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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.13

Wo die Erde blutet – Teil 13

Tony war das nur recht.

Und so kam er gerade in dem Moment in die Wohnung, in dem George Peak-Maude tropf­nass dem Badezimmer entstieg.

»Ich hoffe, Sie haben sich in der Zwischenzeit nicht gelangweilt?«, erkundigte sich Peak-Maude demütig. Davon, dass seine Gebete fast erhört worden waren, hatte er nichts mitbe­kommen.

Tony starrte George Peak-Maude überrascht an. Die Haare des Mannes schlappten in nas­sen Strähnen auf die Schultern herab. Auch der rotblau karierte Flanellpyjama war nass und klebte am Körper seines Trägers, was äußerst unvorteilhafte Einblicke auf dessen Leibesbeschaffenheit erlaubte.

Peak-Maude bemerkte den erstaunten Blick.

»Ich dusche immer mit Kleidung«, erklärte er. »Das gibt doppelten Nutzen und spart Energie und Material. Äußerste Sparsamkeit ist das Gebot der Stunde. Nur Geiz macht uns unabhängig vom industriell-medialen Komplex.«

»Industriell-medialer Komplex?«, wiederholte Tony Tanner zögernd.

Peak-Maudes missionarischer Eifer war geweckt.

»Wieso sprechen Sie ein Fragezeichen? Natürlich, das sind die Leute, die uns beherrschen. Früher war es vielleicht der industriell-militärische Komplex, aber das ist Schnee vom ver­gangenen Jahr. Heute bringt ein Dauerlutscher, den man überall auf der Welt kariesgeplagten Blagen verscherbeln kann, mehr Knete als ein Staatsauftrag für hundert Kampfjets. Und der Staatsauftrag kommt sowieso. Weil das alles eine Frage von Einfluss ist. Geld ist gar nicht die Frage. Was kümmert diese Leute im Hintergrund Geld? Ha? Sie sind es doch selbst, die das Geld drucken. Das Geld, das wir für ihren überflüssigen Kram ausgeben, haben uns diese Leute doch vorher erst gegeben. Nein, was wichtig ist, ist der Einfluss. Und der kommt durch Dauerlutscher oder durch Fraß für Köter und Katzen, den man sorgfältig in Aluminium ver­packt und mit Vitaminen aufgemotzt hat. Und natürlich mit diesem und jenem, das die blö­den Viecher süchtig macht.« Peak-Maude schnorkste verächtlich.

»Das ist überhaupt in allem drin. Sie glauben, wir reden hier über Marketing, damit man den Konsumdeppen so richtig in ihre hohle Rübe hämmert, was sie zu essen, zu kaufen, wel­che Musik sie zu hören und welche Klamotten sie zu tragen haben, weil irgendeine Schwuchtel von Filmstar angeblich dasselbe frisst, kauft, hört und trägt? Scheiße Mann, wir reden nicht über Marketing. Wir reden über den industriell-medialen Komplex. Über die Leute, die die Bilder beherrschen und die Dinge, die auf den Bildern abgebildet sind.«

George Peak-Maude wollte zu einem weiteren Erklärungsschwall ansetzen, verschluckte sich aber am eigenen Speichel und brach in bellendes Husten aus. Wellen von Erschütterungen liefen schwabbelnd durch seinen Körper, sein Kopf lief so rot an, dass es selbst bei dem Dämmerlicht im Raum gefährlich aussah.

 

Dorkas fasste sich ein Herz, legte sein Paket auf den einzigen vorhandenen Stuhl und begann, beidhändig auf den Rücken von Peak-Maude zu klopfen. Es klatschte ungefähr so, als würde in einer großen Halle ein nasser Karpfen geohrfeigt.

Peak-Maude glaubte, dass jetzt seine letzte Stunde geschlagen hatte und vermeinte die Hände von Dorkas wie Messer in sein Inneres fahren. Jäh verfiel er in eine Starre und war von seinem Hustenanfall geheilt. Einen Moment lang glaubten die anderen, der dicke Internet-Spezialist sei erstickt, aber er schniefte demütig und in Erwartung des Todesstoßes. Dorkas begriff das, beugte sich zu George Peak-Maude herab und versicherte ihm, bei ihnen sei er so sicher wie in Abrahams Schoß und habe rein gar nichts zu befürchten. Peak-Maude glaubte ihm sofort. Nicht nur deshalb, weil man gute Nachrichten nur allzu rasch und gern glaubt, sondern auch weil er Vertrauen zu Dorkas gefunden hatte: Ein so dicker Mensch konnte ein­fach nicht schlecht sein. Also erholte er sich rasch von seinem Schrecken und holte tief Luft, um möglichst bald – natürlich jetzt aus lauter dienstfertiger Dankbarkeit für sein geschenktes Leben – weiterzuplappern.

Um einer weiteren Erläuterung der weltweiten Verschwörungsgespinste zuvorzukommen, fragte Tony Tanner, ob er sich im Bad die Hände sauber machen könne. Zum Beweis seiner lauteren Absichten zeigte er seine verschmutzten Finger.

»Bitte«, antwortete Peak-Maude. »Aber seien Sie sparsam mit der Seife und lassen Sie nur das Wasser laufen, wenn Sie Ihre Hände auch wirklich unter dem Strahl haben. Glauben Sie mir, der Verzicht auf die Wohltaten des industriell-medialen Komplexes ist für die heutige Zeit die wahre subversive Tätigkeit. Das ist die wahre Guerilla. Meinen Sie vielleicht, ich könnte nicht auch ohne Klamotten duschen? Doch, könnte ich, habe ich gelernt. Aber ich tue es nicht, weil nur …«

»Vielen Dank«, sagte Tony und entschwand ins Bad.

Er kümmerte sich einen feuchten Dreck um die Anweisungen seines Gastgebers. Peak-Maude lagerte zwar viele Behälter, in denen einmal Waschmittel gewesen waren, zurzeit hatte aber ein schon ziemlich abgemagertes Stück Kernseife das absolute Monopol im Bad.

Tony betrachtete die Seife misstrauisch und stellte sich vor, wie sich George Peak-Maude, im rotblau karierten Flanellpyjama unter der Dusche stehend, damit in einem Gang Haare, Korpus und Kleidung säuberte. Natürlich putzte sich Peak-Maude damit auch die Zähne und nutzte die Seifenlauge als Mundwasser. Schon bei dem bloßen Gedanken bemerkte Tony einen bitteren Geschmack in seinem Mund.

 

Sorgfältig wusch er sich die Hände und wechselte gedanklich das Thema. Hatte er alles richtig gemacht? Er hatte. Sicherlich hatte er. Na klar, guter Junge, Tony!

Nachdem er die beiden Pistolen sorgfältig von allen Fingerabdrücken gereinigt hatte, hatte er sie vergraben und einen alten Kühlschrank über die Stelle gekippt.

Unter der schalen Zufriedenheit lauerte etwas anderes. Tony betrachtete seine Fingernägel, unter denen schwarze Schmutzränder schimmerten. Natürlich hatte George Peak-Maude, der Kenner aller Verschwörungen, seit ein jüdischer Obsthändler und ein isla­mistisches Reptil die ersten Menschen um ihre Immobilie gebracht hatten, keine verdammte Nagelbürste in seinem beschissenen Badezimmer.

