Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.15

Wo die Erde blutet – Teil 15

Der Saal war leer bis auf einen langen Tisch, der an einer Wand stand.

So konnte Tony den Boden völlig überblicken. Auch hier bedeckte ein Mosaik die gesam­te weite Fläche. Aber es war fehlerhaft und unharmonisch, zeigte dunkle Flecken und offene Konturen. Überhaupt schien es sich um ein abstraktes Werk zu handeln, das nur an einigen Stellen Ähnlichkeiten mit einer Landkarte hatte, während wiederum andere Stellen an Figuren und Gegenstände denken ließen.

Dorkas und der Conte schienen völlig in ihre Arbeit vertieft zu sein. Während Dorkas seine gewohnte, immer leicht zerfleddert wirkende Kleidung anhatte, trug der Conte einen langen roten Übermantel, der die Ärmel seines Anzugs freiließ.

In diesem Moment betrat eine weitere Person den Raum.

Von oben konnte Tony das Gesicht des Eintretenden nicht sehen. Hinkend durchquerte die Gestalt den Saal, dabei sorgfältig mache Stellen des Bodenmosaiks umgehend, und überreich­te dem Conte dann mit einer Verbeugung eine kleine viereckige Metallplatte. Jetzt, wo er neben dem Conte und Dorkas stand, war zu sehen, dass der Hinkende wesentlich kleiner als die anderen – ja geradezu zwergenhaft von Gestalt war.

Zu dritt betrachteten sie die Metallplatte, auf der sich ein Relief befand. Der Conte strich über die Oberfläche, gab die Platte an Dorkas weiter, der sie ebenso sorgsam prüfte. Der Kleine mischte sich freimütig mit tiefer Stimme in das Gespräch ein.

Dann ging Dorkas zum Tisch, wühlte in einem Haufen Papiere, die dort lagen, und brach­te einen Zettel zu den anderen mit. Nach einer weiteren längeren Diskussion wiesen sie den Kleinen mit der Metallplatte zu einem entfernten Teil des Mosaiks. Dort angekommen, bück­te sich der Kleine, hob ein Stück des Bodens hoch und legte an dessen Stelle die Metallplatte.

Dann trat er zurück, grüßte und ging wieder, aber erst, nachdem er vom Conte einen wei­teren Zettel erhalten hatte.

 

Tony konnte seinen Augen kaum trauen. Dort, wo die Metallplatte im Boden lag, verän­derte sich das Mosaik. Wie auf einem großen Bildschirm begann die schwarze Fläche zu schwinden, zog sich zurück wie eine schwarze Flut bei einsetzender Ebbe und bildete an anderer Stelle neue Ausläufer. Alles lief langsam ab, doch erweckte es in Tony den Eindruck, dass nichts auf der ganzen Welt diese Veränderungen aufhalten könnte. Die Langsamkeit hatte etwas Schicksalhaftes – etwas von dem Schritt einer Eskorte bei einem Begräbnis oder etwas von der leichten Bewegung einer großen Schlange. Tony wischte sich über die Augen, denn er hatte Sorge, dass er sich dieses Fließen und Weben nur einbilden würde.

Schulter an Schulter beobachteten Dorkas und der Conte die Veränderungen. Als nach einer Weile jede Bewegung zur Ruhe gekommen war, flüsterten sie wieder miteinander. Tony lauschte zwar, hatte auch immer wieder die Empfindung, er könnte einige Worte aus dem Geflüster unterscheiden, musste sich aber dann enttäuscht eingestehen, dass er gar nichts ver­stand. Er fragte sich, ob ihre Tätigkeit diese leise Unterhaltung notwendig machte oder ob sie unliebsame Besucher, also zum Beispiel ihn selbst, nicht daran teilhaben lassen wollten.

Schon wollte sich Tony zum Gehen wenden, da schritt der Conte zum Tisch und zog ein weißes Leinentuch zur Seite. Der Anblick der verschiedenen Schalen und Behälter, die unter dem Tuch verborgen waren, fesselte Tony.

Jede Schale, jeder Becher hatte eine andere Form und war aus anderem Material gefertigt. Puder von verschiedener Farbe bildeten ihren Inhalt. Manche dieser Puder wirkten stumpf und grau, andere waren von einem derart leuchtenden und intensiven Rot, Grün oder Blau, dass sie von einer verborgenen Lichtquelle angestrahlt zu sein schienen.

 

Der Conte griff nach einer goldenen Schale, die mit rot leuchtendem Staub gefüllt war. Er schob die linke Hand um den Fuß der Schale und schritt über das Mosaik. Hier wurden seine Schritte unsicher. Er zögerte, schaute sich schließlich zu Dorkas um. Der steckte die Nase in seine Zettel – Tony erkannte darin die Aufzeichnungen, die Dorkas in London in reichlichem Maße gemacht hatte – und winkte seinen Gastgeber dann mit Handbewegungen, als müsste er einen Lastwagen durch eine enge Toreinfahrt zu einer ganz bestimmten Stelle leiten.

Dort blieb der Conte lange Zeit unbewegt stehen. Tony Tanner konnte nicht beurteilen, ob sich der Conte konzentrierte oder ob sein Warten ein Ausdruck von Unsicherheit war.

Während er kurz darüber nachdachte, erkannte Tony die Spannung, die plötzlich in die­sem Saal lag. Absolute Stille herrschte. Wie eine durchsichtige, aber feste Masse füllte diese Stille den riesigen Raum vom Boden bis zu der Kuppel. Hinter dieser Stille aber knisterte eine Spannung, eine Erwartung, eine Hoffnung und zugleich eine Furcht. Es war eine fast uner­trägliche Mischung, etwas von dem Moment, an dem der erste Windstoß das Losbrechen des Unwetters ankündigt, etwas von der atemlosen Ruhe, die eintritt, wenn der Dirigent vor dem ersten Takt seinen Stab hebt …

Dinge spielten sich ab, die Tony nicht verstand. Aber er war sich sicher, dass es Dinge waren, die auch ihn nicht unbeteiligt ließen. Dinge, in die er verwickelt war, ob er es wollte oder nicht.

 

Mit einer ruckartigen Geste führte der Conte die freie Hand in die Schale, griff nach dem roten Puder und begann nun, damit eine Linie auf den Boden zu zeichnen.

Der Vorgang nahm lange Zeit in Anspruch. Der Conte ging mit kleinen Schritten rück­wärts, vollführte Drehungen und Wendungen. Tony konnte ihn keine einzige Sekunde aus den Augen lassen.

Schließlich straffte sich die Gestalt des Conte, er ließ die rechte Hand herabhängen und schritt zum Tisch, wo er die nun fast leere Schale abstellte.

Wieder standen Dorkas und der Conte zusammen und warteten. Der Zwerg hinkte wieder in den Saal, erhielt eine Anweisung von Dorkas, die er mit Verbeugung quittierte, und hinkte erneut durch eine kleine Tür hinaus.

Als er zurückkam, trug er einen Gong und einen Schlegel bei sich. Der Conte nahm die Geräte, wartete, hob dann den Gong und schlug ihn an.

Ein tiefes Dröhnen schwang durch den Raum, spülte wie gewaltige Wellen als fühlbare Macht durch seine Weite.

Tony empfand den Klang wie eine Berührung. Bis in die Haarspitzen hinein konnte er das Schwingen spüren, das ihn erfasste und durchströmte. Furcht einflößend und zugleich beglü­ckend nahmen die Schwingungen von seinem Körper Besitz, machten ihn selbst zu einer Schwingung, schienen ihn in alle Unendlichkeit zu erweitern und dann wieder zu einem Punkt von nicht mehr messbarer Winzigkeit zu verkleinern. Tony Tanner spürte, wie er auseinander­gebaut wurde wie ein Roboter – und wurde im gleichen Atemzug von unbändiger Furcht gepackt, von Unsicherheit, ob er jemals wieder zu einem Selbst zusammengefügt werden könnte.

Schweißnass lauschte er dem Verklingen des Dröhnens hinterher und hoffte nur, dass der Conte nicht noch einmal den Schwengel gegen das Klangerz schlagen würde.

Nein, der Conte gab den Gong zurück. Jetzt, als langsam wieder zu sich kam, konnte Tony auch eine weitere Änderung an dem Mosaik bemerken. Die rote Linie, die der Conte gezogen hatte, schien sich wie geschmolzenes Emaille mit dem Untergrund fest verbunden zu haben. Ihre Endpunkte leuchteten mit goldenem Schimmer.

 

Diese ganze Aktion war augenscheinlich zur Zufriedenheit aller Beteiligten abgelaufen. Dorkas, der Conte und der Zwerg lachten entspannt und schüttelten sich gegenseitig die Hände. Dann schauten alle zur Galerie und winkten Tony Tanner zu. Der winkte zurück und lief tomatenrot an. Niemals hätte er gedacht, dass die Männer tief unter ihm seine Anwesenheit bemerkt hatten!

Dann musste Tony allerdings grinsen. Der Zwerg verschwand und kam mit einem Klappstuhl und einem Tablett zurück. Auf den Klappstuhl setzte Dorkas schnaufend sein Hinterteil. Und auf dem Tablett erkannte Tony die Teekanne, die Dorkas schon in London wie ein Heiligtum behandelt und die er also auch mit nach Collesalvetti geschleppt hatte.

Was jetzt kam, war klar. Dorkas vertilgte einige Liter Tee. Es war ja so köstlich zu wis­sen, dass einige Dinge in dieser verrückten Welt immer noch galten.

Leise machte sich Tony auf den Weg in die Bibliothek.

Der wunderschöne Raum lag im rückwärtigen Teil des alten Hauptgebäudes. Man betrat ihn durch eine Doppeltür, ging einige Stufen herunter und befand sich mitten in der konzen­trierten Stille, in dem Geruch von trockenem Papier, der dieser Bibliothek ihre Atmosphäre gab.

 

Der Raum war leer, bis auf eine seltsame Gestalt, die auf einem hohen Hocker vor einem Pult saß. Ein aufgeschlagenes Buch von der Größe eines Badelakens und der Dicke eines Autoreifens nahm die Aufmerksamkeit der Gestalt gefangen. Als Tony sich leise räusperte, schaute sie zur Seite und verzog das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. Sie legte den Federhalter, mit dem sie gerade Notizen auf ein Blatt gekritzelt hatte zur Seite und sagte:

»Wie schön, dass du mich besuchst. Tony. Du kommst spät. Ich hatte schon Angst, du hättest mich vergessen.«

Mit diesen Worten streckte sie ihre dürre Hand aus, legte sie auf Tonys Handfläche und hüpfte von dem Hocker.

Wenn Tony Tanner aufgefordert worden wäre, Deodato Friedemann Benevoglio zu beschreiben, hätte er Schwierigkeiten gehabt.

Benevoglio war nämlich, und das schien Tony ein unauflösbarer Widerspruch, der zugleich hässlichste und freundlichste Mensch zu sein, dem Tony jemals begegnet war.

Ein großer Buckel machte Benevoglio nicht nur zum Krüppel. Als wollte sich die Boshaftigkeit des Schicksals damit nicht zufriedengeben, wuchs ihm sein Buckel wie die Schale einer Schildkröte aus dem Rücken, beschwerte Benevoglio mit seinem Gewicht und drückte ihn zu Boden, in eine Haltung beständiger Unterwürfigkeit unter diesen Fluch einer blinden Vorsehung.

 

Benevoglio hätte Tony vielleicht gerade bis zum Kinn gereicht, in der gebückten Haltung, zu der er stets gezwungen war, reichte der Bucklige ihm knapp bis zum Gürtel.

Immer etwas nach vorne gestreckt saß ein viel zu großer Kopf auf den Schultern. Weißhäutig und haarlos erinnerte dieser Kopf auch einen wohlmeinenden Betrachter an eine Kohlpflanze. Zwei abstehende Ohren, eine kleine Stupsnase, so klein, dass sie eigentlich nur aus den Nasenlöchern bestand, die wiederum riesig waren, und ein schmaler, sehr breiter Mund komplettierten das Bild einer ebenso schamlosen, wie hilflos lächerlichen Hässlichkeit.

Als Gegengewicht schauten dem Betrachter zwei große, glänzende Augen – auch sie viel zu groß für dieses Gesicht – von veilchenblauer Farbe entgegen. Diese Augen, aus denen eine sanfte Freundlichkeit sprach, mussten jeden Menschen für den kleinen Krüppel einnehmen.

Sie waren es auch, die am Anfang der Freundschaft zwischen Benevoglio und Tony Tanner standen. Als Tony nämlich die Bibliothek vor einigen Tagen betreten hatte, wusste er noch nicht, dass die scheußlich verzerrte Fratze, die ihm Benevoglio entgegenhielt, ein Lächeln sein sollte. Die Natur hatte Benevoglio, diesem freundlichen und sanften Menschen niemals erlaubt zu lächeln.

Dafür zeigte sich das Lächeln, dass der Mund nicht offenbaren konnte, in den Augen, und so hatte sich Tony Tanner vorgestellt und gefragt, ob es störe, wenn er sich einmal in der Bibliothek umschaue.

Mit seiner hohen, kratzigen Stimme, in der Tonlage irgendwo zwischen Eunuche und Säufer eingestellt, hatte Benevoglio geantwortet, dass er sich freue, hier einmal einen Menschen zu sehen.

So waren sie ins Gespräch gekommen und schon nach wenigen Sätzen war beiden deut­lich, sie sich getroffen hatten, um Freunde fürs Leben zu sein.

 

Deodato Friedemann Benevoglio war ein Findling, der bei einem Priester und dessen Haushälterin aufgewachsen war. Daher auch der erste Vorname Deodato – weil das winzige, verkrüppelte Wesen als Gottesgeschenk auf den Stufen des Pfarrhauses gelegen hatte und nur durch puren Zufall in der kalten Dezembernacht nicht erfroren war, bevor ihn die alte Haushälterin entdeckte. Friedemann, der zweite Vorname, spiegelte die Vorliebe des Priesters für die Musik Bachs und seiner Söhne wider. (Auch wenn er sie leider einer ketzerischen Abart des wahren Glaubens angehangen hatten.)

Benevoglio war als Familienname in das Taufbuch eingetragen worden, weil der Priester ahnte, welches goldene Herz in dem Krüppelchen schlug.

Seit Jahren lebte Benevoglio beim Conte und hatte nur eine Aufgabe. Er entschlüsselte und übersetzte ein alchemistisches Werk aus dem 15. Jahrhundert. Es war eben das gewalti­ge Buch, über dem ihn Tony gefunden hatte.

Die Arbeit war ebenso wichtig wie mühsam. Benevoglios Augen hatten eine besondere Eigenschaft, die ihn für diese Mühe wie geschaffen machte. Er konnte die winzigen Notizen erkennen, die zwischen den großen Buchstaben, teilweise von ihnen überdeckt, den eigentli­chen Inhalt des Werkes ausmachten und den unwissenden Leser in die Irre leiten sollten.

»Ist das nicht ein wenig langweilig – Jahr um Jahr nur dieses Buch?«, hatte Tony bei ihrer ersten Begegnung gefragt.

