich mir nicht zweimal sagen, schließlich wollte ich nicht bis zur Nachmittagsvorstellung warten.
Als ich meine Kollegin eingeholt hatte, standen wir an einer Tür in der Nähe des Ausganges, an die Tanja Berner bereits angeklopft hatte.
»Die Tür ist mir vorhin schon aufgefallen, Mr. Spider.«
»Nicht schlecht.«
Hinter der Tür erklangen Schritte, bevor einer der Helfer, die zuvor noch die Konserve in die Manege und wieder hinausgeleitet hatten, sie öffnete und uns argwöhnisch musterte.
»Was wollen Sie?«
Ich hielt ihm meinen Ausweis vor die Nase. »Wir wollen mit ihrer Hauptattraktion sprechen.«
Der Helfer las zuerst mit verschärftem Blick meinen Ausweis.
»CSI?«
Ich schlug mir die freie Hand vor das Gesicht. Offenbar hatte der Mann noch nie eine Augenarztpraxis von innen gesehen. »Nein, TCA!«
»Kenne ich nicht.«
»Es hätte mich auch sehr gewundert. Und jetzt lassen sie uns rein, sonst hetze ich Ihnen das Gesundheitsamt auf den Hals!«
»Aber ich …«
Was auch immer der Helfer noch zu mir hatte sagen wollen ging in einem markerschütternden Schrei unter. Augenblicklich hatte ich meine Desert Eagle gezogen, und auch in der Hand von Tanja Berner entdeckte ich eine Waffe.
Beinahe automatisch machte uns der muskulöse Dummbatz den Weg frei.
Mit der Waffe im Anschlag liefen wir an kleinen Tiergehegen und Abstellplätzen vorbei, bis wir erkannten, wer den Schrei ausgestoßen hatte.
Vor uns stand die bereits erwähnte Konserve, aus der sich die nackte Schwarzhaarige (oder zumindest ihr Oberkörper) gewunden hatte und einen blonden, jungen Mann in ihrem Griff hielt. Offenbar wollte sie ihn erwürgen.
Ohne Vorwarnung drückte meine Begleiterin ab. Ihre Kugel schlug in den Arm der Thunfisch-Frau. Nicht eine Sekunde später hatte sie den Mann losgelassen, der nun auf dem Boden lag und sich würgend den Hals hielt.
Die Schwarzhaarige sah uns wütend an. »Was soll das? Wer wagt es, mich bei meiner Mahlzeit zu stören.«
Ihre Aussprache klang seltsam kehlig, als müssten sich die Worte erst durch den Hals eines Thunfisches wühlen.
Bevor ich antwortete, umrundete ich die Dose und hielt der Dame die Pistole an den Hinterkopf. »Es ist Fastenzeit, Thunfisch-Lady. Zumindest für Sie. Sie haben uns einiges zu erklären.«
Inzwischen hatte sich meine Schweizer Kollegin um den Mann gekümmert, der kaum verständliche Worte vor sich her stammelte. »Sie … mich erwürgen … sagte … sie bräuchte meine Lebenskraft zum … Überleben …«
Tanja Berner half ihm vorsichtig auf die Beine. »Beruhigen Sie sich erst mal. Wir können das alles später klären. «
In den letzten Sekunden hatte niemand auf die Frau aus der Konserve geachtet, und das nutzte sie eiskalt aus. Mit einem schnellen Griff hatte sie Tanja Berners Arm erfasst, den sie mitsamt meiner jungen Kollegin zu sich riss und irgendetwas Unverständliches murmelte.
Bevor sie ihr Festmahl fortsetzen konnte, schlug ich mit meiner Desert Eagle zu. Die Waffe traf den Hinterkopf der Thunfisch-Lady.
Ein Zittern glitt durch ihre Gestalt, als sie Tanja Berner losließ. Wie eine Betrunkene wankte die Frau aus der Konserve in ihrer eigenen Dose, bevor sie mir entgegen kippte. Kaum war sie wieder in die Konserve gefallen, hatte sie sich wieder in Thunfisch verwandelt. Keine Spur mehr von einer schwarzhaarigen Schönheit.
Neben mir raffte sich meine Schweizer Kollegin wieder auf und hielt sich den Arm. »Das war knapp. Danke.«
Ich winkte ab. »Nicht der Rede wert.«
Von irgendwo erklang Kindergeschrei, und als hätte die Hölle sie entlassen, lief plötzlich eine ganze Meute eben jener Wesen der Dose entgegen. Offenbar eine Schulklasse, die einmal einen Blick hinter die Kulissen werfen wollte.
Dadurch kam mir eine raffinierte Idee, bei der ich mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte.
Ein Mädchen zog an meinem Anzug. »Hey Mister, ist das die Dose, aus der eben diese komische Frau gekommen ist?«
Ich strich mir zunächst meinen Anzug wieder zurecht. »Nein, meine Kleine. Das ist Gratis-Thunfisch, den der Zirkusdirektor bereitgestellt hat. Greif ruhig zu.«
Offenbar hatten das auch die anderen Kinder gehört, denn nur kurze Zeit später fielen die kleinen Bälger förmlich über den Thunfisch her. Auch einige weitere Klassen, die in den nächsten Minuten den Hinterraum betreten hatten, taten es ihnen nach, sodass bald nichts mehr von dem Thunfisch übrig war.
Ich legte meiner Kollegin, die mehr oder weniger verständnislos dem Treiben zugesehen hatte, meine rechte Hand auf den Rücken. »Lassen Sie uns gehen. Der Job ist erledigt.«
»Aber, … aber … so einfach können wir doch nicht gehen. Wir wissen ja nicht mal, was da abgelaufen ist. Und … wie können Sie die Kinder das einfach essen lassen?«
»Vergessen sie nicht, das war Delikatess-Thunfisch. Und für den Verletzten werden wir einen Krankenwagen rufen.«
Ich kramte in meiner Jacke und zog zwei Siegerzigarren heraus. »Möchten sie auch eine, Frau Berger?«
Sie sah mich noch immer etwas verdutzt an. »N … nein, ich bin Nichtraucher.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich eigentlich auch. Aber die Zigarre danach lasse ich mir nicht entgehen.«
Ich zündete mir meine Zigarre an, zufrieden, wieder einen Fall gelöst zu haben.
Copyright © 2008 by Raphael Marques