Mit einem resignierenden Prusten begann Tony, sich mühsam die Fingernägel mit den Fingernägeln zu reinigen. Der Versuch musste im Ansatz scheitern, aber Tony Tanner war es sich schuldig, ihn gemacht zu haben.

Er rammte sich schmerzhaft den zu lang geratenen Fingernagel in das Fleisch, fuhr zischend auf und lief im Bad hin und her. Langsam, und trotz dieses scharfen Schmerzes, fiel die Erregung der letzten Minuten von ihm ab.

Seine Stimmung bröckelte wie schadhafter Lack. Er stand zwar immer noch in diesem Badezimmer – und er hatte den Wasserhahn so weit aufgedreht, wie er konnte – aber erst jetzt sickerten die Bilder und Geschehnisse in sein Bewusstsein. Jetzt gab es nicht mehr diese Schutzdecke aus Adrenalin, an der alles abprallte. Jetzt kam es wirklich und stellte sich vor ihn und sagte Du, ich bin das, was geschehen ist – und jetzt werde mit mir fertig!

Plötzlich waren der Schmerz in seinem Finger und das Pochen in seinem rechten Arm, das sich wieder einstellte, geradezu wohltuend. Es lenkte ihn ab, es war seine Entschuldigung ­Tut mir höchstgradigst leid, Erinnerung, aber ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern, Du verstehst, mein Arm tut ja soooooo weh, also bis irgendwann dann einmal, tschüssi.

Aber die Methode versagte. Egal was Tony Tanner dachte, was er sich sagte, was er sah, es schob sich ein Gesicht in sein Bewusstsein. Er erinnerte sich an den Kerl, den er vorhin kurz auf der Treppe gesehen hatte, nachdem Steele ihn kalt gemacht hatte und ihn für einen Moment mit seiner Maglite anleuchtete. Ein kalkweißes Männergesicht mit weit aufgerisse­nen Totenaugen, die sich starr und blicklos in eine andere Welt richteten, mit einer Stirn, in der ein kleines, von dunkel krustigem Blut umkränztes Loch war, und aus dem Loch war ein Blutfaden über die Stirn gelaufen, an der Nasenwurzel entlang und über die Wange und hatte sich in dem unrasierten Kinn verloren, und der Mund des Mannes stand offen, entließ einen stummen Schrei, der glasklar und glashart im Bewusstsein des Betrachters erklang und end­los nachhallte. Der Tote fletschte die Zähne, zugleich wütend und hilflos, biss förmlich in die lebendige Wirklichkeit, aus der er gewaltsam gerissen worden war.

Die Zähne … Tony Tanner porkelte wieder unter seinem Daumennagel … die Zähne … Ja, sie schienen seltsam spitz zu sein, raubtierartig, wölfisch, so als wären sie künstlich abge­schliffen worden. Bestimmt hatte er nicht richtig hingeschaut. Bestimmt erinnerte er sich falsch. Endlich – dieses lästige Stückchen Dreck löste sich, und zumindest der linke Daumennagel sah einigermaßen zivilisiert aus.

Wie bitte? Was sagt diese lästige Stimme im Hinterkopf? Na gut, er hatte sich nicht geirrt, die blöden Zähne waren ungewöhnlich spitz, aber, bei allen Teufeln, es gab genug Freaks in der Themsemetropole, die sich ihre Beißerchen abschleifen ließen, weil sie das cool oder was­weiß-ich-auch-immer fanden. Schön, können wir jetzt bitte zum nächsten Punkt übergehen, warum sollte er sich so lange mit dem Beißwerkzeug eines Unbekannten aufhalten, dessen einzige Beziehung zu ihm, Tony Tanner, darin bestand, dass Ersterer Letzteren umbringen wollte?

Trotzdem, die Vorstellung ließ Tony nicht los. Er sollte Dorkas davon in Kenntnis setzen. Aber, wenn es etwas gab, wovon man Dorkas in Kenntnis setzen sollte, dann durfte es nicht normal, nicht gewöhnlich, nicht natürlich, nicht gesund sein.

Tony Tanner schluckte. Unwillkürlich begann er zu zittern. Wahrhaftig, dieser Tote hatte versucht, ihn umzubringen.

 

Für einen Moment lag Tony wieder auf dem Treppenabsatz, versuchte in der Dunkelheit zu verschwinden und kam sich doch vor, als würde er wie ein Turm in die Luft ragen, wäh­rend die Kugeln über ihn hinwegjaulten und er auf den Treffer wartete, auf den Aufprall, den jähen Moment des Schmerzes, die unwiderlegliche Erkenntnis, dass es nun passiert war, den Beweis, dass es nun zu Ende ging, und so wie er dort auf dem muffigen Linoleum lag, hatte er förmlich gespürt, wie sich die Kugel durch sein Fleisch fraß, wenn in diesem Augenblick noch nicht, dann doch im nächsten und im nächsten und im nächsten …

Es war nicht leicht, sich dieser Tatsache zu stellen: Wertes Über-Ich, zwar ist es mir nicht neu, dass jemand den kleinen Tony Tanner in eine bessere, wenn auch weithin geheimnisvol­le Welt schicken will, aber ich werde mich wohl nie dran gewöhnen, sorry, man verzeihe mir diese sozial illusionäre Marotte, schließlich kann ich nicht jedem, dem ich begegne, zuerst die Frage stellen, ob er zufälligerweise zu denen gehört, die mich umlegen wollen. Oder vielleicht wäre es einfacher, im Gegenteil zu fragen, ob er zu der winzigen Minderheit gehört, die sel­biges nicht im Sinn hat.

Tony hörte seine eigene murmelnde Stimme und verstummte. So langsam wirst Du tütte­lig, alter Knabe, dachte er und sorgte dafür, dass er es wirklich nur dachte. Apropos alter Knabe – der Kerl, der ihm aus dem Spiegel entgegenschaute, zeigte deutliche Abnutzungsspuren. Das aufregende Leben eines Superhelden hinterließ erste Knitter im hol­den Antlitz des Tony Tanner. Nach dieser Feststellung drängte sich ein anderer Gedanke auf, nein, eher eine Vorstellung, nein, eher eine Filmszene, in der abwechselnd Francine oder Lucille Chaudieu ihn entsetzt anstarrten, dann verlegen lächelten und ihm damit jenseits aller Zweifel zu verstehen gaben, dass er als alter Bock bei ihnen verschissen hatte, und zwar bis zur nächsten Eiszeit …

Jetzt war aber Schluss! Tony Tanner steckte den Kopf unter den munter sprudelnden Wasserhahn und ließ sich die lauwarme Flüssigkeit über die Schläfen rinnen. Bitte nicht jetzt auch noch so eine Bin ich schön für dich?-Kiste. Verdammter Weiberkram. Tony Tanner, reiß dich gefälligst am Riemen! Oder sollte er vielleicht wie eine alternde Tunte zu Dorkas wackeln und ihm sagen: Ich steige aus, die ganze Sache schadet meinem Teint?