Benevoglio schüttelte den ganzen Körper, als würde er sich ekeln, was bei ihm Kopfschütteln bedeuten sollte.

»Nein«, antwortete er. »Es ist eine große Aufgabe, die mich ehrt.«

Jetzt nahm Benevoglio Tonys Hand und zog ihn quer durch den Raum zu einem Hinterausgang.

»Ich möchte dir meinen Lieblingsplatz zeigen. Darf ich?«

Es war eine sonderbare Empfindung für Tony, diese kleine knochige Hand in der seinen zu spüren. Die Selbstverständlichkeit, mit der Benevoglio ihn führte hatte etwas von einem auf­geregten Kind.

 

Sie kamen zu einer Pforte, hinter der eine Treppe steil nach oben führte. Die Stufen waren ungewöhnlich hoch. Tony bemerkte sofort, wie schwer es Benevoglio fiel, die Treppe hoch­zusteigen. Es erfüllte ihn mit Rührung zu erkenne, dass dem anderen diese Anstrengung wert war, um ihm, Tony Tanner, seinen Lieblingsplatz zu zeigen.

Ohne weitere Umstände nahm Tony den zarten Körper des Buckligen in die Arme und trug ihn nach oben wie ein Kind.

Aus dem düsteren Treppenhaus trat Tony in das Sonnenlicht und setzte Benevoglio vorsich­tig ab.

»Ist es nicht wunderschön?«, flüsterte Benevoglio.

Die Anbauten begrenzten hier auf beiden Seiten ein kleines Rasenstück. Gegenüber dem Hauptgebäude schloss eine Gruppe dunkler Nadelhölzer den Platz ab.

»Der Conte lässt die Wiese hier immer besonders kurz schneiden, damit ich darüber lau­fen kann«, erklärte Benevoglio. Gemeinsam mit Tony setzte er sich auf die Türschwelle und hielt den blassen Kopf in die Sonne.

»Weißt du. Wenn ich über die anderen Wiesen gehe, wo das Gras höher ist, dann komme ich leicht ins Stolpern. Und wenn ich erst einmal gefallen bin, dann kann ich mich alleine nicht mehr aufrichten, weil mich mein kleiner Begleiter mit seinem gesamten Gewicht zu Boden drückt.«

Das war typisch Benevoglio. Tony musste lächeln, ebenso wie er über Dorkas und seine Teekanne gelächelt hatte. Selbst seiner eigenen Verkrüppelung trat Benevoglio mit dem mun­teren Wohlwollen entgegen, mit der er die Welt betrachtete, und nannte seinen Riesenbuckel einen kleinen Begleiter.

»Was hältst du von Fußball?«, fragte Benevoglio untervermittelt, nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten.

»Tolles Spiel, aber bitte ohne mich.«

»Du hast als Junge nicht Fußball gespielt, Tony?«

»Ich habe es gehasst. Immer wenn in der Schule die Mannschaften gebildet wurden, muss­te ich eine Mannschaft erwählen – und was glaubst du, wie die mich angeblickt haben, die zum Schluss noch immer übrig waren?

»Ich habe mir immer gewünscht, einmal Fußball zu spielen. Einmal übers Feld zu laufen, richtig laut zu schreien, von einem Kameraden den Ball zugespielt zu bekommen und dann … Anlauf, ein Bombenschuss, der Torwart dreht sich um den Pfosten, aber der Ball ist schon im Tor.«

»Du konntest nie Fußball spielen, ja?«

»Ich habe es einmal versucht und bin dabei ständig auf das Gesicht gefallen. Mal abgese­hen davon, dass mich die anderen Kinder sowieso nie hätten mitspielen lassen.«

»Das muss hart gewesen sein.«

»Nicht so schlimm, Tony. Ich durfte wenigstens zuschauen. Aber trotzdem … ich stelle mir den Himmel immer als einen Ort vor, an dem ich bei einem richtigen Fußballmatch mitspie­len kann.«

Die Stunden vergingen, ohne dass Tony es merkte. Sie unterhielten sich, lachten – bei Benevoglio bedeutete ein schnarchendes Geräusch, dass er lachte – und merkten nur an den länger werdenden Schatten, dass der Tag sich langsam den Abend zuneigte.

»Ich muss noch ein wenig fleißig sein«, sagte Benevoglio schließlich. »Aber morgen kommst du etwas früher, ja?«

Tony versprach es. Er half Benevoglio die Treppe herunter und setzte ihn in der Bibliothek auf den Hocker.

»Das Mädchen ist hübsch«, sagte Benevoglio plötzlich zum Abschied. Tony stutzte und verstand erst nicht, dass Benevoglio von Lucille Chaudieu redete.

»Ich habe sie einige Male gesehen, als sie über das Gelände wanderte«, erklärte Benevoglio entschuldigend. Dann richtete er seine großen Augen auf Tony.

»Sie hat großen Kummer.«

»Kann sein«, antwortete Tony mit verkniffenem Mund. »Aber sie redet nicht mit mir.«

»Dann rede Du mit ihr. Hilf ihr. Wenn sie diesen Kummer nicht aus ihrem Herzen lässt, dann wird sie daran zugrunde gehen. Sie stößt dich zurück, weil sie auf dich wartet. Hilf ihr, auch wenn es dir schwerfällt. Außerdem haben wir dann eine Sache, über die wir uns mor­gen das Maul zerreißen können.«

Benevoglio strahlte Tony mit seinen großen blauen Augen an, verzog das Gesicht zu einer Fratze und stieß schnarchende Geräusche aus. Dann griff er zu seinem Federhalter.

 

Nach dem langen Gespräch mit Benevoglio blieb Tony Tanner noch viel Zeit bis zum Abendessen – der Gelegenheit für das inzwischen schon traditionelle Treffen mit dem Conte.

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft überkam ihn so etwas wie Überdruss, eine leichte Unzufriedenheit mit allem, was er tun oder auch lassen konnte.

So spazierte er über das Gelände, stellte sich die Frage, ob er heimlich hoffte, Lucille Chaudieu zu sehen und stiefelte, nachdem er sich die Frage ganz ehrlich mit Ja beantwortet hatte, in beträchtlich gesteigertem Missmut zum Hauptgebäude zurück.

Woher kam diese Übellaunigkeit? Tony wusste es selbst nicht und vielleicht lag gerade in dieser eigenen Unsicherheit der Grund seiner getrübten Stimmung. Eigentlich war doch alles perfekt. Er konnte hier so lange schlafen, wie er wollte, bekam die köstlichsten Speisen, brauchte keinen Finger zu rühren – und war unzufrieden. Wahrscheinlich gehen mir die abendlichen Ansprachen des Conte auf den Geist, dachte Tony Tanner. Oder vielleicht ist es das Gefühl, dass ich nichts tun kann. Jedenfalls nicht wirklich. Dieser Conte knetet einen weich wie Wachs, man hat immer das Gefühl, man zeltet am Fuße eines Staudamms, der im nächsten Moment brechen kann, aber keiner fängt an, seine Sachen zu packen und abzuhau­en.

Tony Tanner lehnte sich auf die Balustrade, die die Terrasse vor dem Eingang des Palastes begrenzte. Unter ihm zog sich die zweiflügelige Treppe in weiten Bögen zur Rasenfläche hinunter.

 

Ein weißer Kiesweg verband den Treppenaufgang mit dem weiter hinten gelegenen Wäldchen, durch das sie bei ihrer Ankunft gekommen waren. Wahrscheinlich waren bei der Gestaltung der Anlage Prinzipien zur Anwendung gekommen, die Tony nicht kannte. Irgendetwas wie das chinesische Feng-Shui vielleicht. Jedenfalls gab es für die scheinbar willkürlichen Krümmungen und Biegungen dieses Weges keinerlei praktische Gründe. Und nicht einmal die Ästhetik konnte dafür herhalten, denn zumindest in Tonys Augen sahen die Schlangenwindungen des Weges schlichtweg bescheuert aus.

Als er darüber nachdachte, fielen Tony wieder die verschlungenen Linien ein, die auf dem Bodenmosaik im zentralen Saal des Palastes zu finden waren. Es war unwahrscheinlich, dass diese Ähnlichkeit nur auf Zufall beruhte.

Wenn das aber so war, dann hatten auch die einzelnen Felsen ihre Bedeutung, die aus der Rasenfläche ragten. Manche waren von Blumen oder Büschen umgeben, zwei erinnerten an einen japanischen Zen-Garten, denn ein unregelmäßiger Streifen von Kieseln oder kleinen Steinen fasste sie ein.

Ja, das war der Grund, warum sich Tonys Laune an diesem Nachmittag auf Kiesgrubenniveau bewegte. Jetzt wurde es ihm endlich klar. Es war dieser peinigende Widerspruch zwischen einem äußeren, ganz offensichtlichen Luxus und einer gespannten, geradezu kampfbereiten Erwartung. Als würde während eines Mozartkonzertes eine Kriegserklärung verlesen.

Tony war derart in seine Betrachtungen versunken, dass er die leisen Schritte nicht hörte, die sich vom Hause her näherten. Darum zuckte er zusammen, als sich der Conte di Saloviva unvermittelt neben ihn auf die Balustrade lehnte.

 

Er hatte das zeremonielle Gewand abgelegt, das er bei seiner Arbeit mit Dorkas getragen hatte. Jetzt war er in einen leichten hellblauen Seidenanzug gekleidet, trug dazu ein blau-weiß gestreiftes Hemd, aus dessen offenem Kragen ein Seidentuch in dunklem Rot schimmerte.

Unwillkürlich war Tony beeindruckt. Dieser Mann hatte mehr Stil im kleinen Finger als sich Tony Tanner im Laufe seiner ganzen Lebens erarbeitet hatte. Und dieses wahrscheinlich darum, weil er sich niemals wirklich um die passende Farbzusammenstellung gekümmert hatte. Er trug, was er trug und es war gut, weil es sich entschieden hatte, es zu tragen.

Im nächsten Moment spürte Tony seinen Unmut erneut aufsteigen. Der Conte war genau­so wie seine Behausung – glänzende Fassade, aber was dahinter vorging, blieb nebulös.

Die Hände des Conte lagen bewegungslos auf dem hellen Stein des Geländers. Es waren schöne Hände, lang und schmal, so wie man sich die Hände eines Arztes vorstellt. Dabei waren sie weiß und sehr gepflegt, als wären sie niemals in der Situation, einen Gegenstand ergreifen zu müssen. Alte Hände, dachte Tony Tanner, Gesichter kann man liften, aber Hände zeigen das wahre Alter.

Bisher war ihm das hohe Alter seines Gastgebers nicht zu Bewusstsein gekommen. Zu energisch und zu kraftvoll wirkte der Conte, wenn er mit federnden Schritten durch den Palast ging oder wenn er eine seiner abendlichen Reden hielt und dabei diese schönen Hände zu Werkzeugen seiner ausdrucksvollen Gestik machte.

»Jedes Mal, wenn ich hier stehe«, sagte der Conte plötzlich mit seiner beherrschten, freundlichen Stimme, »fühle ich mich an meine erste Seereise erinnert. Es war die Jungfernfahrt der Rex. Sie lief von Genua aus. Ich war noch ein kleiner Junge in kurzen Hosen und ich hatte mich durch die Leute gedrängt, bis ich einen Platz genau in der Mitte des Hecks hatte, genau über dem Ruder und den Schrauben. Ich kann mich noch genau an meine Empfindungen erinnern. Ich war erstaunt, dass die Pier wirklich langsam zurückblieb. Dass die vielen Leute, die hinter dem Schiff herwinkten, langsam kleiner wurden. Bisher hatte ich das nicht für möglich gehalten. Es war nur eine Theorie. Jetzt war ich zuerst verblüfft und dann geriet ich in Panik. Ich erkannte plötzlich, wie viele Dinge auf dieser Welt möglich sind, von denen man bisher zwar wusste, die aber völlig nebelhaft scheinen. Ich weiß, dass ich mich an die Reling klammerte, als könnte ich in eine Tiefe stürzen. Und es war ja wirklich so. Plötzlich, während die Menschen kleiner und kleiner wurden und ihre Gesichter nur noch winzige Farbflächen waren, wurde mir bewusst, dass es den Abschied gibt. Die Trennung. Das Altwerden und danach das Sterben. So stand ich da und hinter mir, dahin wo der Bug des Schiffes in die Fahrtrichtung zeigte, da lag ein gigantisches Meer. Tage um Tage nur Wasser, ein abgrundtiefes Meer voller Schrecken.«

Der Conte verstummte und schaute bewegungslos zum Waldrand hinüber.

Tony räusperte sich.

»Das klingt nicht danach, als wären Sie ein begeisterter Reisender geworden.«

»Oh doch, ich bin es. Ich verlor meine Angst noch, bevor Genua außer Sicht kam. Später bin ich viel gereist. Meistens mit dem Zug, sehr oft mit dem Schiff. Nur das Flugzeug verab­scheute ich. Es ist vulgär. Vor allem kann man damit nicht reisen, man kann sich damit nur transportieren lassen.«

»Nun«, antwortete Tony Tanner, »für meine Wenigkeit war das Reisen mit dem Flugzeug immer sehr aufregend. Man sitzt zehn Stunden in einem zu engen Sessel und ist in einem anderen Erdteil. Es ist immer ein Schock. Aber so ein Schock passt in unsere Zeit.«

Der Conte nickte zustimmend.

»Ja, das klingt einleuchtend. Trotzdem – selbst ich, der ich immer in langsamen Zügen unterwegs war, fragte mich eines Tages, woher meine Begeisterung für das Reisen kam. Diese Sucht nach dem Eisenbahnbillet. Ich fragte mich, ob ich eigentlich von einem Ort fortreise oder ob ich zu einem Ort hinreise. Ob ich auf der Flucht bin oder ob ich auf der Jagd bin. Eine schwierige Frage.«

»Das Schöne am Reisen ist vielleicht, dass man sich unterwegs genau diese Fragen nicht stellen muss«, schlug Tony vor. Ihm war das Gespräch plötzlich ausgesprochen unangenehm.

Der Conte nahm die Hände von der Balustrade und wandte sich zum Gehen.

»Jetzt sind Sie nicht auf der Reise, Signore Tanner«, sagte er knapp, »Jetzt sind Sie hier an diesem Ort. Werden Sie sich also über diese Frage klar.«

»Conte, gestatten Sie … die Fraternidad, Sie sprachen von der Fraternidad. Warum ist das ein spanischer Begriff, die Fraternidad le los padres blancos?«

»Es ist ein alter Begriff, Signore Tanner. Ich habe ihn nicht geprägt. Er ehrt San Diego, also Sankt Jakob, und es heißt, er stamme von ihm. Er sei das Ziel aller Pilgerfahrten – aber es meint wohl eine innere Heimat. Er ist Ziel und Hoffnung, und er ist Suche und Abbitte. Die Spanier haben diese Ziele auf ihren Fahnen gehabt, auch wenn wir heute mehr von ihrer Goldgier und ihrem Morden wissen.«

Mit einem verbindlichen Kopfnicken und einem Winken verabschiedete sich der Conte und schritt langsam auf die Säulen des Eingangsbereiches zu. Seine freundliche Geste stand im seltsamen Gegensatz zu dem bestimmten, fast befehlsmäßigen Ton seiner Aufforderung. Erneut war dieser Widerspruch greifbar. Eine Klistierspritze auf einem Damastkissen präsen­tiert.