Nein, das konnte er nicht. Er konnte nicht aussteigen. Männer von der Mafia konnten aussteigen. Aber nicht er. Er war in dieser Geschichte drin wie ein Schmutzlappen in der Vollwäsche.

Und wenn sich diese Geschichte auch zu einem tumorösen Albtraum auswucherte, zu einem unerklärten Krieg, dann änderte dies nichts daran, dass der Schmutzlappen Tony Tanner irgendwann auch noch das Schleudern mit hoher Drehzahl zu überstehen hatte.

Soweit das tägliche Abjammern, sagte er sich und bemühte sich um ein sarkastisches Grinsen.

Frisch auf, Tony, kümmere dich um die Fakten!

Ja, die Fakten. Da war etwas, das ihn störte. Steele hatte von fünf Gegnern gesprochen, Tony selbst hatte zwei Mode-Idioten auf den Heimweg geschickt. Aber Little hatte acht Gegner erwähnt. Und fünf plus zwei waren immer noch …

 

Der Lärm, der durch die Tür drang, machte jede weitere Rechnung überflüssig.

Während Tony Tanner sich im Badezimmer aufhielt, zeigte George Peak-Maude zuneh­mende Zeichen von Nervosität. Er begann hin- und herzuschlurfen, lauschte auf das bestän­dige Rauschen des fließenden Wassers und brach schließlich in Hüsteln aus, mit dem er Dorkas und Little auf die skandalöse Verschwendung aufmerksam zu machen gedachte, die in diesen Sekunden stattfand.

»Ruhe bitte!« Dorkas machte eine ungeduldige Handbewegung und unterbrach abrupt das Peak-Maudsche Öko-Räuspern. Alle drei lauschten. Unter dem Rauschen der Ventilatoren und dem Rattern der Festplatten war ein Rascheln zu hören.

Jemand lief durch die Fußbodenbedeckung aus Chipstüten. Steele, dachte Dorkas und erstarrte vor Furcht. Denn der Gedanke war nichts als ein ungedeckter Scheck auf eine Hoffnung. Aber Steele würde nie derart heranrauschen. Nicht so hastig, nicht so hektisch, nicht so …

Ein furchtsamer Blick zu Little … aber Little zeigte ein beruhigendes Lächeln, und so ent­spannte sich auch Dorkas wieder.

Es gab keine Gefahr. Little hörte das Summen der Alltäglichkeit, er schloss die Augen und sah einen sonnenbeschienenen Garten, in dem die Vöglein zwitscherten.

Durch die Tür rannte eine untersetzte Gestalt, ein kleines, seltsam hoppelndes Etwas, und stürzte sich auf den Stuhl.

Bevor einer der drei überhaupt die Situation erfassen konnte, hatte die Gestalt nach dem Paket gegriffen und es an sich gerissen.

Danach wollte der freche Dieb abdrehen und aus dem Zimmer fliehen. Er hatte das Gewicht seiner Beute jedoch unterschätzt, stand nun wankend, die Finger um das Paket gekrallt und stieß ein wütendes Zischen aus.

Lalles Gesicht war zur absurden Fratze verzerrt, aus seinem Mund quollen Laute, die trotz ihrer Unverständlichkeit als Flüche erkennbar waren, sodass es allen kalt den Rücken herab­rieselte.

Der Zwerg reichte allen anderen Anwesenden kaum zum Gürtel, aber seine kochende Wut machte ihn unangreifbarer als einen Kampfhund im Hühnerhof.

»Das gehört mir«, sagte Dorkas mit geradezu rührender Hilflosigkeit und sah, dass er dabei den Finger aufgehoben hatte wie ein Pennäler im dritten Schuljahr. Ein kehliges Zischen bildete die Antwort. Lalle funkelte Dorkas bitterböse an und stakste dann zur Tür. Eingehüllt in den roten Mantel seiner Wut und seiner Gier wusste er sich sicher.

Währenddessen lehnte Little an der Wand, glotzte mit hängendem Kiefer auf das Geschehen und knetete nervös seine Hosennähte. Eine Veränderung ging in ihm vor.

Da das Wesen dieser Veränderung zur Erklärung der nun zu schildernden Aktionen und Reaktionen notwendig ist, sei an dieser Stelle ein kurzer Exkurs erlaubt.

Das Drama von John/Jake/Boo Little.

1. Akt, 1. Szene, 1. Aufzug

John Little sitzt in der Mitte eines kahlen Raumes an einem Tisch, den Kopf in die Hände gestützt.

John: »Oh schnöde Welt, voll Wirrnis und Verwitterung, geknüpft aus tausend Fäden, spinnenfein, verzauberst mich durch falsches Sein und wahren Schein wirfst tief mich in die Hölle der Verbitterung. Gelähmt bin ich, ein schwankend Schiff, umtost von grauser Brandung allerwärts, dass mir die Furcht mit Totenfingern greift, ans Herz denn führerlos treib ich zum Felsenriff!«

Auftritt Jake Little

Jake: »Jo, Mann, hier komme ich, der Großpedant. Jo, Mann, du hast nichts mehr im Griff, du fährst die Sache an die Wand. Lass mich, ich kenn jeden Kniff, ich nehm’ die Sache in die Klauen.«

Auftritt Boo Little

Boo: »Wenn ich vielleicht auch noch mal was sa…«

John und Jake (gemeinsam): »Verschwinde, du stinkst.«

Abtritt Boo Little

John: »Was willst du denn hier, du Erbsenzähler?«

Jake: »Bleib locker, Mann. Der Zwerg hat dich gelinkt, Mann, gibs doch zu!«

John: »Kann doch vorkommen. Das ist noch lange kein Grund, dich hier blicken zu lassen.«

Jake: »Darf ich mal kurz und heftig lachen? Pass auf Kumpel, du stehst doch nur herum wie ein Hampelmann auf Speed.«

John: »Bitte keine Unverschämtheiten!«

Jake: »Nicht ablenken, Alter. Du hast deinen Spaß gehabt! Jetzt gehe ich mal auf Sendung!«

Auftritt Boo Little

Boo: »Wenn ich vielleicht auch noch mal was sa…«

John und Jake (gemeinsam): »Geh dir ein Ei backen, wir brauchen Ruhe!«

Abtritt Boo Little

John: »Ich kenne dich doch. Einmal am Ruder gibst du doch nur wieder den Obermacker! Und ich sitze wieder in meiner Kammer und muss Terror machen, damit du mich rauslässt!«

Jake: »Mann, Alter, du bist ja so was von nachtragend! Du warst doch derjenige, der hier den Brandstifter gespielt hat. Wenn’s nach mir gegangen wäre, dann wäre unser gemeinsames Leben sowieso anders gelaufen.«

John: »Jaja. Bloß nicht wieder diese Leier!

Jake: »Hab ich recht oder hab ich recht?«

Auftritt Boo Little

Boo: »Wenn ich vielleicht auch noch mal was sa…«

John und Jake (gemeinsam): »Verpiss dich!«

Abtritt Boo Little

Jake: »Lass uns einfach wie vernünftige Leute darüber reden. Wir haben doch beide dazuge­lernt.«

John: »Haben wir?«

Jake: »Komm, sei kein Stiesel, Alter! Hey, wir haben beide unsere Defizite und unsere Fähigkeiten. Gemeinsam sind wir stark.«

John: »Und Du sperrst mich nicht wieder in diese enge Kammer, wenn ich dich jetzt ranlasse?«

Jake: »Versprochen. Hier meine Hand und meine Umarmung, Bruder.«

John und Jake umarmen sich.

Vorhang.

Nach einer kurzen Pause tritt Boo vor den Vorhang.

Boo: »Ist hier vielleicht zufällig ein Delfin im Saal?«

Ende des Exkurses

Als Ergebnis seiner innerwärtigen Umpolung schnappte sich Little blitzartig den Stuhl, erfasste die Lehne, setzte den Fuß von hinten an die Sitzfläche, gab Druck – und ließ den Stuhl los. Bevor noch George Peak-Maude seinem Protest Ausdruck verleihen konnte, schoss der Stuhl vorwärts, traf den Zwerg und warf ihn um.

»Touché!«, rief Little.

Dorkas sorgte für das erfolgreiche Ende des dramatischen Kampfes, indem er sich kurzer­hand auf den Rücken des Zwerges setzte. Lalle strampelte mit den Beinen und fuchtelte mit den Armen, war aber trotz aller Anstrengungen wie am Boden festgeschweißt. Dorkas ergriff sein Paket, untersuchte es kurz, und nahm es dann väterlich in beide Arme.

Tony Tanner und Steele tauchten gleichzeitig auf.

»Sie haben das Wasser aber …«, begann Peak-Maude maulend und verstummte dann unter dem eiskalten Blick Steeles.

Der half Dorkas in die Höhe. Sofort unternahm Lalle einen weiteren Fluchtversuch, der ebenso vergeblich war, weil Steele ihm die Beine unter dem Leib wegtrat. Dann schnappte er sich den Zwerg und hob ihm am Kragen hoch.

Am ausgestreckten Arm hing Lalle wie an einem Kranhaken, strampelte, schlug um sich und kreischte lauthals.

 

Steele betrachtete sein Opfer eine Weile. Dann sagte er knapp: »Gehen wir!«

Er klemmte sich den Zwerg unter den Arm und verließ die Wohnung. Die anderen folgten ihm.

Auf der Straße legte Steele eine Hand um den Hals seines wie am Spieß brüllenden Opfers und drückte zu. Lalles Strampeln steigerte sich zu infernalischer Wut, in einem letzten Aufbäumen schlug er um sich, bleckte die Zähne und zischte Speichel spuckend wie eine gereizte Kobra. Dann wurden seine Glieder schlaff und ein glasiger Hauch bedeckte seine Augen. Aber er hielt wenigstens die Klappe, so dachte jedenfalls Little, in dem sich jetzt ein Wesenszug namens Mitleid mit einem anderen namens Triumph kabbelte.

Genau dieses Klappehalten hatte Steele mit eiskalter Gelassenheit abgewartet. Er setzte den Zwerg ab und wartete, bis mit den ersten röchelnden Atemzügen dessen Bewusstsein schrittweise wiederkam.

Langsam beugte sich Steele herab. Der Zwerg starrte in das Gesicht des Mannes und begann mit leisem Winseln rückwärts zu rutschen.

»Pass auf, du ganz übler Charakter«, flüsterte Steele. »Egal, wer dich geschickt hat – sag deinem Boss, dass er uns in Ruhe lassen soll, sonst bekommt er exakt dieselbe Kurpackung, die seine Leute bekommen haben. Kannst du ihm das mitteilen, bitte?«

Lalle sprang wortlos auf und begann, anfangs etwas torkelig, die Straße hinab zu rennen. Mit seinen hoppelnden Bewegungen wirkte er wie ein Spielzeug aus einem Horrorfilm.

Steele wandte sich an George Peak-Maude, der eben staunend auf die Straße trat.

»Was ist?«

»Ich hatte nicht gedacht, dass es dunkel ist«, antwortete Peak-Maude. »Ich war der Meinung, wir hätten zwei Uhr Mittag und es wäre Winter …, und, äh, was riecht hier so?«

»Frische Luft, vermute ich. Sie waren lange nicht mehr draußen …«

»Seit Jahren. Ich wollte kein Risiko eingehen.«

»Genau dieses Risiko werden Sie aber eingehen, wenn Sie hier bleiben«, beendete Steele die Unterhaltung.

Nachdem Peak-Maude die Einschüsse an den Flurwänden gesehen hatte, bedurfte es kei­ner weiteren Überredungskunst, um ihn zum Umzug zu bewegen.

Mit einem Blick auf die Uhr entschied Steele, dass noch genügend Zeit blieb, Peak-Maude in einer seiner Wohnungen unterzubringen.

Der eigentliche Umzug bestand dann darin, einige Anschlüsse auszustöpseln, Rechner und Monitore zu schultern und einen Stuhl die Treppe hinaufzutragen.

Als alles verstaut war, zuckte Peak-Maude plötzlich zusammen.

»Mein Gott, das hätte ich fast vergessen«, rief er aus und patschte barfuß noch einmal zurück in seine Wohnung.

 

Als er kurz darauf wieder zurückkam, beulte ein merklich geschrumpftes Stück Kernseife die Tasche seines rotblau karierten und immer noch feuchten Pyjamas aus.

»Werden sich Ihre Mitbewohner nicht wundern, wenn Sie plötzlich verschwunden sind?«, fragte Tony.

»Mitbewohner?« Peak-Maude schüttelte den Kopf. »In dieser Bude wohnt nur noch ein uraltes Ehepaar, das ab und zu Besuch von seinen Enkeln bekommt. Denen ist alles egal.«

Diese Beurteilung deckte sich Tonys eigenen Erfahrungen.

Dorkas umklammerte sein Paket und drehte den Kopf, als George Peak-Maudes Ex-Behausung langsam hinter ihnen verschwand. Der gediegene Aufenthaltsraum des Bentley nahm sie auf wie das Foyer eines exklusiven Hotels und verbreitete die beruhigende Gewissheit, dass die böse Welt vor den schallisolierten Scheiben bleiben musste.

»Mich wundert, dass es hier keinen Aufruhr gegeben hat. Schließlich waren wir doch ein wenig laut, zumindest für diese Nachtzeit, meine ich.«

»In dieser Gegend gibt es vermutlich diese oder jene Jugendgang«, antwortete Steele auf Dorkas Bemerkung. »Die Leute haben gemerkt, dass es besser ist, bei manchen Geräuschen die Decke über die Ohren zu ziehen und auf Durchzug zu schalten.«

»Wie praktisch!«

»Praktisch?«, mischte sich George Peak-Maude vor Empörung schnaubend ein. Er thron­te wie ein Buddha zwischen Dorkas und Little auf dem Rücksitz.

 

Tony wunderte sich ein wenig über Steeles Gelassenheit, mit der er akzeptierte, dass der ebenso feuchte wie breite Hintern von George Peak-Maude das Conolly-Sitzleder des Bentley ruinierte.