 

Tony biss sich auf die Lippen, während er dem Conte nachschaute. Sein Gastgeber zog jetzt das linke Bein etwas nach, als hätte er sich verletzt und drückte zudem den linken Arm in einer unnatürlichen, gezwungenen Haltung an den Rumpf. Von der übersprudelnden Energie des Conte war nichts zu merken.

Heute ist der Tag der großen Pädagogik, grummelte Tony Tanner, als auch wieder auf den Palast zuschritt.

Zuerst sagt mir Benevoglio, was ich mit Mademoiselle Chaudieu zu tun habe und dann bekomme ich die ultimative Aufforderung zum In-mich-gehen. Ihr könnt mich alle mal.

Am liebsten hätte Tony die Koffer gepackt und wäre abgezogen. Spätestens an diesem Punkt wurde ihm klar, dass Collesalvetti leider kein Luxushotel war, sondern ein Luxusgefängnis … ein Gefängnis allerdings, bei dem er selbst für die Gitterstäbe sorgte.

Zu seinem eigenen Erstaunen schaffte es Tony, schneller als erwartet für die große abend­liche Runde präpariert zu sein, und so saß er als erster und einziger Gast an dem Tisch auf der Terrasse.

 

Die hereinbrechende Nacht saugte die Farbe aus dem letzten Licht der Dämmerung. Ein schimmerndes Grau erfüllte den Garten – ein Grau, das alle jene Farben zu enthalten schien, die es nun schützend umhüllte. Von Ferne erklang der klagende Schrei der Pfauen. Ein Rosenstrauch hielt seine gelben Blüten noch einmal wie zur Demonstration gegen die ver­schlingende Dämmerung, gab dann auf und überließ sich der Umarmung des Grau, das nun immer stumpfer wurde und sich in die Nacht davonschlich. Der Duft der Rosen wehte heran, zögernd wie ein scheues Tier.

Wunderprachtvoll, dachte Tony Tanner. Das ist jetzt wie ein Fleischwolf für die Seele.

Aller Sarkasmus nutzte nichts, der Zauber dieser Stunde überwand jeden Widerstand und erfüllte Tony mit einer sprachlosen Sehnsucht. Er ertappte sich, wie er sein bisheriges Leben Revue passieren ließ. Die Gesichter seiner Eltern zogen an ihm vorbei, seine Schulkameraden, Kollegen, Menschen, die ihm begegnet waren. Francine stand vor seinem inneren Auge und wurde von Stalka ersetzt, der Pillbury, Doc Grants, Gainsworthy weichen musste. Ja, auch Lucille Chaudieu drängte sich in die Reihe … und wurde sofort energisch des Feldes verwiesen.

 

Leise Schritte ließen Tony aufhorchen. Aus seinen Gedanken konnte er Lucille vertreiben, wenn es ihm auch eine gewisse Anstrengung abverlangte.

Aus Collesalvetti konnte er sie nicht verscheuchen. Und so kam sie mit ihren leisen Katzenschritten auf die Terrasse und Tony spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Der Duft ihres Parfüms berührte ihn, bevor sie bei ihm war.

Sie tippte ihm zur Begrüßung leicht auf die Schulter, murmelte einen Gruß und umrunde­te den Tisch. Das Licht flammte auf, einer der Bediensteten hatte es von innen angeschaltet.

Während Lucille den Tisch umrundete und sich, mit dem Rücken an eine Säule gelehnt auf die Balustrade setzte, hatte Tony Tanner Gelegenheit, die notwendigen Fragen zu stellen: Hatte dieses Antippen seiner Schulter irgendeine Bedeutung, hätte sie es auch bei Dorkas oder Steele so gemacht, musste sie auf dieser Seite um den Tisch gehen oder hätte sie auch die andere Seite wählen können, was ist mit meinem Blutdruck, bin ich jetzt schon total vergo­ckelt?

Lucille Chaudieu bediente einmal mehr 99,99 Prozent aller ausgesprochenen oder ver­schwiegenen oder nur gegen Gebühr beim Psychiater geäußerten Männerträume. Wie üblich deutete ihre Kleidung alles an und verriet nichts – die Hohe Schule französischer diplomati­scher Tücke interpretiert mit Stoff, Nadel und Faden. Oder etwas klarer ausgedrückt: Lucille trug eine lange helle Hose, die ihre Hüften eng umschloss und sich dann blütenförmig erwei­terte, hochhackige offene Schuhe und eine knappe, aber hochgeschlossene, kurzärmelige Seidenbluse.

Sie saß da, die Arme um die Knie geschlungen, als wäre ihr kalt, wie ein Mädchen, das große Dame spielen will. Sie wirkte sie zugleich hilflos, unnahbar und zerbrechlich. Und unbeschreiblich begehrenswert. Eine exotische Blume, die am rauen Klima der Fremde lei­det. Aber eine giftige Blume, vergewisserte sich Tony nach einer Weile.

Lucille ignorierte ihn. Sie kapselte sich in ihr Schweigen wie eine Perle in ihre Muschelschale. Tony wurde langsam unruhig und wünschte sich, die Dame wäre nicht aufge­taucht. Tatsächlich war es ja nicht so, dass sie ihn lediglich ignorierte. Ignorieren bedeutet übersehen oder missachten und hat etwas Passives. Aber das, was Lucille in diesem Moment tat, erschien Tony Tanner als eine äußerst aktive Betätigung. In jeder Sekunde schob sie seine Anwesenheit förmlich von sich, wehrte ihn ab, drängte ihn weiter und weiter von sich.

 

Tony blies die Backen auf. In seinem Hirn schien sich gerade eine Küchenmaschine auf höchster Drehzahl zu betätigen. Irgendetwas musste er jetzt zu ihr sagen. Das war er sich schuldig. Notprogramm zum Erhalt eines Mindestmaßes an Selbstachtung sozusagen. Wenn sie ihn geohrfeigt hätte, wäre das weniger verletzend gewesen. Aber jetzt bedeutete ihr Verhalten: Ich gebe dir keine Maulschelle, weil ich beschlossen habe, dass es dich gar nicht mehr gibt. So nicht, Mademoiselle, sagte sich Tony Tanner wütend.

Allerdings war die Ausführung seines Vorsatzes weniger einfach als der Entschluss dazu.

Jedes Mal, wenn Tony nahe daran war, den Mund zu öffnen, klebte seine Zunge wie ein feuchtes Papiertaschentuch an seinem Gaumen. Und der Satz, den er sich gerade zurechtgelegt hatte, kam ihm erschreckend banal vor. Also brach er den Versuch ab und ärgerte sich und wurde dadurch nur noch verwirrter. Tony war sicher, dass um Lucilles Lippen ein Lächeln spielte. Derartige Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes wissen nur zu gut, wann sich ein Kerl zum Idioten macht.

Tony Tanner war gewiss kein Aufreißer. Er selbst hielt sich eher für schüchtern. Aber er besaß einen ausreichenden Fundus an Erfahrung, um mit dieser Situation fertig zu werden. Zumindest war er bis vor einigen Minuten noch dieser Überzeugung gewesen.

Aber in diesem Leben gab es nichts, was nicht manchmal einer Revision unterzogen wer­den muss.

Tony räusperte sich.

»Verzeihung, Gnädigste, können Sie mir sagen, wann die nächste U-Bahn geht?«

Lucille Chaudieu drehte den Kopf und schaute Tony völlig verdattert an. Der hatte das frechste Grinsen im Gesicht, das er sich als Gentleman gerade noch erlauben konnte.

»Ein blöderer Spruch konnte dir nicht einfallen?«, fauchte Lucille.

»Na ja«, gab sich Tony einsichtig. »Ich hatte einen Moment überlegt, ob ich die Masche mit dem Parfüm abziehen sollte. Verzeihung, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber Ihr Parfüm, damit ich es für meine Frau und so weiter – man kennt das ja.«

»Ja, man kennt das. Danke, dass Du mir wenigstens das erspart hast!«

»Kein Problem. Ich hätte ja auch gerne angerufen, aber ich war mir nicht sicher, ob Du dein Telefon dabei hast. Ich meine, telefonisch klappt unsere Kommunikation ja eigentlich ganz gut.«

Lucille drehte sich zu ihm um und ließ die Beine von der Balustrade baumeln. Er versuch­te, ein Lächeln in ihrem Gesicht zu finden, irgendein bescheidenes Anzeichen dafür, dass zwi­schen ihnen beiden noch etwas mehr existierte als zwischen zufällig zusammentreffenden Gästen eines Hotels. Vergeblich – Lucille Chaudieu versteckte sich hinter ihrer Schönheit. Ihr Gesicht war perfekt geschminkt, zeigte eine klassische, vielleicht etwas theatralisch geküns­telte Makellosigkeit. Hinter dieser Maske der Vollkommenheit war nichts, an das Tony heran­kommen konnte – kein Lächeln, keine Emotion.

»Tut mir leid«, sagte Lucille. »Ich bin heute wohl nicht in Stimmung für Konversation. Lassen wir es also besser.«

»Brauchst du etwas zum Lachen? Ich habe ein Bild von mir in Badehose dabei – damit kann ich Depressive zum Grölen bringen.«

Keine Reaktion. Die schöne Maske ließ ihre dunklen Augen für einen Moment auf Tony ruhen, dann wanderte der Blick weiter.

»Scheint am Wetter zu liegen«, redete Tony eifrig weiter und fragte sich im selben Augenblick, warum er jetzt nicht das Maul halten konnte. »Ich bin heute auch nicht in Hochform. Irgendwas geht mir auf die Nerven und ich weiß selbst nicht, was es ist.«

Sie stieß sich von der Balustrade ab, drehte ihm den Rücken zu und dann, als Tony schon glaubte, das Gespräch wäre nun endgültig erstickt, wandte sie sich zu ihm um.

Jetzt kommt so was wie: Schau doch einfach mal in den Spiegel, dann kennst du den Grund, fuhr es Tony durch den Kopf.

»Vielleicht ist diese Gesellschaft doch etwas zu einseitig«, sagte Lucille.

»Gesellschaft ist gut gesagt. Im Grunde sind wir doch nichts als eine ziemlich herunterge­kommene Therapiegruppe.«

»Ach.« Jetzt kam zum ersten Mal so etwas wie eine Reaktion in Lucille Züge. »Das ist ein wenig übertrieben, oder?«

»Eigentlich nicht«, sagte Tony. Er sprach mit einer Überzeugung, die ihn selbst überrasch­te und merkte, dass ihn das Thema weiterschob, als hätte irgendwo eine Raketenstufe gezün­det.

»Man soll sich ja nicht zuerst nennen, aber wenn ich mich anschaue – im Privatleben gescheitert, beruflich auf dem Abstellgleis, inzwischen von der Angst vor dem ersten grauen Haaren gepiesackt – meine Güte noch mal, ich könnte doch tatsächlich in der Fußgängerzone den Hut hinhalten und würde reich werden, so ein Mitleid müssten die Leute mit mir haben.«

»Dein Freund Dorkas scheint weniger mitleiderregend.«

»Dorkas? Eine arme Socke, wenn du mich fragst. Als Wissenschaftler hat er den Anschluss verloren, sein Geschäft ist eine Geldvernichtungsmaschine und im Grunde hasst er die Geschäftstätigkeit, er hat seine Zeit verplempert, um Fragen zu beantworten, die niemand gestellt hat und die er sich selbst immer noch nicht beantworten kann. Vielleicht hätte er vor Jahren die Chance gehabt, in irgendeinem Institut ein trockenes Plätzchen zu ergattern, um von dort alle drei Jahre eine Untersuchung und ein paar Artikel abzulassen, aber auch diese Chance ist dahin. Dorkas ist ebenso am Ende wie ich.«

 

Mit vor den Mund gelegtem Zeigefinger ging Lucille ein Stück an der Balustrade entlang, wendete dann am nächsten Pfeiler als wäre das ein geheimer Grenzstein und ging wieder zurück. Tony fiel auf, wie hölzern sie sich bewegte, so als würde unsichtbare Marionettenfäden ihre Bewegungen bestimmen. Ihm war plötzlich unwohl bei der ganzen Angelegenheit, er wünschte sich, dass endlich einer der anderen auftauchen würde, trotzdem hätte er um nichts in der Welt das Gespräch mit Lucille beendet.

Sie schaute auf irgendeinen Punkt an der Wand, als sie nun zögernd – oder lauernd – zu einer Antwort ansetzte.

»Bleiben Little und Steele als Kandidaten für psychische Gesundheit.«

»Little ist ein seelisches Wrack. Seine Forscherkarriere ist im Eimer, er ist ein Nervenbündel und könnte mit seinen Neurosen die gesamte US-Psychiaterschaft über Jahre in Lohn und Brot halten. Nein, ich fürchte auch Little kann nicht als Gegenbeweis dienen. Und Steele? Ich weiß, dass der Name nun kommen muss. Steele hat sein Leben hinter sich. Alles was er tut, ist nur noch Nachspiel. Er ist in der Verlängerung, nachdem das Spiel schon verloren ist. Wenn er niemanden hätte, den er verprügeln kann, würde er sich nach ein paar Tagen selbst auffressen vor unterdrückter Aggression.«

Nachdem Tony seinen Satz beendet hatte, wurde ihm bewusst, dass nur noch ein Name ungenannt geblieben war. Derjenige von Lucille Chaudieu. Und obwohl sie sich unbeteiligt gab, spürte er, dass auch Lucille selbst sich dessen vollkommen klar war. Sie schaute Tony nicht an, sie schwieg. Das Ungesagte war zwischen ihnen wie ein schwarzes Loch, eine tücki­sche Falle oder vielleicht auch der Eingang eines Versteckes, in dem sich Ungeheuer verbar­gen.

 

Erleichtert vernahm Tony das unverwechselbare Heranwatscheln von Dorkas. Der Wissenschaftler grüßte kurz angebunden und begab sich zu seinem Platz. Offenbar war er in Gedanken versunken und hatte seine übliche Gesprächsfreude irgendwo unterwegs abgelegt. Aber immerhin, er war da, schnaufte vor sich hin und betrachtete seine Wurstfinger, die er zeitweise knetete, und schon alleine dafür hätte Tony ihn küssen mögen.

Schließlich trudelte auch Little ein und zuletzt erschien Steele, unhörbar und plötzlich auf­tauchend wie aus dem Nichts.

Jeder nahm seinen Platz ein, aber es wollte sich kein Gespräch entwickeln und schließlich wirkte die Stimmung so, als säßen sie im Wartezimmer eines Zahnarztes.

Einer der Mitarbeiter des Conte di Saloviva erschien und meldete, dass sich der Conte ver­späten würde. Er bitte aber seine Gäste, schon mit dem abendlichen Mahl zu beginnen.

Es entstand eine kleine Unruhe, man schabte mit den Füßen, wechselte fragende Blicke. Schließlich deutete Tony Tanner auf Lucille.