»Ein deutliches Zeichen für den Zusammenbruch des Systems«, fauchte Peak-Maude. »Wahrscheinlich ist die gesamte Bewohnerschaft durch Gehirnwäsche beeinflusst. Dieses ganze Popmusikgedudel ist doch nichts anderes als akustische Überdeckung infrabewusster Botschaften. Haben Sie schon mal eine Platte langsam abgespielt? Haben Sie nicht, na gut, aber angenommen, Sie hätten. Da kann man eine Ahnung davon bekommen, was alles an manipulativer Einredung drinsteckt. Aber das kann man ja heute nicht mehr. Gibt ja nur noch CDs. Seltsamer Zufall, was? Zu viele Leute spielen ihre Rock ‘n Roll-Scheiben mit niedriger Geschwindigkeit ab und erkennen, dass der CIA in diesem Gegrunze Befehle versteckt hat, die uns alle zu willenlosen Zombies machen. Und genau in diesem Moment schmeißt der industriell-mediale Komplex die erste CD auf den Markt. Wissen Sie eigentlich, dass jeder CD-Spieler mindestens zehnmal so viel kosten müsste, wie er im Geschäft kostet? Das ist eine Tatsache. Ich habe die Berechnung im Internet gefunden. Stellt sich die Frage, wer die Differenz bezahlt.« Es folgte eine Kunstpause.

George Peak-Maude sah sich auffordernd um und wartete auf die Frage, wer die Differenz bezahlt. Da diese so naheliegende Frage aus unerklärlichen Gründen nicht gestellt wurde, gab er die Antwort selbst.

»Rockwell, MacDonnell-Douglas, der CIA und der NSA. Weil nämlich die Hersteller der CD-Player entweder den großen Rüstungslieferanten gehören oder weil die Waffenbauer dem CIA die Knete geben und die reichen sie weiter. Nicht zu vergessen der DEA. Warum wohl werden die USA mit Drogen überschwemmt, obwohl doch die Jungs vom DEA alle techni­schen Möglichkeiten haben? Na, wer es weiß, darf sich melden! Richtig geraten, weil Washington gar nicht will, dass der Zufluss an Drogen abreißt. Jeder Schwarze und jeder Latino, der sich den goldenen Schuss setzt, wird doch von der Regierung bejubelt. Ein Problem weniger! Und woher kommen alle die Drogen? Vom DEA selbst. Die Regierung in Washington ist der größte Dealer im eigenen Land, so ist das. Der DEA schnappt den Koks-Kartellen den Stoff weg und verscherbelt ihn selbst. Und mit dem Gewinn werden die CD-Spieler billiger gemacht. Und weil jeder Depp schon einen CD-Spieler hat, kommt jetzt der Boom der DVDs. Die doppelte Manipulation durch Ton und Bild. Sagt Ihnen der Begriff MC Ultra etwas?«

 

Peak-Maude wartete das müde Kopfschütteln seiner Zuhörer nicht einmal ab, bevor er fortfuhr.

»MC Ultra, das bedeutet Mind Control Ultra. Ein Programm der CIA, mit dem versucht wurde, Menschen zu willenlosen Werkzeugen zu machen. Ja, ja, Kalter Krieg und die bösen Russen und die Freiheit und die westlichen Werte und all dieser Scheiß – dass ich nicht lache. Ha – ha! Der Kalte Krieg war die blödeste Ausrede von allen, damit der CIA seine Versuche machen konnte. Aber natürlich hat nie jemand geglaubt, dass es den Kalten Krieg wirklich gab. Nichts als eine Riesentäuschung, die Stalin, Churchill und Roosevelt schon damals auf Jalta ausgemacht haben. Aber als dann die Russen an die Geheimdokumente der Nazis kamen, wurden die Amis nervös und wollten nachziehen. Darum MC Ultra. Aber das wurde denen zu heiß. Wohin geht der CIA, wenn ihm eine Sache im eigenen Land zu schmutzig wird? Na klar, er erinnert sich an die privilegierten Beziehungen zu seinem transatlantischen Verbündeten. Hier in London wurde an MC Ultra geforscht, das muss sich mal einer vorstel­len! Angeblich wurden die Forschungen in den 50er Jahren beendet, aber wer’s glaubt, wird selig!«

»Und wer Kartoffeln isst, wird mehlig!« lästerte Tony Tanner mit einem Seitenblick auf Dorkas und Peak-Maude. Damit gelang es ihm jedoch keineswegs, den Redefluss der Internetfreaks zu unterbrechen.

»Oh nein, die haben immer weiter gemacht, immer subtiler, immer effektiver. Und unse­re russischen Exverbündeten und Kalter-Kriegs-Feinde machten auch weiter. Die Russen hat­ten den Vorteil, dass sie die gesamte Abteilung Dreiundzwanzig von der SS schnappen konn­ten. Die Nazis haben sie umgelegt, aber die Dokumente habe sie hübsch behalten und der KGB hat darauf aufgebaut. Wussten Sie, dass der KGB Filmaufnahmen hat von gelungenen Telekinese-Experimenten? Alles hübsch in den Archiven. Das blöde Herdenvieh darf von so was nichts erfahren. Und wenn sie jetzt mit Dokumenten rausrücken, dann zeigt das nur, dass sie sich schon sicher sind, weil nur noch Zombies rumlaufen! Oh ja, die Iwans waren fleißig. Ich sage nur, psychotronischer Generator« … Wer mehr wissen will, der wende sich an Professor Smirnov in Moskau, ich will mir ja nicht das Maul verbrennen. Haben Sie sich eigentlich schon mal Gedanken gemacht, warum unsere werten Politiker bei jedem kleinen Staatsbesuch so viele Lakaien im Schlepptau haben? Das sind alles die Psi-Agenten. Die einen sollen telepathische Befehle an die Politiker der anderen Seite abgeben, und die ande­ren dienen als Schutzschild, damit die telepathischen Befehle der Gegenseite nicht in die Rübe des eigenen Chefs durchdringen können. Außerdem sind die Telepathinnen lustig zu bumsen, die wollen nämlich immer und kriegen sofort einen Superorgasmus, dass sie die ganze Gegend zusammenschreien, das ist bewiesen! Wer glaubt denn wirklich, dass Boris Jelzin ein Säufer war? Keiner. Ein Suffkopp als Chef einer Weltmacht, da lachen ja die Hühner. Natürlich musste die Öffentlichkeit denken, dass Jelzin säuft wie ein Loch, sonst hätte man seine geistigen Aussetzer ja nicht erklären können. Tatsächlich wurde Jelzin ständig mit den neuesten psychotronischen Gerätschaften bestrahlt. Niederfrequente Wellen, hochfre­quente Wellen, Wellenüberschneidungen, schon mal was vom Dscherwonesk-Apparat gehört? Aber Jelzin war ja ein Säufer, da war es ja kein Wunder, wenn der Geist nicht mehr so wollte, hahaha, ich lach mir was, lache ich da, oder ist es nicht so?!

Erinnern Sie sich noch an die Art, wie der russische Präsident ging? Da sah jeder Laie, dass dahinter frequente Wellen steckten. Und, so ein Zufall aber auch, wer beerbt den ollen Jelzin? Putins Wladimir, also cutie Putie, wie unser Wizards lair (Tony Blair) sagen würde, und der war vorher beim Geheimdienst, na, wenn das kein seltsamer Zufall ist, ist es aber nicht. Und Putin fackelt ganz nebenbei Grosny ab und der Westen hält das ansonsten so mora­lische Maul geschlossen und warum bitte schön? Weil Putin dem Westen nämlich seine Technik rübergeschoben hat als Preis dafür, dass unsere westlichen Oberfuzzis ihren guten Freund Wladimir immer noch lieb haben. Was kümmern uns da ein paar Zehntausend Tschetschenen, wo die Muttis da sowieso immer Kopftücher tragen. Und überhaupt … Kopftücher …«

»Wir sind da«, sagte Steele. Es klang, als habe er »Gottseidank sind wir da« gesagt.

»Gott sei Dank«, antworteten Tony, Dorkas und Little.

Eine Viertelstunde später hatten sie George Peak-Maude untergebracht, die Rechner ein­gestöpselt, und Peak-Maude saß wieder auf seinem Stuhl und mampfte Chips.

»Dieser Peak-Maude ist ja ein totaler Spinner«, machte Tony Tanner aus seiner Einschätzung keinen Hehl.

»Sei’s drum«, gab Jeremy Steele zurück. »Er kann uns sehr nützlich sein.«

»Stimmt«, kam es von Dorkas. »Schließlich hat uns Peak-Maude auch etwas Einblick bei der Forza Nobile gestattet.«

»Hört, hört, wir haben ein neues Hobby«, stichelte Tony Tanner. »Wir stehen auf dreimal erschossene holländische Nazis.«

»Viermal erschossen«, berichtigte Dorkas schnell.

»Dann eben viermal, meinetwegen fünfmal. Nazis kann man nicht oft genug erschießen, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«

»So viel zum Thema politische Korrektheit und moralisches Spießertum. Wer sagt Ihnen eigentlich, dass Merlin Hougefeen ein Nazi war, Herr Tanner?«, fragte Dorkas und konnte seine Empörung kaum noch unterdrücken.

»Dieser komische Wisch, den wir uns zu Gemüte geführt haben, war da doch deutlich genug, glaube ich, war es nicht so?«

»Ach, tatsächlich? Darin stand doch, dass Merlin Hougefeen von der SS erschossen wurde.«

»Erstens haben die Leute von der SS ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit beim Metzeln ja offensichtlich keinen Erfolg gehabt, also könnte es ein Trick gewesen sein. Und außerdem gehört es zu einer anständigen Diktatur, ab und zu eigene Leute zu erschießen. Zu eventuellen Nachfragen wenden sie sich an Nicolae Ceaucescu, Enver Hodscha oder Saddam Hussein.«

»Und was wäre, wenn Merlin Hougefeen das nationalsozialistische System nur ausgenutzt hat?«

»Jeder hat das System nur ausgenutzt, sofern er nicht selbst ausgenutzt wurde. Auch das gehört zum Wesen von miesen spießigen Diktaturen. Die einen krepieren im Krieg und im Lager, und die anderen saufen geklauten Schampus, bis sie sich erschießen müssen. Und das gibt’s immer wieder und immer wieder …«

»Sie wollen mich nicht verstehen, Herr Tanner, stimmt’s? Haben Sie sich schon mal Gedanken darüber gemacht, wie oft Attentate auf Hitler verübt worden sind?«

»Warum sollte ich? Ich heiße doch Tony Tanner und nicht Oswald Mosley. Aber er hat oft Glück gehabt, das ist mir schon klar, so war es doch.«

»Er hat teuflisches Glück gehabt, der große Führer der arischen Herrenrasse. Mehr Glück, als für drei Diktatoren ausreichend wäre.«

»Verstehe, irgendeiner hat daran gedreht. Und als Ihr Merlin Hougefeen die Nazis genü­gend ausgenutzt hatte, war Deutschland kaputt, die Russen in Berlin, und Herr Hitler musste sich selbst erschießen, weil es ihm ja keiner vorher abnehmen konnte. Der Peak-Maude-Virus hat Sie befallen, fürchte ich, und das ist, glaube ich, irgendwie unheilbar, ist es nicht?«

Dorkas ließ die Antwort ausfallen und schaute aus dem Fenster. Warum nicht, dachte er. Wenn im Märchen einer in die Hölle reist, um dem Teufel drei goldene Haare zu stehlen, warum soll ein anderer nicht in das Zentrum des rassistischen Wahnsystems reisen und dort eine andere Art von goldenen Haaren stehlen? Aber welche mochten das sein? Und wenn Merlin Hougefeen noch leben sollte, wann war er zur Forza Nobile gestoßen? War er im Auftrag dieser geheimnisvollen Gemeinschaft nach Berlin gegangen? Oder, und dieser Gedanke ließ Dorkas schlucken, hatte er sozusagen die Ideen des rassistischen Reiches in die Forza Nobile übertragen? Nein, das konnte nicht sein. Die Forza Nobile lebte nicht über Jahrhunderte, um einen österreichischen Psychopathen ins Zentrum Preußens zu verpflanzen.

 

Seine Finger zerknitterten das Packpapier um sein Paket. Er gab so viel Dinge, die eben­so unklar wie bedrohlich waren. Und er wusste so verzweifelt wenig. Seine Hoffnungen, mehr über die Forza Nobile zu erfahren, hatten sich jedenfalls vorerst zerschlagen. Mächtig waren sie, das auf jeden Fall. Vielleicht skrupellos. Jedenfalls berechnend. Aber was wollten sie?

»Ich mag diesen Hubschrauber nicht, der uns seit drei Minuten verfolgt«, sagte plötzlich Jeremy Steele und gab Gas. Der Bentley schoss geradezu nach vorn.

Die Beschleunigung presste sie in die Sitze.

Steele warf einen schnellen Blick auf die Uhr, dann wieder in die Rückspiegel und aus dem Seitenfenster.

»Wir sind auf der richtigen Straße, und es ist nur noch eine Minute bis zum angegebenen Zeitpunkt. Und jetzt hängt uns ein Hubschrauber im Nacken. Sollte ich da an Zufälle glau­ben?«

»Pillbury hat uns jedenfalls nicht verraten«, beteuerte Tony Tanner mit Überzeugung. Dorkas pflichtete kopfnickend bei.

»Dann wollen wir hoffen, dass uns Ihr Pillbury beispringt. Denn bei dem Hubschrauber wird es nicht bleiben, schätze ich.«

Tony Tanner beugte sich vor, um im Außenspiegel nach dem Hubschrauber zu linsen. Nichts war zu erkennen. In der leise vibrierenden Fläche des Spiegels huschten blitzschnell Fragmente vorbei, sekundenkurze Bilder des Straßenrandes, von Buschwerk, Bäumen, Grasflächen. Bevor der Blick zufassen konnte, war das Bild vorbeigeflogen, durch ein neues verdrängt. Tony setzte sich auf und rieb sich die Augen. Er war todmüde und sehnte sich nach nichts mehr als nach einem warmen Bett. Aber selbst wenn er jetzt zwischen die Laken schlüpfen könnte, wäre an Schlaf nicht zu denken. Unter seiner Mattigkeit pochte die Nervosität wie eine verborgene Maschine, knisterten die Nerven vor Anspannung, als würden sie von einer entfernten Quelle mit Strom gespeist. Selbst der kurze Moment, in dem Tony die Augen schloss, wurde zur Qual: Verberge dich in der Dunkelheit hinter deinen Lidern und Du wirst deinen Feind nicht erkennen! Oder so ähnlich …

Seufzend wechselte Tony die Sitzposition. Auf die Dauer wurde seinem Hintern auch ein Luxusschlitten wie Steeles Bentley unbequem.