»Die Dame entscheidet.«

Zustimmendes Murmeln seitens der anderen und Lucille entschied, dass sie auf den Conte warten wollten.

 

Der Bedienstete verschwand mit einem Kopfnicken.

Und wieder fiel Schweigen auf die Gesellschaft.

Endlich raffte sich Tony auf.

»Hat der Conte ein gesundheitliches Problem? Ich hatte heute Nachmittag den Eindruck, als würde er ein Bein nachziehen und er drückte auch einen Arm an die Seite«, wandte er sich Dorkas.

Dorkas knetete seine Finger und betrachtete dabei mit gefurchter Stirn das makellose Damasttischtuch.

»Ich hatte auch den Eindruck, als würde es ihm nicht besonders gut gehen. Seine übliche Energie schien heute wie verpufft. Aber er redet natürlich nicht darüber. Und ich habe ver­ständlicherweise auch nicht nachgefragt.«

Damit war wieder eine Pause, ein Abwarten eingeläutet.

Jetzt erklang Lucilles Stimme. Etwas in ihrem Klang ließ Tony Tanner zusammenzucken, noch bevor er die Worte verstand.

»Falls unser Gastgeber Gesundheitsprobleme haben sollte, hat er sich nur an seine Gäste angepasst. Zumindest wenn man die Beurteilung von Herrn Tanner zugrunde legt …

Tony zog den Kopf ein. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Nicht nur, dass sie ihn genüsslich vorführen wollte – nein, sie nutzte dazu die Worte, die er nur ihr, ganz persönlich und im Vertrauen, gesagt hatte.

Tony hatte die heimliche Hoffnung, dass Lucilles Satz im trüben Schlamm der gedämpf­ten Stimmung spurlos versinken würde. Eine vergebliche Hoffnung. Drei Köpfe ruckten hoch, einer sank ganz tief zwischen die hochgezogenen Schultern und Lucille blitzte trium­phierend in die Runde.

Ihr rotlackierter Fingernagel deutete auf Dorkas wie der Zeigestock einer übel gelaunten Erdkundelehrerin.

»Er hält Sie für einen gescheiterten Wissenschaftler, der ohne jede Karrieremöglichkeit den Anschluss verpasst hat …«

Ihre Stimme, fast schon schrill, verklang. Die Peinlichkeit der Situation war spürbar wie Dampfschwaden in einer Sauna. Über Tonys Nase rann ein Schweißtropfen und blieb an der Spitze hängen. Er wagte nicht, ihn wegzuwischen, er wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Im Grunde wagte er nicht einmal mehr, überhaupt auf der Welt zu sein.

Dorkas verknotete weiterhin kunstvoll seine Finger. Dann räusperte er sich.

»Gescheiterter Wissenschaftler, ja?«

Sein Kopf ruckte hoch. Starr fixierte er Tony Tanner. Und Tony bemerkte, zu überrascht, um Erleichterung zu verspüren, ein schelmisches Glitzern in den Augen hinter den dicken Brillengläsern.

»Die Analyse ist korrekt, ich kann mich ihr anschließen … allerdings … ich selbst hätte es nicht so nett gesagt!«

Die Verblüffung auf Lucilles Gesicht hielt sich keine Sekunde. Dann funkelten ihre Augen wieder vor kaum unterdrückter Wut und ihr Fingernagel deutete, knallrot und deutlich vor Wut zitternd, auf Little.

»Das ist der Mann, der laut Meinung des Herrn Tanner, alle US-Psychiater über Jahre mit seinen Neurosen beschäftigen könnte.«

Little zuckte zusammen, blickte Hilfe suchend zur Decke und flüsterte dann mehr, als er sprach. »Ich bin dankbar, dass endlich jemand den Mut hatte, diese Tatsache auszusprechen. Das macht mich sehr glücklich. Ich selbst hatte nie den Mut dazu. Und ich hätte es auch selbst nicht so freundlich ausgedrückt!«

Lucille achtete gar nicht mehr weiter auf Little. Sie wandte sich an Steele. Obwohl ihr Gesicht ruhig schien und nur die großen, wunderschönen Augen funkelten wie Ofentüren, die den Blick auf ein Höllenfeuer treffen lassen, wirkte sie wie eine Rasende.

»Und hier ist der Mann, der sich laut Tony Tanner selbst auffressen würde, wenn er nicht die Gelegenheit hätte, auf anderen herumzuprügeln.« Lucilles Stimme überschlug sich, zisch­te vor unterdrücktem Hass. Der Klang verfing sich wie eine Schwefelwolke in dem Deckengewölbe.

»Ich habe lange gebraucht, bis ich selbst diese Erkenntnis über mich gewonnen hatte«, antwortete Steele völlig gelassen. »Und glauben Sie mir, ich habe mir diese Wahrheit bereits eingestanden, allerdings etwas weniger liebevoll formuliert!«

 

Verblüfft starrte Lucille von einem zum anderen. Sie wirkte fast mitleiderregend in ihrer völligen Hilflosigkeit. In ihrer Verwirrung schaute sie auch auf Tony, dessen Blick sie bisher wohlweislich vermieden hatte. Sie erschrak, als hätte sie ihn nicht an diesem Platz vermutet. Sie zögerte kurz, spritzte dann in die Höhe. Ihr Stuhl polterte zu Boden. Der Lärm bildete einen seltsamen Gegensatz zu der Erstarrung, die alle, außer Lucille, befallen hatte.

Lucille Chaudieu hatte nur noch einen Gedanken: Fort von hier, fort aus diesem Haus. Allein das Wort Flucht schimmerte aus dem trüben Wirbel heraus, der in ihrem Kopf jede Klarheit, jede Gewissheit mit sich riss wie eine Schlammlawine.

Ihr Fluchtversuch scheiterte. In diesem Augenblick erschien der Conte di Saloviva.

Er bot das Bild eines bejammernswerten, hinfälligen Greises, der von zwei Bedienten gestützt werden musste und sich nur mit kleinen schlurfenden Schritten vorwärts bewegte.

An seiner Rechten stützte ihn ein kräftiger Diener, der offenbar seinen linken Arm um den Conte geschlungen hatte und ihn eher zu tragen als nur zu stützen schien.

An seine Linke schmiegte sich ein junges Mädchen, dessen dunkles, glattes Haar im letz­ten Tageslicht glänzte, und dessen ebenmäßiges Gesichtchen mit großen Augen liebevoll zum Conte aufschaute. Der Conte hatte seinen Arm über ihre Schulter gelegt, und sie stützte ihn nach Kräften, wenn ein Schritt ihn schwanken ließ und sie sich mit ihrem ganzen schlanken Leib gegen ihn bäumte. Das musste Maddalena sein, das Mädchen, das der Conte liebte wie sein eigenes Enkelkind. Maddalena, deren fast überirdische Schönheit Tony Tanner bereits auf einigen Gemälden im Palast gesehen hatte. Jetzt, wo er sah, wie sie sich bewegte, wo er ihren weichen Körper unter dem wehenden Kleid ahnte, wo er glaubte, dass ein Blitz aus ihren großen schwarzen Augen auch auf ihn gefallen sein musste, wurde er von einer unbe­stimmten Sehnsucht erfasst. Eine heiße Welle strömte durch seinen Körper, die ihn unmerk­lich straffte und jünger erscheinen ließ, seine Gesichtszüge vermännlichte und seinen Teint dunkler färbte. Tony Tanner wusste, dass die kalte Dusche gegen dieses aufströmende Gefühl keinesfalls den Namen Lucilles tragen würde.

 

Tony Tanner bemerkte nicht, dass auch die anderen Tischgenossen in den Zauber der per­fekten Schönheit Maddalenas gezogen wurden. Er glaubte in diesem Moment fest daran, dass er nach einem einzigen Blick, den er noch zu erhaschen hoffte, ruhig sterben könnte. Listenreicher Conte!, ging es ihm durch den Sinn. Allein für Maddalenas Nähe wäre er ihm ab sofort überallhin gefolgt. Tony Tanner war beseelt wie nach einem Blick ins Paradies des Alten vom Berge.

Schwer atmend löste sich der Conte von seinen Begleitern, stemmte die Arme auf die Stuhllehne und sammelte sich mit hängendem Kopf. Seine Umwelt schien er nicht wahrzu­nehmen. Seine mühsam röchelnden Atemzüge, der Schmerz, der manchmal seine Schultern schüttelte, vermittelten den Eindruck eines schwer kranken, ja eines dem Tode nahen Mannes. Er winkte Maddalena zu gehen, und sie ging neben den Diener fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihre Bewegungen, so schien es Tony Tanner, blieben aber und ließen Lucilles Parfum in der Luft verpuffen.

 

Vielleicht waren es nur Sekunden, die vergingen, aber jedem Anwesenden erschien die Zeit unendlich lang, ein quälendes Warten auf die nächste Bewegung des Conte.

Lucille war zur Salzsäule erstarrt. Nicht nur, dass ihr Spiel mit Tony Tanner effektlos geblieben war. Sie hatte Maddalena gesehen, Maddalena, das Mädchen, neben dem sie selbst aussah wie die böse Schwiegermutter in Person, Maddalena, deren kühle Haare über Tony Tanners Seele gestrichen waren, Maddalena, die Dorkas die Tränen in die Augen gezaubert hatte, die Steele in eine Zeit zurückversetzt hatte, in der er selbst eine weiche, warme, leben­dige Tochter auf den Armen getragen hatte, Maddalena, die Little in die Nähe eines Erstickungsanfalls gebracht hatte. Maddalena, diese einzigartige Schönheit, hatte sogar Lucilles Herz berührt und in ihr fremde und unbekannte Gefühle aufgewühlt.

Tony Tanner saß noch immer gebannt und wie verhext, und Lucille spürte, dass sie ihn verloren hatte. Sie hatte ihn verloren an die Makellosigkeit der Unschuld, an die Glätte der Schönheit und an den süßen Honig der Hoffnung. Sie schüttelte ihre Haare. Lucille, sie war Lucille. Sie würde kämpfen müssen. Sie würde neue Waffen einsetzen müssen. So wie es ihr leidtat, ihre Beziehung zu Tony Tanner aufs Spiel gesetzt zu haben, so war sie jetzt bereit, wieder um ihn zu kämpfen, denn sein heutiges Gesicht ähnelte dem, das er damals trug, als er geistesabwesend und mehr tot als lebendig in ihren Armen gelegen hatte, und sie ihn wie einen kleinen Jungen gepflegt, geliebt und wieder in die Welt gebracht hatte. Tony Tanner! Jetzt, wo er von einem Moment zum anderen in Liebe gefallen war, kam er ihr so kostbar und so unendlich fern vor. Ja, sie würde um seine Liebe kämpfen, er war es wert.

 

Mit Mühe löste der Conte seine Hand von der Lehne und winkte ihr zu. Sie verstand die Aufforderung, ging gehorsam zurück zu ihrem Platz am Tisch, wo einer der Bedienten den schweren, geschnitzten Stuhl inzwischen wieder aufgehoben hatte.

»Danke, meine Freunde«, flüsterte der Conte. »Danke, dass Sie auf mich gewartet haben.«

Dann schien er seine Umwelt wieder zu vergessen, sank herab in seinen Schmerz und seine Schwäche, bis er erneut Kraft gesammelt hatte. Seine Hand suchte, tastete, glitt endlich in die Jackentasche und brachte ein Kästchen zum Vorschein. Zitternd legte er es auf den Tisch.

Tony Tanner und Dorkas erkannten es sofort. Es war der Behälter mit den beiden golde­nen Stäben, den Dorkas in seinem Paket mitgeschleppt hatte.

Tony starrte das Kästchen völlig verwirrt an. Es war mehr als ein Gegenstand. Es war Stoff gewordene Erinnerung, eine Narbe, die ihn bis zum Ende seines Lebens zeichnen würde. Oh Maddalena! Hatten ihn die jüngsten Ereignisse anfällig gemacht? Jetzt fühlte Tony Tanner sich regelrecht elend, wie aus dem Himmel gerissen und in eine unbegreifliche Welt zurückversetzt. Zusammen mit dem Auftritt Lucilles, mit ihrem offenen Versuch, Tony herab­zusetzen, zu beschämen und in aller Augen unmöglich zu machen, erweckte der Anblick der Schatulle in Tony Übelkeit. Es war, als läge dort, zwischen den wellenartigen Falten, die die zittrige Hand des Conte aus dem Tischtuch geschoben hatten, die Ursache aller Probleme. Am liebsten hätte er das Ding samt Inhalt gepackt und gegen die Wand geschmettert. Als symbo­lischen Akt und in Anerkenntnis der Tatsache, dass er zu schwach war, um Dorkas und Conte gegen die Wand zu klatschen, auf dass sie dort als Fettflecken für kommende Generationen erhalten blieben.

Zugleich war ihm klar, dass er nicht einmal in der Lage war, dieses Kästchen überhaupt anzufassen. Er hätte sich eher totschlagen lassen, als es anzurühren.

Er konnte es nur anstarren und mit den Zähnen knirschen und versuchen, ruhig zu blei­ben.

Tony bemerkte nicht, dass sich die Augen Lucilles auf ihn hefteten. Sie hockte zusammen­gekrümmt auf ihrem Stuhl, nur ihre Blicke waren lebendig, wanderten durch den Raum. Zuerst scheu, dann flehend wandten sie sich an Tony Tanner.

Aber Tony bemerkte nichts. Er fragte sich, ob der Conte ihn provozieren wollte, indem er das Kästchen mitbrachte und Maddalena fortschickte. Verdrängte den Gedanken und fing ihn im nächsten Moment wieder ein. Der Conte und Dorkas hatten zusammen etwas ausgeheckt. Unfug, sagte sich Tony dann und spürte erneut, wie eine Welle von Wut ihn überrannte.

Zugleich bemerkte er die furchtsame Stille, in der die Atemzüge des Conte die Markierungen setzten. Im Garten begann ein Vogel zu singen.

Ein schmerzliches Lächeln glitt über die angestrengten Züge des Conte. Er legte lau­schend den Kopf auf die Schulter.

»Hören Sie? Eine Nachtigall. Die Natur leugnet den Schmerz der Menschen. Sie lacht über unsere Qualen, weil sie stärker ist als unser Wille. Daher müssen wir sie zugleich lieben, fürchten und verehren.«

Die wenigen Sätze hatten den Conte angestrengt. Ein Bedienter tupfte ihm den Schweiß von der Stirn, während der andere dem Conte behilflich war, sich zu setzen.

Der Gesang der Nachtigall schwebte aus dem Garten heran, prallte auf die Szene eines verfallenen Greises, der darum kämpfte, einige Sätze sagen zu können und bildete einen Widerspruch, der allen unerträglich wurde.

»Es gibt eine Geschichte«, fuhr der Conte mit etwas festerer Stimme fort, nachdem er sich durch einen Schluck aus einem goldenen Becher gestärkt hatte. »Etwas, das Sie wissen müs­sen, um etwas anderes zu verstehen. Es ist so, dass wir hier in einem der ältesten Teile des Gebäudes sitzen. Das gesamte mittelalterliche Bauwerk wurde abgerissen, um einen neuen Palast zu bauen. Nur diese Terrasse ließ man stehen, wenn man sie auch mit neuen Säulen und einer Balustrade ein wenig anpasste. Man wagte es nicht, diese Steine abzuräumen.