 

Ihre gesamte Lage war paradox. Sie wollten London so schnell wie möglich hinter sich lassen, konnten aber keine der Straßen nehmen, die dazu gebaut waren, um London schnell hinter sich zu lassen. Also quälten sie sich auf Nebenstraßen in nordwestlicher Richtung, hat­ten kurz vor Northwood die Rickmannsworth Road verlassen und fuhren nun auf einer engen, kurvigen, schlecht asphaltierten, dafür aber einsamen Straße weiter.

Die Landschaft beiderseits des Straßenrandes war nur zu erahnen. Der Lichtkegel der voll aufgeblendeten Scheinwerfer schob wie eine Räumschaufel die Dunkelheit zur Seite, ließ Häuserzeilen mit fast dörflichem Charakter erscheinen, die sofort wieder in der Nacht zurück­blieben und hektisch vorbeiwischendem Gebüsch Platz machten. Manchmal schimmerte ein fernes Licht und verstärkte nur noch den Eindruck von Verlassenheit, oder Hinweisschilder wiesen in die Zufahrten von Gärtnereien, Baumschulen, Reithöfen, Landhotels. Es waren Orte für Menschen mit normalen Leben. Nichts für die vier Personen in dem roten Bentley.

Steele schaltete auf Abblendlicht und reduzierte die Geschwindigkeit, als Gegenverkehr auftauchte. Misstrauisch beobachteten sie den alten Vauxhall, der heran- und vorbei- und hin­wegrauschte und als rotes Lichtflackern im Rückspiegel verschwand. Dann waren sie wieder allein oder eben nicht allein, denn der Hubschrauber verfolgte sie weiterhin.

Sie mussten den Autobahnring, der London wie die moderne Abart des mittelalterlichen Burggrabens umgibt, hinter sich lassen. Dann hatten sie die Chance, unbehelligt auf die M6 in Richtung Norden zu gelangen und von dort weiter …

An dieser Stelle stockten Tonys Gedanken. Denn erstens enthielt dieses weiter eine Menge von Unwägbarkeiten, mit denen er sich jetzt nicht abgeben mochte. Und zweitens mussten sie erst einmal so weit kommen.

Eine unerwartet enge Kurve zwang Steele zu einem harten Bremsmanöver. Tony wurde nach vorne geworfen, fand sich in der Gewalt physikalischer Kräfte, die ihn hilflos machten. Sein Sicherheitsgurt blockierte und presste gegen seine Brust, auch als Steele schon wieder beschleunigte. Die Umklammerung nahm ihm den Atem, vor allem wirkte sie wie eine bos­hafte Ermahnung, nur nicht zu glauben, er hätte irgendetwas unter Kontrolle. Heftig zerrte Tony an dem Gurt, verlor alle Gelassenheit, bis sich das Mist-Ding endlich löste und der Druck von seinem Oberkörper verschwand. Es gab tausend Kleinigkeiten, miese Nervereien, die wie Kakerlaken aus allen Ecken krabbelten und nur darauf warteten, ihn an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Ein prüfender Blick zur Seite zeigte Tony, dass Steele nichts bemerkt hatte. Oder es zumindest für angemessen hielt, sich nichts anmerken zu las­sen.

Jetzt sah auch Tony Tanner den Hubschrauber. Genauer, Dorkas sah ihn und klopfte der­art aufgeregt gegen die Seitenscheibe, dass Tonys Kopf herumfuhr und er über hell beleuch­teten Gewächshäusern den schlanken Rumpf mit der haiartig zugespitzten Schnauze erkennen konnte. Der Hubschrauber flog parallel zur Straße, knapp über den Baumwipfeln. Über dem Rumpf wirbelten silbrige Reflexe des Rotors in den regelmäßigen Blitzleuchten. Die Leichtigkeit und Eleganz, mit der ihr Verfolger die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben schien, war niederschmetternd. Sie nahm das Urteil vorweg, bevor es gesprochen war.

»Vielleicht ist es ja ein Sanitätshubschrauber oder ein Passagierflug, der unterwegs zu einer dieser Villen ist, die es hier gibt«, schlug Tony vor, um dieses Gefühl der Unterlegenheit etwas wegzureden.

Zuerst kam von Steele ein verächtliches Grunzen, dann ein Kopfschütteln.

»Der würde nicht so tief fliegen und uns nicht ständig auf der Pelle bleiben. Nein, der meint uns. Aber wir werden einfach den Test machen.«

Bei diesen Worten hatte Steele eine Ausbuchtung am Straßenrand entdeckt. Er setzte eine Gummispur auf den Asphalt, lenkte zur Seite und schaltete das Licht aus. Dann stellte er den Motor ab und fuhr das Seitenfenster herunter. Atemlos lauschten die Männer in die Nacht. Das Rotorengeräusch entfernte sich, wurde leiser, bis es fast verstummte. In der Ferne dröhnte ein Flugzeug, der Motor knackte etwas beim Abkühlen, aber das Hubschraubergeräusch schien verschwunden.

Der erleichterte Seufzer war noch nicht über die Lippen gekommen, als sie wieder erstarr­ten. Das Hämmern der Rotoren erklang wieder und wurde lauter.

»Sie haben gemerkt, dass sie uns verloren haben«, sagte Steele trocken. »Jetzt drehen sie eine Schleife und suchen uns. Und sie werden die Leute am Boden benachrichtigen. Und natürlich wissen sie jetzt, dass wir sie bemerkt haben. Aber vermutlich wussten sie das schon vorher. Und vielleicht war es sogar ihre Absicht.«

»Warum?«

»Um uns nervös zu machen. Psychologische Kriegsführung nennt man so etwas ja wohl. Und sagen Sie bloß nicht, es hätte nicht funktioniert.«

Tony Tanner schaute zur Seite und antwortete nicht.

Pillbury hatte Verspätung. Von irgendwoher musste er jetzt auftauchen.

Was er jedoch nicht tat. Zumindest darüber gab es keine quälenden Zweifel.

Tony schaltet das Funkgerät ein, aber aus dem Lautsprecher prasselten nur knackende Störgeräusche.

»Na schön«, Steele schlug mit der geballten Faust auf das Lenkrad, »gehen wir davon aus, dass sich der geschätzte Pillbury nur verspätet hat, aber noch kommt. Damit können wir leben. Aber wir haben das Problem des Hubschraubers. Er wird vermutlich a) seine Leute hierhin führen und kann b) uns seinerseits belästigen.«

»Ich habe keine Waffen gesehen«, meldete sich Dorkas von der Rückbank.