Vor langer Zeit war an dieser Stelle die Stammburg der Familie Malaparte. Der Erstgeborene und Erbe der Familie, Ambrogio Malaparte, wurde schon kurz nach seiner Geburt zu Verwandten der Mutter in Pflege gegeben, den Chorezzi. Man weiß nicht, warum das geschah. Vielleicht war es ein altes Versprechen, ein Gelöbnis, vielleicht gab es auch eine Prophezeiung, die die Eltern zu dieser Tat trieben.

 

Ambrogio wuchs bei den Chorezzi auf, wurde in den edlen Künsten ebenso unterrichtet wie in der Kunst des Kampfes. Er verdingte sich als Condottiere, und sein Ruhm wuchs eben­so wie sein Einfluss und sein Reichtum. Seinen eigentlichen Eltern, den Malapartes wurde nur noch eine Tochter geboren. Sie verheirateten sie mit Allegretto Nuzzi, einem Gefährten Ambrogios. Dieser Ambrogio wurde von dem Mann, den er für seinen Vater hielt, von Federicio Chorezzi, über seine wahre Herkunft unterrichtet. Auf dem Sterbebett flehte der Alte seinen geliebten Ambrogio an, niemals das Haus seiner wirklichen Eltern zu betreten.

Ambrogio schwor es dem Sterbenden in die Hand. Lange Zeit hielt er das Versprechen. Aber immer wieder bat ihn Allegretto Nuzzi um einen Besuch. Und einmal, als es eine Fehde mit den Nachbarn gab, musste sich Ambrogio zwischen seiner Ehre, seiner Freundestreue und seinem Eid entscheiden. Er besuchte dieses Haus und warf mit seinen Leuten die Nachbarn in zwei blutigen Schlachten. Aber etwas anderes geschah: Im ersten Moment, in dem er Domenica Malaparte sah, seine Schwester und die Ehefrau seines Gefährten, entbrannte er in hilfloser Liebe zu ihr, und bei Domenica war es ebenso. Beide waren sich der Sündhaftigkeit ihres Verlangens völlig bewusst, beide unterdrückten es und litten.

 

Ambrogio Malaparte wollte so bald wie möglich von hier scheiden. Aber die Nachbarn sammelten noch einmal alle Kräfte, um den letzten und entscheidenden Schlag zu tun. Am Abend vor der Schlacht trafen sich Ambrogio und Domenica zufällig auf eben dieser Terrasse, auf der wir hier sitzen. Ihre Liebe – oder ihr Verlangen oder ihre Schwäche, was immer es war, muss ein Höherer entscheiden – überwältigten beide und sie fielen, so sagt es der Chronist, übereinander her wie wilde Tiere.

So traf sie Allegretto Nuzzi. Er zog ohne Zögern seinen Dolch und erstach Ambrogio. Aber dieser fand noch Gelegenheit, den Freund und Rivalen mit seinem Schwert zu durch­bohren. So starben sie beide in derselben Stunde.

Domenica Malaparte verlor den Verstand, floh in die Wälder und verschwand für immer. Dante hat die Geschichte der Malaparte in seinem Inferno verarbeitet. Der Dichter war der Meinung, die sündhaft Liebenden hätten jede Möglichkeit der himmlischen Erlösung ver­wirkt, weil sie der irdischen Gier gefolgt seien und nicht den göttlichen Geboten. Die Legende erzählt, dass Domenica Malaparte von einem der alten Götter, die noch durch diese Wälder streifen, in eine Nachtigall verwandelt wurde. Jetzt ruft sie klagend nach ihrem Geliebten Ambrogio. Sie sucht ein Wort, ein menschliches Wort, das sie und ihn erlösen würde, aber nur köstlicher Gesang quillt aus ihrer Kehle.«

Der Conte beendete seine Erzählung und griff erneut nach dem kostbaren Becher. Mühevoll und mit zitternden, unsicheren Händen führte er ihn zum Mund und nahm einige Schlucke.

»Ich habe Ihnen diese traurige Geschichte erzählt, liebe Freunde«, fuhr er dann fort, »damit Sie eine wichtige Tatsache verstehen. Ich nenne diese Terrasse den Limbus – die Vorhölle.

 

Die Geschichte von Ambrogio und Domenica Malaparte war vergessen, vielleicht auch verdrängt. Ich habe sie selbst sozusagen ausgegraben, aus kleinen Erwähnungen in Dokumenten, aus dem, was man sich in dieser Gegend immer noch erzählt. Irgendwann erkannte ich, was in diesen beiden Menschen an genau diesem Ort vorgegangen sein muss. Der Fluch der Liebe, das Ausgesetztsein an ein Schicksal, dessen perfiden Plan man ahnt. Das Brennen der Begierde Tag für Tag, Sekunde für Sekunde. Die Amputation des Ich, dessen Heilung im Antlitz des Anderen liegt, in seiner Umarmung, in seiner Berührung. Wundervoll und höllisch. Der Teufel muss ein großer Liebender sein. Vielleicht liebte er Gott zu sehr … Und er verteilt den Fluch seiner Liebe an die Auserwählten …

Darum eben Limbus – die Vorhölle. Und es ist ein passender Ort für uns alle, meine Freunde. Sie haben mein Collesalveti vielleicht als freundlichen Ort der Ruhe, der Gastfreundschaft erlebt. So sollte es auch sein. Aber ich bin sicher, dass keiner hier an diesem Tisch sitzt, der nicht auch Unruhe verspürt hat. Oder vielleicht auch mehr als Unruhe, näm­lich Unsicherheit, Verwirrung, Schmerz.

Ich könnte jetzt sagen, dass ich es bedauere, Sie mit diesem Schmerz behaftet zu wissen. Aber ich will nicht lügen. Ich will auch kein Mitleid heucheln. Mitleid – das ist die Empfindsamkeit einer anderen Zeit. Seien Sie versichert, der Conte di Saloviva hat kein Mitleid und er verlangt auch keines. Warum sollten wir unsere seelische Energie an die pre­ziösen Formen eines schönen Seelenlebens aus ferner Vergangenheit verplempern?«

 

Der Auftritt des Conte, seine überraschende Gebrechlichkeit, sein Auftauchen an der Seite der makellosen Schönheit Maddalena, seine ernsten Worte, seine anrührende Geschichte und sein edler, aufrichtiger Stil beeindruckte die Tischgesellschaft zutiefst. Vorsichtig schwangen die Zweifel in Bewunderung um, und in ein Gefühl der Zugehörigkeit, die in ganz weiter Ferne, nach einer dornigen Zeit voller Gefahren, eine ganz neue Dimension von Glück ver­sprach.

Als würde ein effektbewusster Regisseur hier die Hand im Spiel haben, versagte die Stimme des Conte an dieser Stelle. Er sank in sich zusammen und senkte den Kopf. Und obwohl er sich mit dieser Geste vor den Blicken seiner Gäste zu verbergen suchte, musste jeder die Schmerzen erkennen, unter derer brennender Berührung der Körper des alten Mannes erschauerte und sich sein Gesicht verzerrte.

Keiner wagte aufzuspringen, um den Conte beizustehen. Jeder hatte diesen Gedanken, jeder hatte das Bedürfnis, aber keiner hatte eine Idee, wie man dem Gastgeber helfen könnte.

Schließlich blieb ihnen nichts, als den Tisch vor ihnen zu fixieren und darauf zu hoffen, dass der Anfall vorbei ginge. Es gab ihnen Zeit, über die seltsamen Worte des Conte nachzu­denken. Die Krankheit schien das Wesen ihres Gastgebers verändert zu haben, es mit Schärfe und Bitterkeit, vielleicht sogar Verbitterung vermischt zu haben.

So atmeten alle erleichtert auf, als sich der Conte wieder aufrichtete und einige Schlucke aus seinem Becher nahm. Zugleich verspürte jeder einen ahnungsvollen Schauder vor dem, was ihnen nun eröffnet werden könnte.

»Schmerz …« der Conte ließ das Wort nachklingen wie eine Parole. »Ja, wir müssen Schmerzen zufügen. Und ich weiß, dass es niemandem hilft, wenn ich versichere, dass es der Schmerz der Heilung ist. Es wäre schön, wenn ich hier von dem goldenen Pfeil reden könn­te, der die Herzen der alten Mystiker durchbohrte, bevor sie die Süße einer Vision schmecken durften. Nein, ich fürchte, wir haben nur eine weniger süße Speise zu bieten. Die Fraternidad kredenzt Ihnen das bittere Wasser der Wahrheit.

Keiner von Ihnen ist aus Zufall hier oder gar unwillentlich. Jeder von Ihnen hat Zeit sei­nes Lebens mit einem Bewusstsein gekämpft, das ihn von allen anderen Menschen trennte. Dem Gefühl, an der falschen Stelle zu sein. Dem Verdacht, nicht in dieses Leben zu gehören. Immer wieder kam dieses Gefühl, plötzlich und erschreckend, es war immer da, wie eine Wunde, die sich nicht schließen will. Jeder von Ihnen hat dagegen gekämpft, hat dieses Gefühl übertüncht, hat die Spiele mitgespielt, die man von ihm verlangte und geglaubt, das alles müsste so sein. Und jeder ist daran gescheitert. Das Schicksal hatte mit Ihnen allen etwas anderes vor. Das Schicksal lässt sich vielleicht für Jahrzehnte überhören, aber einmal macht es sich bemerkbar. Dann blutet die Wunde wieder. So ähnlich wie die Wunde des Fischerkönigs in der Gralssage …«

Der Conte unterbrach sich mit einem bitteren Lachen, das unpassend wirkte und zugleich erschreckend wie der Anblick einer afrikanischen Maske zwischen Fastnachtslarven.

»Es liegt in Ihren Genen, liebe Freunde. Keiner der Forscher, die heute sich heute so laut­stark ihrer Erfolge brüsten, würde dieses Gen finden. Aber ich versichere Ihnen, es ist – ein Erbe, das Sie mit Millionen anderer Menschen teilen, die sich dessen noch weniger bewusst sind, als Sie. Ein Erbe aus einer Zeit, die so weit zurückliegt, dass jedem Menschen ein Schauder überkommt, wenn er daran nur denkt.

Wir nennen … ich darf nicht zu sehr vorgreifen … wir meint natürlich die Bruderschaft der Weißen Väter … wir nennen Menschen wie Sie Schläfer. Es entsprach über Jahrhunderte dem Prinzip unserer Gemeinschaft, der Entwicklung nicht vorzugreifen, keinen Zwang anzu­wenden. Wir ließen die Schläfer in ihren schönen Träumen. Wir boten viele Möglichkeiten für die Menschheit, sich aus dem Schlaf zu befreien. Es gab Gedichte, die die Seele berührten, Bilder, die den Kern jedes Menschen erschüttern mussten, Musik, deren Klänge, die Seele dazu bringen musste, die Fessel des Schlafes abzuschütteln. Ja, es gelang uns. Wir weckten viele Menschen, und diese Erweckten traten in unsere Reihen – viele wussten es nicht, aber sie gehörten dennoch zu uns – und sie arbeiteten mit an dem grandiosen Bauwerk der Fraternidad. Durch Jahrhunderte, über alle Kontinente hinweg erschufen wir den Tempel, erschufen ihn aus Kunst, aus Menschlichkeit, aus Pflichterfüllung, aus Selbstüberwindung, aus Freundschaft, aus Aufmunterung, aus Mitgefühl.

Oh ja, es war ein großes Werk, und unser Scheitern war ebenso großartig wie schön und vollkommen. Vollkommenes Scheitern – beachten Sie die doppelte Bedeutung dieses Ausdrucks. Nur so können Sie verstehen, was mit Ihnen geschah.

Denn unsere Gegner kannten keine Skrupel. Sie verwendeten Menschenleben, das Dasein ganzer Völker, als wären es Steine, mit denen sie ihren Weg pflastern würden. Sie wissen, von wem ich rede. Ich erwähnte sie in den letzten Tagen oft genug. Die Titanen sind gewaltig in ihren Taten und sie sind großartig in ihrer Skrupellosigkeit. Sie sind wahrhaftig die Götter, zu denen sie die Mythen der verwirrten Menschen gemacht haben. Wir sprechen vom Orden vom Eisernen Zeitalter. Aber was sollen solche Namen? Sie lachen darüber. Sie lachen über uns wie Erwachsene über ein Kind lachen, das sich seine Burgen aus Sand baut und darin die Gestalten seiner Fantasie beherbergt.

 

Hier, an diesem Ort und zu dieser Zeit, liebe Freunde, muss ich bekennen, dass die Fraternidad völlig versagt hat. Sie ist untergegangen. Sie starb in Schönheit und Schwäche und verstand bis zu ihrem letztem Atemzug nicht, warum der sanfte Schimmer eines Madonnenbildes die Menschen weniger berührte als der Glanz von Gold, Juwelen und Macht.

Die Fraternidad ist tot – und doch lebt sie. Denn es gab einige unter uns, die sich an ihr versündigten. Rebellen der Bruderschaft, die sich auflehnten gegen das Gesetz, das eben diese Bruderschaft vergehen ließ wie eine wertvolle Blüte im Winter. Wir verleugneten die Bruderschaft, wir beschmutzten ihre Prinzipien, wie beschämten uns, indem wir sie weiterle­ben ließen. Wir begannen, die Schläfer zu wecken.

Wir luden Hass auf uns. Denn wir weckten die Menschen aus einem schönen Traum und stürzten sie in eine Wirklichkeit, die schlimmer ist als das, was je ein Schläfer in einem Albtraum durchleiden musste.

Oh nein, meine Freunde, es ist keine Freude, aus dem Schlaf gerissen zu werden und es ist kein Verdienst, einen Schläfer zu wecken. Warum nicht weitermachen wie bisher – die Spiele der Menschen mitspielen, ihre Freuden teilen, ihre Illusionen mittragen und den Stachel in der Seele betäuben, den Ruf aus dem eigenen Inneren überhören. Es gibt genug Möglichkeiten, ihn zu betäuben – Alkohol, Sex, Drogen, Macht, Karriere. Warum nicht das Spiel des Ordens vom Eisernen Zeitalter mitspielen, wo es doch umso vieles erfreulicher ist?

An dieser Stelle, meine Freunde, muss ich verstummen. Denn nur Sie können sich die Antwort geben. Nur Sie selbst wissen, warum es sein muss. Nur Sie selbst finden in Ihrem Inneren den Schlüssel zu der Schatztruhe, in der sich nur ein kleiner Zettel findet. Und auf diesem Zettel stehen nur die vier Worte Weil es sein muss. Weil das Leben es will. Weil die Erde es will. Weil Kräfte es wollen, die so groß und so gewaltig sind, dass sie kein Wort zu fassen vermag und die doch auf uns angewiesen sind. Und weil Ihr Ich es will. Weil das klei­ne, zarte, vergängliche, dem Tode geweihte Ich es will, weil es kämpfen will, weil es sich in die Schlacht stürzen will, auch auf die Gefahr hin zu vergehen im Nichts. Weil wir uns in jedem Moment die Frage gestellt haben, ob unser Leben gelingen kann, ob wir in diesem selt­samen lauten Karneval des Daseins, in dieser so leeren und so lauten Gesellschaft den Weg finden, auf dem wir gehen können, stolz, frei, selbstbewusst, weil es unser Weg ist. Weil es der Weg ist, auf dem wir, vielleicht in Lumpen, vielleicht armselig, vielleicht verkrüppelt, doch wissen, dass wir so sind, wie wir sein sollen, ein Ich, das Ich ist. Ein Ich, das einmalig ist, keines Menschen Untertan, keiner Mode verpflichtet, keinem Trend zugehörig, keiner Partei eingetragen. Ein Ich, das stolz auf seine Narben zeigt, das sich seiner Wunden nicht schämt, weil es weiß, dass jede Narbe Zeichen eines Sieges ist. Ein Ich, das sagen kann: Ich bin erwacht!

Ich weiß, meine Freunde, wie schwer das Erwachen ist. Ich kenne das Gefühl, wenn sich die Wirklichkeit wie scharfe Klingen in unser Bewusstsein drängt. Wenn alles infrage gestellt wird. Wenn alle Sicherheit schwindet. Wenn wir nackt und bloß das Haus unserer Gewohnheiten verlassen. Wenn wir uns schreiend und schmerzgepeinigt häuten und schließ­lich unser altes Leben mit demselben Ekel betrachten müssen, mit dem wir die Wirklichkeit anschauen. Diese Wirklichkeit voller eitler Schwätzer und überheblicher Traumtänzer, voller gieriger Dummköpfe, die Macht über uns haben, weil sie fähig sind, nicht an ihrer eigenen Dummheit zu ersticken und sich nicht an ihrer eigenen Nebensächlichkeit zu vergiften. Oh ja, es gab einige, die sich gegen uns stellten, aus Hass, aus gerechtem Zorn wohl eher, dass wir sie aus ihrem süßen Schlummer gerissen hatten!«

 

Während der Conte verstummte und sich der Nachhall seiner Stimme zwischen den Bögen der Terrasse verlor, verschwamm für John Little die Außenwelt für einen kurzen Moment. Die Worte des Conte gingen ihm nicht aus dem Sinn, sie klangen nach, veränderten sich, wurden aus Klang zu Farbe und Form, gerannen zu einem Bild. Zuerst erschrak Little vor dem Chaos, das sich vor seinem inneren Auge dahinwälzte als eine brandende Flut sich überschlagender Gestalten und wechselnder Räume. Deutlich spürte Little, wie eine nasse Uniform an einem Körper klebte, auf den Lippen schmeckte er Salzwasser, Sand schmirgel­te zwischen seinen Fingern. Obwohl Little nichts hörte, wusste er, dass ein höllischer Lärm herrschte – Flugzeugmotoren dröhnten, Panzer erschütterten die Luft, als sie sich im Brüllen ihres Antriebs durch den Sand wälzten und schwarze Schleier aus ihren Auspuffrohren blie­sen, Granaten heulten über ihn hinweg und detonierten mit dumpfen Knall, Maschinengewehre spuckten ihre Geschosse wie hastige Hasstiraden, Stimmen schrien Befehle, andere Stimmen kreischten wortlose Gesänge von Schmerz und Panik. In seinem Rücken wusste Little nun das Brummen eines Schiffsmotors und es formte sich zugleich das Bild eines länglichen Bootes mit seltsamem, kantigem Bug. Immer noch wusste Little nicht, wohin ihn seine Vision führte. Er wusste, dass er den Gestank von brennendem Gummi in der Nase hatte, Gestank von Pulver, von Abgasen. Und von Angst. Über allem lag wie ein unsichtbares Giftgas eine elende, unbezwingbare Angst. Der Blickwinkel veränderte sich. Littles Magen krampfte sich zusammen, denn er wusste, wie erschreckend der nächste Anblick sein würde. Er ahnte den Schock – Little wusste, dass er oder vielmehr derjenige, des­sen Erinnerungen sich in diesem Moment in sein Bewusstsein drängten, schon mehrmals in diese Richtung geschaut hatte, zwanghaft – und als er dann das verzerrte Gesicht des neben ihm liegenden Soldaten, diese würdelose Karikatur eines menschlichen Gesichtes erkennen musste, war er vorbereitet.

 

Wie zufällig war das Kästchen mit den Goldstäben über den Tisch gewandert. Jeder hatte es unbewusst in die Hände genommen und wieder abgelegt, weitergelegt, weggeschoben, und nun, ebenso unbewusst, ergriff Jake Little das Kästchen. Aber er drehte es nicht in seinen Händen herum, er fingerte nicht damit, sondern er umschloss es mit beiden Händen und schien sich daran festzuhalten.

Der Blick, dem Little zu folgen hatte, als wäre er daran gefesselt, glitt weiter nach unten, wo sich Sand, blutiger Uniformstoff und Eingeweide vermischten. Bevor ihn der Schrecken dieses Anblicks erreichen konnte, wurde Little weitergezerrt. Der Geschmack von Salz ver­schwand von seinen Lippen, seine Haut wurde nicht mehr von der nassen Uniform wundge­scheuert. Jetzt sah Little Gras vor sich. Ein ganz normales Büschel von langem, sattgrünem Gras. Fast eine Sommeridylle. Aber der Mensch, dessen Spuren Little folgen musste, betrach­tete dieses Gras mit Ekel. Er wurde vor Abscheu geschüttelt angesichts des blinden, sinnlo­sen Wachstums der Pflanze, angesichts ihrer ebenso blöden wie boshaften und selbstsicheren Lebenskraft, mit der sie jedes menschliche Elend in diesem Universum leugnete und sich auf nichts anderes konzentrierte, als eine neue Zelle um die andere aufzubauen und zu wachsen, zu wachsen und zu wachsen und dann wieder zu wachsen. Der Hass des Betrachters war so groß, dass Little fast das Schnauben hören konnte. Der Mann – inzwischen war Little sicher, dass er einem Mann folgen musste – wandte sich angewidert ab. In seinen Gedanken kam die Frage, welche Kraft diesen blinden Trieb steuerte, diesen widerwärtigen Lebensdrang, diese Lust auf eine Frau, auf Essen, auf Schlaf, auf den nächsten Atemzug, selbst wenn das Leben wie ein missgestalteter Fötus in einem Schauglas voll Ekel und Verzweiflung eingelegt zu sein schien.

 

Der Mann zermarterte sich das Hirn, er fand schließlich die Kraft, die das Leben als eine mutwillige Spielerei betrieb und er fand hinter dieser Macht eine andere, wartende, größere Macht, die dem Treiben des Lebens mit ebensolcher Verachtung zuschaute, wie es der Mann selbst tat. Für den Mann war diese Entdeckung eine Befreiung. Die Vision schwand. Als würden sich würgende Hände um seinen Hals lockern, konnte Little aufatmen und sich wie­der sammeln. Aber bevor er die Bilder endgültig abschüttelte, sah Little eine letzte, kurze Szene … und verstand. Er sah einen Mann in einem langen schwarzen Ledermantel.

»Brantley«, murmelte Little, für die anderen unhörbar. Brantley war einer der Schläfer, von denen der Conte di Saloviva gesprochen hatte. Brantley hatte sich gegen die Bruderschaft gestellt. Obwohl Little wusste, welches Monster Brantley war, verstand er nun den Weg, den dieser Mann gegangen war, bis er sich von allem Menschlichen abgewendet hatte. Und Little verstand auch, er verstand es auf einer ganz fundamentalen, körperlichen Ebene, wie grausam und rücksichtslos die Bruderschaft war, wenn sie den Schleier der Illusion von einem der Schläfer nahm.

 

Der Conte beugte sich vor und schaute jeden der Anwesenden lange an. Jeder spürte die­sen Blick wie eine Prüfung, wie eine stumme Befragung. Besonders lange verweilten die Blicke des alten Mannes auf dem Gesicht Littles. Little schaute auf und hielt dem Blick des Conte stand. Sie teilten ein Wissen, das nur ihnen beiden zugänglich war.

»Gehen Sie, wenn Sie wollen«, stieß der Conte hervor. Seine Stimme stand kurz davor, sich zu überschlagen.

»Gehen Sie. Noch gibt es einen Weg zurück in Ihr altes Leben. Sie werden diesen seltsa­men Greis, der sie hier begrüßte, bald vergessen. Gehen Sie, wenn Sie es wollen, vielleicht ist es besser so. Denn meine eigenen Schmerzen sind nichts als das Echo dessen, was hier nicht gesagt wurde, was verschwiegen wurde, was zwischen Ihnen im Raum steht. Ich hatte gehofft, Ihnen den Weg gewiesen zu haben. Aber ich habe versagt. Verzeihen Sie einem alten schwachen Mann.«

Damit wandte sich der Conte langsam ab. Er schwankte, erst der helfende Arm eines Bedienten gab ihm Sicherheit.

»Bitte bleiben Sie!«

Die Stimme Lucilles stach wie ein Glassplitter in die atemlose Stille. Die Worte verdeck­ten wie eine unvollkommene Tarnung, dass sie einen Schrei ausstieß, einen verzweifelten Hilfeschrei.

»Bitte, es ist alles nur meine Schuld.«

Der Conte stockte, zögerte und ließ sich schließlich auf seinem angestammten Platz nie­der.

»Ich habe nie von Schuld geredet«, sagte er. »Nur von Versagen. Davon, dass wir unsere alten Schmerzen für Glück halten und uns davor fürchten, den Raum zu betreten, in dem unse­re schlimmsten Ängste auf uns warten. Aber unsere Ängste sind auch unsere Freunde, die wir verstoßen haben und unsere Dämonen sind unsere Helfer, wenn wir ihnen ins Gesicht schau­en. Entscheiden Sie sich, mein Kind.«

Lucille Chaudieu schien erstarrt zu sein. Ihr Gesicht wurde wieder zu einer Maske, unbe­wegt und stumm und für einen Augenblick erinnerte sie an eine leblose Wachsfigur. Dann trat ein Schimmer in ihre schönen Augen und Tränen flossen.

Tony Tanner schwankte für einen Moment, ob es angebracht sei, Mademoiselle Chaudieu mit einem Einstecktuch Hilfe angedeihen zu lassen oder ob der Gentleman diese Gefühlswallung, die ihm zudem auch in gewisser Weise albern erschien, nicht erst einmal zu ignorieren hätte.

Dann war es Steele, der mit einer lässigen Geste ein Seidentuch aus der Brusttasche sei­nes Jacketts zog und es Lucille reichte. Die nahm das Tuch mit einem dankbaren Blick und einem schmelzenden Lächeln, und Tony Tanner tobte innerlich, und wieder einmal war er sich absolut und zweifelsfrei sicher, dass er genau das nicht gewollt hatte.

»Es ist eine fürchterlich banale Geschichte«, begann Lucille zögernd. »Wahrscheinlich sind alle Tragödien heutzutage banal. Ich meine, wenn man sich anschaut, warum Leute in die Todeszelle gehen, dann steckt nichts Besonderes dahinter, alles ist nur eine Folge von Kleinkram, Seelenmüll, was weiß ich. Ich wollte mir diese Tatsache nie wirklich bewusst machen – wie alltäglich meine Geschichte ist. Man trifft sich, man verliebt sich, man trennt sich. Das passiert tausendmal pro Tag. Wahrscheinlich hat mich das noch mehr zu Boden gedrückt, diese Alltäglichkeit. Dass man nichts Besonderes ist. Ich wollte es einfach nicht akzeptieren, dass ich nicht als Prinzessin auf einem weißen Pferd dem Drachen in die Klauen reite, sondern dass sich alles in einer mittelmäßigen Wohnung in einem mittelmäßigen Vorort abspielt.

Aber ich rede ständig von mir. Dabei müsste ich von Pierre reden. Er war der Mann mei­nes Lebens. Dachte ich zumindest. Er war Militärpilot. In gewisser Weise entsprach er jedem Klischee, das in zweitklassigen Filmen gezeigt wird. Er sah gut aus, er war selbstbewusst, er liebte das Leben … ich höre mich schon an wie ein Artikel aus einer Illustrierten …

Er hielt sich für den Besten, und sicherlich hatte er damit nicht völlig unrecht. Er wurde zu einer besonderen Einheit versetzt, über die er mit mir nicht reden durfte. Aber es waren die Besten der Besten, wie er sich ausdrückte. Ihm gefiel das. Wir sahen uns nicht oft, aber wir hatten eine gute Zeit. Dann veränderte er sich von einem Tag auf den anderen. Er war wie aus­gewechselt. Was ich sah, war nur noch eine Hülle. Irgendetwas war geschehen, irgendetwas hatte ihn aus der Bahn geworfen. Zuerst hoffte ich, es würde sich mit der Zeit geben. Dann versuchte ich, mit ihm zu reden. Völlig vergeblich. Er war verschlossen wie ein Tresor.

Schließlich drang ich in ihn. Ich drohte, ich flehte, ich bettelte, ich machte ihm Szenen, ich demütigte mich. Es war so, als wäre er gar nicht mehr da. Oder als wäre ich nicht da. Als würde ich zu einer Wand sprechen. Ich wusste, dass er litt wie ein Tier. Ich wollte ihm hel­fen, ich liebte ihn und ich fühlte, dass meine Liebe stark genug war, um ihn zu heilen. Aber er stieß mich zurück. Er kam und ging, einfach so, als ginge ihn nichts mehr wirklich an. Er handelte wie eine mechanische Puppe. Er versah seinen Dienst, aber seine Seele war tot …«

Lucille verstummte. Sie versank völlig in ihre eigenen Gedanken, biss sich mit einem wei­ßen Eckzahn auf die Unterlippe, als wollte sie sich selbst verletzen. Ihre Fingernägel malten Kringel auf das Tischtuch, eine Bildersprache, die nur sie selbst entziffern konnte.

Schließlich straffte sie die Schultern und blickte wieder auf.

»Es hat keinen Zweck, wenn ich hier einen Roman abliefere«, sagte sie rau. »Es wäre sowieso mehr eine Groschenheftgeschichte. Außerdem sind es nur Worte … niemand kann wirklich ausdrücken, was es bedeutet, wenn man derart zurückgewiesen wird. Wenn man einem anderen alles schenken will, was man hat und was man ist und wird dann zurückgesto­ßen und in den Augen des anderen ist nichts, keine Reaktion – polierter Marmor. Schließlich begann ich ihn zu hassen. Ja, das war das Ende. Ich weiß nicht, ob er es spürte. Ich selbst belog mich eine Weile, ich wollte nicht wahrhaben, dass ich versagte und dass ich dazu noch Liebe in Hass verwandelt hatte. Im Grunde war ich froh, als er sich umbrachte. Er war schon vorher tot, es machte keinen Unterschied. Ich weiß nicht, ob ich eine Möglichkeit brauchte, um meine Trauer zu verdecken … jedenfalls fielen mir plötzlich Ungereimtheiten auf, ich meine Ungereimtheiten in dem, was offizielle Stellen über Pierre sagten … na ja.«

Mit einer resignierenden Geste strich sich Lucille eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wieder kaute sie an ihrer Lippe und starrte intensiv vor sich hin, als stünde auf dem Tisch irgendein Satz, der ihr Klarheit geben würde. Es schien so, als hätte sie ihre Erzählung been­det und Tony Tanner bemerkte, dass er während der ganzen Zeit völlig verkrampft gesessen hatte und dass ihm nun die Schenkel schmerzten.

Aber Lucille hatte noch nicht geendet. Sie holte tief Luft und sprach leise weiter.

»Es gab einen Brief für mich. Sozusagen sein Abschiedsbrief. Es gab Leute, die verhin­dern wollten, dass ich diesen Schriebs in die Hände bekam. Ich sage Schriebs, und so emp­fand ich es auch. Als ich ihn schließlich las, war ich enttäuscht. Es waren nur dürre Worte, nichts Persönliches. Auf der Schreibmaschine geschrieben, und unten hatte er seinen vollen Namen daruntergesetzt, als wäre das ein amtliches Schreiben. Ich war nur wütend und habe den ganzen Tag nur geweint. Dann habe ich mich betrunken und ein halbes Jahr lang mit jedem und jeder geschlafen, der nur irgend Lust darauf hatte. Ich sage das nur, um zu erklä­ren, ich welchem Zustand ich war. Dann zerdepperte ich morgens den Badezimmerspiegel in irgendeiner Absteige, dann hing ich stundenlang über dem Klosett und erbrach Schlaftabletten, die ich genommen hatte. Nun ja, das Seltsame war, dass ich irgendwie trotz­dem noch attraktiv aussah und das nutzte ich dann, um weiter zu suchen, was mit Pierre geschehen war. Pierre selbst hatte nur erwähnt, dass er sich schämte, den in ihn gesetzten Anforderungen nicht gerecht geworden zu sein.«

Lucille knüllte das Tischtuch vor ihrem Platz zusammen. Ihre Handknöchel waren schnee­weiß.

»Man muss sich das vorstellen – er schämte sich, weil er Gewissensbisse hatte. Er gehör­te zu den Besten der Besten und nun quälte ihn so etwas Kleinbürgerliches wie Gewissensbisse.«

Ihr Kopf sank nach vorne, ihre Schultern zuckten unter einem Gefühl, das Wut, Trauer, aber vielleicht auch ein sarkastisches Lachen sein konnte.

Dorkas war es schließlich, der sich ausgiebig räusperte und dann die entscheidende Frage stellte.

»Warum hatte er Gewissensbisse?«

»Er schoss ein Flugzeug ab.«

Durch die folgende Stille war deutlich das Scharren der Absätze vernehmbar, als sich Steele aus seiner lässigen Haltung, die er bisher eingenommen hatte, aufrecht hinsetzte. Es hatte ihn durchzuckt wie ein Stromschlag.

»Was – war das für ein Flugzeug?«, stieß er hervor.

»Eine Passagiermaschine … ein Linienflug, der von Palermo abging. Er wusste es nicht. Man hatte ihm etwas von einer Alarmübung erzählt. Er hatte wohl geglaubt, er würde mit einer entschärften Rakete ein spezielles Zielflugzeug angreifen. Später erfuhr er die Wahrheit aus der Zeitung oder vielmehr er ahnte sie wohl nur und stellte Mont-Alban zur Rede. Mont-Alban war sein Kommandant zu dieser Zeit. Es scheint so, dass ihm Mont-Alban die blanke Wahrheit gesagt hat. Eine Frage der nationalen Sicherheit, Abwägung von Nutzen und Schaden, die anderen Opfer als bedauernswerte, aber unvermeidbare Kollateralschäden – die­ser ganze verlogene Kram wird uns doch tagtäglich in den Medien serviert. Ja, und Pierre schaffte es nicht, den richtigen Blickwinkel einzunehmen. Er schaffte es nicht, über ein paar jämmerliche zweibeinige Kollateralschäden hinwegzukommen und das war ihm so enorm peinlich, dass er sich umbrachte. Friede seiner Asche.«

Steele verbarg das Gesicht in den Händen. Jeder schwieg. Ein Beobachter hätte geglaubt, in ein Wachsfigurenkabinett zu schauen.

 

Endlich ließ Steele die Hände fallen. Wenn er gekonnt hätte, wäre er ewig in der milden Dunkelheit hinter seinen Handflächen geblieben. Gedanken rasten durch seine Kopf, über­schlugen sich, verschwanden. Welche Absurdität, zu dieser Zeit und an diesem Ort eine Wahrheit zu erfahren, hinter der er selbst vergeblich hergejagt war. Immer hatte sich Steele schuldig gefühlt, weil er seine Familie nicht schützen konnte. Und nun kam eine andere Schuld, ein anderes Versagen. Er überließ seine Hände der Schwerkraft, als gehörten sie ihm nicht mehr. Schwer schlugen sie auf den Tisch.

»Ich hatte Sie im Verdacht, immer noch, bis jetzt«, sagte Steele.

»Was???« Tony Tanner zuckte zusammen. Er hatte Lucille angeschaut und erst jetzt, als sie den Kopf gehoben hatte und ihn anblickte und Tony sich plötzlich wie eine Fliege im Spinnennetz im Treffpunkt aller Blicke fand, erkannte er, dass Steele zu ihm gesprochen hatte.

»Sie hatten den Flug gebucht, und Sie waren als einziger Passagier nicht an Bord gewe­sen«, sagte Steele.

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte Tony Tanner verwirrt. Natürlich hatte er das gewusst. Aber es gewann eine völlig andere Bedeutung.

»Erinnern Sie sich nicht?«, mischte sich unvermutet der Conte ein. Seine Stimme klang wieder erstaunlich frisch.

Tony rieb sich die Stirn. Seine Verwirrung nahm immer mehr zu. Plötzlich schien er Angeklagter zu sein. Er registrierte, dass ihn Lucille offen anschaute und versuchte, ihren Blick zu deuten.

»Äh, ich hatte die Sache irgendwie schon vergessen. Ich war damals in Palermo und soll­te eine Einweihung vorbereiten … richtig, irgendein Herzog sollte die neue British Library an der Universität einweihen. Ich glaube, ich war drei Tage da, Routinekram plus ein bisschen Sicherheitsgedöns, weil man Ärger mit der Mafia fürchtete. Ich gab die Bedenken an den MI 5 weiter, damit sich deren Experten darum kümmerten. Dann flog ich zurück.«

»Aber nicht mit der gebuchten Maschine«, stieß Steele hervor.

Tony stemmte die Ellenbogen auf den Tisch und raufte sich das Haar. »Stimmt, aus irgendeinem blöden Grund verpasste ich die Maschine. Ist mir sonst nie passiert. Ich weiß nicht mehr genau, was damals genau geschehen ist – ist schon seltsam, so vergesslich bin ich doch sonst nicht. Ich weiß, dass die Sache ziemlich kurios war. Einer dieser Tage, an denen man – na ja, an denen alles schiefgeht. Es gab irgendwelche Anrufe, die mich aufhielten und dann hatte der Taxifahrer einen Motorschaden und sein Funkgerät war im Eimer und er konn­te keinen Ersatzwagen rufen …«

Langsam richtete sich Tony Tanner auf.

»Soll das jetzt heißen«, fragte er den Conte – obwohl Tony in diesem Moment nur zu sich selbst zu sprechen schien – »soll das heißen, dass diese Maschine meinetwegen, ich meine, dass man mich … und dass diese Geschichte mit dem Taxi und den Anrufen und der Verspätung, dass … dass … irgendwer mich …?«

»Die Antwort hatten Sie schon lange, mein Freund. Jetzt haben Sie endlich die Frage zu dieser Antwort gestellt«, antwortete der Conte di Saloviva ruhig und freundlich.

Tony kamen neue Zweifel. Jetzt fingen hier wohl alle nacheinander an zu beichten. Und doch – diese Absolution durch den Conte nahm eine kleine Last von ihm, und so war Tony Tanner gar nicht undankbar, obwohl es ihn verwirrte. Aber sein Gefühl, dass nunmehr eine Tür aufgestoßen worden war, gab ihm endlich die Hoffnung, nun an die bitter entbehrten Erklärungen herankommen zu können.

 

Die schmerzhaft helle Fläche, die durch Tony Tanners verquollene Augenlider schimmer­te, entpuppte sich nach einer Weile als die Decke seines Zimmers.

Tony hätte die Erkenntnis sicherlich mehr genossen, wenn sie nicht in Begleitung einiger Bergleute gekommen wäre, die in diesem Moment in seinem Schädel Sprengungen vornah­men, um den Abraum seines Restgehirns fortzuschaffen. Stöhnend drehte Tony den Kopf zur Seite. Die Positionsänderung brachte keine Erleichterung, stattdessen kitzelte der weiche Flor des Teppichs in seiner Nase. Aber auch diese ihm ansonsten fremde Erfahrung hatte für Tony Tanner ihr Gutes, denn auf diese Weise wurde er sich erstmalig an diesem Morgen über seine geografische Lage innerhalb des Zimmers klar.

Tony lag mit dem Rücken auf dem Teppich, die Unterschenkel hatte er auf einen Sessel gelegt. Diese weltraumbewährte Position hatte ihm über die Nacht geholfen, jetzt allerdings wurden ihm ihre Nebenwirkungen bewusst. Sein Nacken war hart wie ein implantiertes Stück Eichenholz, seine Gliedmaßen waren eingeschlafen und begannen sich nun mit Ameisenkribbeln zurückzumelden.

Nach mehreren Anläufen schaffte es Tony Tanner, die Beine herunter vom Sessel und neben den Restkorpus auf den Teppich zu hieven. Als Reaktion begannen die Schädelbergleute sein Resthirn mit schwerem Gerät zu bearbeiten. Der Rest-Tony hatte immerhin noch so viel Einblick in die Natur seiner Situation, dass er sich über eines klar war: Er war selbst nur noch ein Rest.

Mühsam und unter akustischen Hervorbringungen, die für ein ganzes Altenheim gereicht hätte, gewann Tony die Senkrechte.

Dann musste er sich erst einmal an der Sessellehne festklammern, als stünde er bei Seegang auf einem Deck und darauf warten, dass sich sein Kreislauf langsam ebenfalls in die Senkrechte arbeitete und die Sterne vor seinen Augen verschwanden.

Irgendeine astronomische Katastrophe musste passiert sein, jedenfalls hatte sich der Helligkeitsgrad der Sonne gegenüber dem Vortag bedeutend verstärkt. Mit zusammengeknif­fenen Augen tastete sich Tony über den Balkon. Auf dem Tisch erwarteten ihn eine silberne Schale mit Aspirintabletten, einige Flaschen Mineralwasser und Röhrchen, in dem sich Mineralstofftabletten befanden. Tony war zu matt, um sich über eine derartig fürsorgliche Gastlichkeit zu freuen, wenn sie auch mehr als bewunderungswürdig war. Er ließ sich in den Sessel fallen und begann systematisch, seinen Flüssigkeitsverlust der letzten Nacht auszuglei­chen.

 

Nach einigen Aspirin und nachdem er die Flaschen mit dem Mineralwasser geleert hatte, fühlte er sich stark genug, um den Weg ins Bad anzutreten.

Im Zimmer stieß er an eine Flasche, die klirrend zur Seite rollte und klirrend – und fürch­terlich laut – gegen eine andere Flasche schepperte.

Das Klirren leerer Flaschen, in denen ein exklusiver und sehr schwerer Rotwein gewesen war, stand in ursächlichem Zusammenhang mit Tonys Zustand. Eine ausführliche kalte Dusche, eine lang währende Körperwäsche und dazu Aftershave in beträchtlichen Mengen, gaben Tony das Gefühl zurück, lebendig zu sein.

Die Apokalypse in seinem Kopf hatte sich zu einem normalen gutbürgerlichen Hammer-Kater gewandelt. Und damit zu einer Strafe, die Tony gerne akzeptierte. Als Anlass zur Besserung sozusagen.

Lästig war nur, dass seine Hände so sehr zitterten, dass er fünfmal ansetzen musste, bis der Krawattenknoten saß. Das war absoluter Negativrekord.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ Tony, der gerade auf dem Weg zurück auf den Balkon war, abdrehen.

Zuerst glaubte er an einen dummen Scherz, weil niemand draußen stand. Dann erst beug­te Tony den schmerzenden Nacken und sah den weißen kahlen, mit einigen Haaren bedeck­ten Schädel von Benevoglio.

»Ich hatte gehört, dass es dir nicht so gut ginge«, sagte Benevoglio entschuldigend und sah Tony besorgt aus seinen großen blauen Augen an. »Darum wollte ich dich einfach mal besu­chen. Ich hoffe, es ist nicht aufdringlich …«

»Keineswegs. Ich freue mich«, antwortete Tony und übertrieb nicht. Er reichte Benevoglio den Arm, und gemeinsam gingen sie zu der Sitzgruppe. Wegen seines riesigen Buckels konn­te Benevoglio sich allerdings nichts richtig setzen und musste in einer ziemlich lächerlich-neckischen Haltung am Rand des Sessels hocken.

»Sag mal«, fragte Tony. »Habe ich mir heute zu viel Aftershave gegönnt? Ich fürchte, meine Nase funktioniert nicht richtig.«

Benevoglio steckte die Nasenlöcher schnüffelnd in die Höhe. Dann bildete sich auf sei­nem Gesicht die hässliche Fratze, von der Tony inzwischen wusste, dass sie ein Lächeln andeutete.

»Ich fürchte, Du hast tatsächlich etwas reichhaltig aufgetragen. Es riecht hier ein wenig so, wie beim Abschlussball einer Tanzschule. Du weißt, wenn sich die Jungen in ihre neuen Anzüge quetschen und die Mädchen mit weltmännischen Qualitäten beeindrucken wollen.«

»Ja danke, ich kann es mir ungefähr vorstellen«, murmelte Tony halb verdrossen und halb verschämt.

»Macht doch nichts«, munterte ihn Benevoglio auf. »Das verfliegt schnell. Und ich habe auch eine empfindliche Nase, also ist es wohl gar nicht so schlimm.«

Sein Blick fiel auf die beiden leeren Weinflaschen, die immer noch auf dem Boden lagen.

»Ich habe mir gestern die Kante gegeben. Ich hatte das dringende Bedürfnis nach einem Vollrausch.«

»Was hast Du dir gegeben?«, fragte Benevoglio besorgt.

»Die Kante. Ist so ein Ausdruck dafür, dass man sich zuschüttet … ich meine, dass man sich betrinkt. Pillbury hat den Ausdruck immer verwendet. Er ist ein Kenner auf diesem Gebiet. Pillbury unterschied noch zwischen Kante, Vollkante und Voll-Endkante.«

»Pillbury ist ein Freund?«

Tonys Ja kam ohne Zögern.

»Du hättest ihn gerne bei dir gehabt um … dir die volle Endkante zu geben, stimmt’s?«

Tony nickte und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Tatsächlich, Pillbury hatte ihm gestern wirklich gefehlt. Pillbury mit seiner vulgären, so wundervoll erd- oder besser asphaltverbundenen Cockneylebensweisheit.

Weißt du, Alter, hätte Pillbury an diesem Morgen zu ihm gesagt, solange du keinen Kater im Schniedel hast, ist alles halb so schlimm. Auf deine Rübe kannst du locker ein paar Tage verzichten, aber das andere …

Aus irgendwelchen Gründen kam Tony just in diesem Moment Lucille Chaudieu in den Sinn. Er war sicher, dass sie abgereist war. Wahrscheinlich zusammen mit Steele … Ja, sagte sich Tony, so gehen Dinge zu Ende, die nicht mal angefangen haben.

»Ich fürchte, ich bin kein guter Kamerad, wenn sich jemand betrinken will«, bekannte Benevoglio etwas kläglich. Dann strahlten seine blauen Augen und er schaute Tony liebevoll an. »Aber wir können ja üben. Zuerst nur ein kleines Glas. Ich gewöhne mich vielleicht daran.«

»Ich weiß deinen guten Willen zu schätzen.« Tony rieb sich lächelnd den Nacken. »Aber solche Alkoholorgien sind bei mir eher die Ausnahme. Gestern war einfach ein bisschen zu viel für meiner Mutter Sohn. Als ich das letzte Mal derart betrunken war, war ich gerade zwanzig, glaube ich. Eine Abschlussfeier. Hinterher habe ich stundenlang die Kloschüssel stu­diert und mir geschworen, nie zum Alkoholiker zu werden. Pillbury sagt: Am großen weißen Telefon mit Gott sprechen: Goooott, Goooott. Apropos Kloschüssel: Dein Tipp mit Mademoiselle war übrigens ein totaler Griff ins Klo, wenn ich das hier mal in ungeschönter Form zum Besten geben darf.«

»Oh.« Benevoglio verzog das Gesicht. In diesem Fall war sich Tony nicht sicher, ob es ein Lächeln oder eine Art Stirnrunzeln andeuten sollte.

»Vielleicht hast du etwas falsch gemacht. Oder ich habe mich wirklich getäuscht. Frauen sind fürchterlich kompliziert, glaube ich. Ich bin froh, dass ich mit ihnen nichts zu tun habe. Außer beruflich, meine ich. Ich habe auch nicht so besonders viel Erfahrung, wie du dir den­ken kannst. Außer mit den Nonnen in dem Waisenhaus, wo ich zwischendurch war.«

Benevoglio überlegte einen Moment, dann nahm seine ungesunde Hautfarbe eine dunk­lere Tönung an.

»Verstehe mich bitte nicht falsch, das mit der Erfahrung habe ich natürlich nur so … also, ich meine natürlich nicht, dass ich …«

 

Tony hielt es für angebracht, einen raschen Themenwechsel vorzunehmen, obwohl ihm eigentlich eine Menge von Fragen nach Maddalena auf der Zunge lagen. Zudem hatte er selbst wenig Lust auf ein tiefschürfendes Männergespräch über den weiblichen Teil der Menschheit im Allgemeinen oder Maddalena oder Lucille Chaudieu im Besonderen. Zudem hatte er auch Angst, den Kleinen mit seinen Fragen auszunutzen.

»Wie geht es dem Conte?«, fragte Tony daher und versuchte, möglichst unbefangen drein­zuschauen.

»Bestens, bestens. Er begann schon sehr früh, mit dem Herrn Dorkas im Saal des Pendels zu arbeiten. Vorher besuchte er mich in der Bibliothek und erkundigte sich nach meinen Fortschritten.«

Damit rutschte Benevoglio von der Sesselkante.

»Ich muss jetzt aber wieder an die Arbeit. Der Conte scheint sie tatsächlich für wichtig zu halten. Vielleicht wollte er ja nur nett zu mir sein, aber ich habe das Gefühl, dass er es wirk­lich ernst meinte. Ich werde nämlich heute mit dem ersten Teil der Übersetzung fertig. Das ist so eine Art Schlüssel, mit dem man das restlichen Buch sehr schnell verstehen kann. Ich kann bin selbst ganz gespannt.«

Tony half Benevoglio zur Tür. Der kurze Weg strengte den Buckligen merklich an. Trotzdem lehnte Benevoglio jede weitere Hilfe ab.

»Wir sehen uns heute Nachmittag, ja? Vergiss es bitte nicht!«, sagte er zum Abschied.

Tony sah ihm nach, wie er den Flur zur Treppe entlangging, mit der einen Hand als Stütze an der Wand entlangschleifend und mit kleinen angestrengten Schritten. Der Besuch bei Tony, dass erkannte der jetzt in aller Deutlichkeit, bedeutete für Benevoglio eine körperliche Qual. Und trotzdem war es Benevoglio das wert gewesen …

Der tiefen Rührung folgte bei Tony sehr schnell eine weniger erhabene, dafür drängende­re Empfindung. Sein Magen verlangte herrisch und unter lautem Knurren nach einer Füllung. Tony bestellte sich ein entsprechendes Frühstück und kurz darauf kam vom Balkon her der verlockende Duft gebratenen Specks. Ein Klopfen an der Tür hinderte Tony, sich sofort auf das Essen zu stürzen. Sein erster Gedanke war Maddalena, und dafür schämte er sich sofort.

Für einen Moment überlegte er, ob er das Klopfen nicht besser überhören sollte. Dann obsiegte seine gute Kinderstube, er schluckte das Wasser, das ihm inzwischen schon im Munde zusammengelaufen war, herunter, ertrank fast daran und öffnete die Tür.

»Du hast schon mal intelligenter ausgesehen«, sagte Lucille Chaudieu.

»Vermutlich nicht in deiner Anwesenheit.«

»Mm«, Lucille senkte den Kopf und warf Tony einen Blick zu. »Vermutlich hätte ich erst Guten Morgen sagen sollen oder so was. Darf ich trotzdem reinkommen?«

»Du darfst«, entschied Tony mit großmütigem Timbre. »Aber mal was ganz anderes, sagt man Stewardessen, den französischen zumal, nicht eine ganz ausgesuchte Zuvorkommenheit nach?«

»Zu Recht. Aber ich bin nicht im Dienst.«

Lucille schaute sich interessiert in dem Zimmer um. Dann krauste sie ihr entzückendes Näschen.

»Ich mag dein Aftershave. Ich wusste nur nicht, dass man es in Zehnliterkanistern kaufen kann.«

Es war ja nicht so, dass Tony Tanner grundsätzlich zu einer passenden Antwort unfähig gewesen wäre. Aber in seiner persönlichen Geruchsempfindung stand zurzeit die Herznote Rührei mit Speck so weit oben, dass er Lucille diesen Punkt kampflos überließ.

»Auf dem Balkon ist frische Luft und was für einen knurrenden Magen«, sagte er daher nur. Auf dem Weg zu seinem Traumziel trat Tony gegen die beiden Flaschen, die er immer noch nicht weggeräumt hatte.

»Vorsicht, hier liegen Flaschen.«

»Ich hatte mit gedacht, dass in diesem Raum viele Flaschen herumliegen«, antwortete Lucille versonnen.

Sie betrat hinter Tony den Balkon und nahm am Tisch Platz. Erst als sie sich schon gesetzt hatte, riss sich Tony für eine Sekunde von der begeisterten Betrachtung des reichlichen Frühstücksangebotes los und deutete mit einer beiläufigen Bewegung an, sie möge doch bitte Platz nehmen.

Lucille war verärgert. Mehr über sich, als über ihn. Sie hatte die Sache mal wieder ver­siebt. Eigentlich wäre es Tonys Pflicht gewesen, die Tatsache ihres Besuches als eine überir­dische Gnade anzusehen und sich entsprechend zu verhalten. Stattdessen trug er sich mit den deutlichen Folgen einer durchsoffenen Nacht herum, roch aufdringlich wie ein Zuhälter und beglotzte den Teller mit Rührei mit einer Begeisterung, mit der sich ansonsten schlimmsten­falls notgeile Sekundaner die Pornohefte ihrer älteren Brüder anschauen. Nun gut, sagte sich Lucille, Tony Tanner war ein Mann und daher von Geburt an nur vermindert zurechnungsfä­hig. Sie konnte mit derartigen Exemplaren umgehen. Aber dieser Kerl mit seinem zer­knautschten Charme brachte sie immer wieder auf die Palme und machte es ihr unmöglich, ihre spitze Zunge im Zaum zu halten. Er hatte eine für Lucille Chaudieu geradezu unanstän­dige Mischung aus Weltläufigkeit und rührender Hilflosigkeit, wie er durch sein Zimmer taperte und gegen leere Flaschen dengelte. So eine Art von Teddybär, zu dem man Sir sagen muss.

Obwohl Lucille normalerweise äußerst schnell dachte, hatte Tony Tanner am Ende dieser ihrer Überlegungen schon die erste Brotscheibe mitsamt Rührei und Speck vertilgt. Nach die­ser Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse war er auch wieder der Lage, sich seinem schönen Gast zu widmen.

»Möchtest Du vielleicht auch etwas …?«, fragte Tony also höflich.

»Nein danke, ich habe schon vor einigen Stunden gefrühstückt. Ich bin heute spät aufge­standen.«

»Ein Tee vielleicht?«

»Nein danke.«

»Ein Glas Orangensaft?«

»Nein danke.«

»Tja … ähm …«

 

Eine längere Pause trat ein.

»Du willst doch nicht etwa diese Würstchen mit Senf zum Frühstück essen?«, erkundigte sich Lucille nach einer Weile.

Tony war zu beschäftigt, mit einem kleinen Löffel die exakt berechnete Menge Senf auf das abgeschnittene Wurststück zu träufeln, dass er nicht aufblicken konnte. Dann stopfte er sich beides genussvoll in den Mund, kaute mit glänzenden Augen und lauschte mit seinen Geschmacksnerven förmlich dem schon geschluckten Bissen hinterher.

»Doch, hatte ich vor.«

Lucille rückte ein wenig im Sessel und schlug ein Bein über das andere. Im Sonnenlicht, das in diesem Moment durch eine Wolke brach, schimmerte ihre Haut wie Seide.

»Ich bin eigentlich gekommen«, begann Lucille zögernd, unterbrach dann, weil sie irgend­etwas an ihrem Sandalenriemen richten musste, wobei der Saum ihres roten Rockes ein wenig über die Knie nach oben rutschte und die zarte Haut ihrer Oberschenkel freilegte, »um mich … nun ja, ich war gestern nicht allzu fair zu dir. Ich meine die Sache, dass ich unser Gespräch all den anderen weitererzählt habe. Das war mies von mir.«

Vorbei an zwei Gipfeln von Rührei, die sich aus der Toastebene in den Himmel wuchte­ten und von todesmutigen Speckstückchen erstiegen wurden, peilte Tony in Richtung Lucille.

»Wir alle haben unsere schwachen Phase«, wusste er beizutragen, bevor er die Landschaft in seiner Hand durch einen kräftigen Biss entscheidend veränderte.

»Es war nicht das. Weißt du, ich habe mich mit der Sache seit Langem herumgequält, ich habe sie verdrängt. Aber irgendwie kann eine Frau wie ich das nicht für alle Ewigkeit. Und jetzt, ich meine gestern Abend, da musste es eben raus. Als du gesagt hast, wir wären alle Versager und dich als erstes Beispiel nanntest, da wurde mir klar, wie es mit meinem Leben aussieht. Ich bin sicher, wenn Steele oder Little oder der putzige Dorkas damit angefangen hätte, dann wäre mir die Sache … am verlängerten Rücken entlanggegangen. Aber, als du über dein Leben sprachst, Tony …

Ein Rührei-Sturz nahm Tony Tanners Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Er rettete die Situation mit weltmännischer Routine und griff zur Serviette, um sich seine bekleckerten Finger zu säubern. Im Hintergrund seiner Aufmerksamkeit bemerkte er das Gesicht von Lucille Chaudieu. Ihre großen dunklen Augen waren auf ihn gerichtet, sie strömten Wärme aus und mehr als das und sie hätten ihn zweifelsohne interessiert, wenn er nicht vor der Frage gestanden hätte, ob er nicht doch noch diese würzige Tomatensoße mit einem weiteren Würstchen kosten sollte.

»Du warst so ehrlich, so illusionslos und doch so tapfer. Das … das hat mich schwer beein­druckt, Tony und überhaupt, muss ich dir sagen …«

»Kannst Du mir bitte mal die Schale mit der Tomatensoße reichen? Danke.«

»Du kannst mir glauben, dass ich nicht wirklich so ruppig sein will. Na ja, es ist einfach eine Art von Unsicherheit, weiß du. Mit Dorkas kann ich mich ganz locker unterhalten, er ist ja auch sehr nett und irgendwie absolut witzig, aber wenn wir, ich meine du und ich, dann …«

»Klasse, ein kleines scharfes Ding.«

»Wie bitte?« Lucille befürchtete, dass jetzt die Konfrontation mit Maddalena käme.

»Hier sind Pepperoni drin. In der Soße. Absolut scharfe Dinger.«

»Ja, toll. Ganz toll.«

Daraufhin schwieg Lucille und betrachtete mit abgewandtem Gesicht den Garten. Ihre Arme hatte sie wie gestern Abend um den Oberkörper geschlungen wie einen Schutzschild. »Soll ich dir eine Decke besorgen«, fragte Tony nach einer Weile und in etwa fünftausend Kalorien später.

»Nein, wieso?«

»Ich dachte, du hättest gefröstelt.«

»So, dachtest du? Es ist eigentlich recht angenehm warm.«

»Verzeihung, ich wollte dir nicht zu nahe treten.« Tony hielt sich die Hand vor den Mund und demonstrierte, dass man auch einen kleinen Rülpser zur Demonstration höchster Kultiviertheit nutzen kann.

Lucille stand auf.

»Danke für dein Verständnis«, sagte sie trocken und stand auf. »Ich gehe also davon aus, dass du mir wegen gestern nicht weiter böse bist?«

»War ich sowieso nicht.«

»Aha. Ja dann …«

»Tut mir leid, wenn ich etwas unaufmerksam war«, entschuldigte sich Tony. »Ich hatte einfach einen Heißhunger. So was kommt wohl von dem Alkohol.«

»Du meinst von deinem, wie sagt man, Betrinken?«

»Exzess! Exzess ist das richtige Wort. Man kann auch Vollkante sagen.«

»Dann hat dich die ganze Sache gestern Abend wohl ziemlich mitgenommen?«

In Tony Tanners Hinterkopf begann eine Alarmglocke zu schrillen. Das Frühstück mach­te sich in seinem Magen breit wie der gute Onkel Joe im Plüschsessel und verbreitete Behaglichkeit. Jetzt hatte Tony keine Bohrmannschaft mehr im Kopf und keinen neanderta­lerischen Heißhunger mehr. Es blieb Zeit für die feineren Sentiments, und in diesem Zusammenhang fiel ihm ein, dass Lucille durchaus sein plötzliches Interesse für Maddalena bemerkt haben musste, die ihn mindestens ebenso verwirrt hatte wie der Blick hinter die Türen seiner Zukunft. Er fühlte in diesem Moment, dass Lucille hier war, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen, und das ehrte und rührte ihn.

Fortsetzung folgt …