»Das ist kein Beweis, dass sie nicht existieren. Es wäre wohl auch nicht geschickt, mit Revolverkanonen im Außengehänge über London zu herumzuknattern. Aber die haben Kugelspritzen an Bord, verlassen Sie sich darauf. Also müssen wir den Hubschrauber los wer­den.«

Wie zum Hohn rauschte der Helikopter in diesem Moment über sie hinweg und entfernte sich in die andere Richtung.

 

Das war ihre Chance. Steele startete den Motor und fuhr los. Die Scheinwerfer schaltete er nicht an. Inzwischen hatten sich ihre Augen zwar an die Dunkelheit gewöhnt, und das dif­fuse Licht, das wie grauer Staub von verborgenen Gebäuden und Straßen aufstieg und dem Himmel seine Färbung gab, war ausreichend, um die Straße als matt schimmerndes Band zu erkennen. Dennoch legte Steele ein Tempo vor, bei dem Tonys Handflächen binnen Kurzem einem Feuchtbiotop glichen.

Steele änderte seinen Fahrstil, er trat das Bremspedal, bis das ABS pulsierte und er beschleunigte, dass der Motor alle vornehme Zurückhaltung verlor und aufbrüllte wie ein Stier. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass sie in der Klemme steckten, dann war es diese eckige, hektische Fahrweise. Trotzdem vermittelte Steele seinerseits keineswegs den Eindruck der Nervosität. Wenn er wieder einmal in letzter Sekunde den Weg durch eine Kurve gefunden hatte und die Motorhaube beim Beschleunigen wie die Nase eines startenden Jets hochstieg, hielt er das Lenkrad lässig mit Zeige- und Mittelfinger der einen Hand und legte die andere auf den Wählhebel der Automatik.

Tony erkannte die Biegungen viel später als Steele, eigentlich erst dann, wenn dieser schon längst reagiert hatte. Tony kam sich vor wie in einer dieser hässlichen Achterbahnen, die durch einen dunklen Tunnel fahren. Er wischte sich die verschwitzten Handflächen am Jackett ab und nahm sich vor, aus praktischen Gründen demnächst nur noch Frottee-Klamotten zu tragen.

Ihre Straße wirkte inzwischen so, als wäre sie für die Abteilung Merry old England von Disney-World erschaffen worden. Eng und kurvig wand sie sich zwischen begrünten Böschungen, stieg unvermittelt an, um nach einer Kuppe in einer Senke zu verschwinden, aus der sie in einer Kurve zur nächsten Kuppe führte. Das alles war kreativ mit einem wechseln­den Straßenbelag verbunden, in dem sich Schlaglöcher mit uraltem Pflaster abwechselten, die man wiederum über neuen, allerdings recht glatten Asphalt erreichte.

Selbst ein Wendemanöver musste auf der engen Straße zu einem langwierigen Rangieren ausarten.

Wendemanöver, fragte sich Tony Tanner, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Wendemanöver? Warum, es gab für sie alle doch kein Zurück.

Die Straße führte einmal mehr aus einer Senke auf eine Kuppe zu. Selbst Steele wurde überrascht.

Sie erreichten die Kuppe – und sahen in gleißende Helligkeit.

 

Ein Lastzug rollte mit aufgeblendeter Lichtleiste durch eine Senke auf sie zu.

Bremsen und die Scheinwerfer einzuschalten, war für Steele eine Aktion. Nach einer Schrecksekunde, in der sich die beiden Fahrzeuge wieder einige Dutzend Meter näher kamen, reagierte auch der andere Fahrer. Das Führerhaus senkte sich bei der Vollbremsung, die Lichtkegel der Scheinwerfer kippten nach vorne weg. Das Jaulen der Bremsen kam näher, steigerte sich bis zum infernalischen Heulen.

Die Stoßstange des Lastwagens berührte fast die Motorhaube des Bentley, als der Lastwagen endlich zum Stehen kam. Mit dem Schnaufen der Luftdruckbremse hob sich das Führerhaus wieder aus der Federung und erfüllte den Bentley mit schmerzhafter Helligkeit. Durch das Nageln des Lkw-Diesels klang der erleichterte Seufzer von mindestens drei Insassen.

Steele legte den Wahlhebel auf R und ließ den Bentley nach hinten rollen. Um aneinan­der vorbeizukommen, brauchten beide Fahrzeuge Raum zum Rangieren. Und selbst dann würde es schwierig werden.

Der Fahrer des Lastwagens hatte sich inzwischen von seinem Schreck erholt, und es ver­langte ihn nach einer Beruhigungsphase durch wüste Beschimpfen seines Gegenparts. Zumindest war die Art, wie der Fahrer Licht im Führerhaus machte, die Handbremse anzog, die Tür aufstieß und sich anschließend langsam aus der Kabine abließ, eine eindeutige Ouvertüre zu etwas, was eine dramatische Oper zu werden versprach.

Dorkas sackte merklich in sich zusammen und stand kurz davor, zwischen die Sitze zu rut­schen. Und auch Little war beeindruckt, denn er vernahm die Impulse des Zorns, die von die­sem Mann ausgingen.

Tony achtete nicht darauf, dass sein Puls immer noch oberhalb der medizinisch erlaubten Maximalgrenze lag, und schaltete auf seinen verbindlichsten Gesichtsausdruck um. Er hatte allerdings nur eine stark beschränkte Aussicht auf Erfolg seiner diplomatischen Charmeoffensive, denn so wie der Trucker mit abgespreizten Armen auf sie zuwalzte, hätte selbst ein debiler Neandertaler erkannt, dass nunmehr Kloppe angesagt war.

Es bedurfte schon eines Hubschraubers mit tackernden Maschinenwaffen, um die Aggressionsabsichten des Lkw-Fahrers zugunsten des Überlebensinstinktes umzulenken.

Keiner, nicht einmal Steele, hatte in den letzten Sekunden daran gedacht, dass sie wie ein Leuchtturm in der Dunkelheit wirken mussten. Nur ein Feuerwerk wäre noch etwas auffälli­ger gewesen.

Kurz: Es war eine Einladung. Und die Regeln des Spieles besagten, dass Einladungen nicht ausgeschlagen werden durften.

 

Der Helikopter kam schräg von der Seite, sprang hinter den Wipfeln einer Baumreihe her­vor und begann im Anflug zu feuern. Für einen Augenblick war nur das Aufblitzen der Abschüsse erkennbar. Drei, vier Streifen von Leuchtspurmunition kratzten durch die Dunkelheit, das Führerhaus des Lkw wurde durch Einschüsse geschüttelt, die Frontscheibe wurde für eine Sekunde matt, zerbröselte und stürzte dann als Kaskade kleiner Glasteilchen auf die Straße. Dann hämmerte das Rotorengeräusch auf sie ein, der Hubschrauber wischte unmittelbar über sie hinweg und legte sich über der anderen Straßenseite in eine Kurve.

Der Lkw-Fahrer, der fest glaubte, der Angriff gelte ihm, weil diesen Nobel-Bentley-Idioten irgendwer zu Hilfe kam, war inzwischen schon verschwunden, eine längst nicht mehr aggressive Gestalt, die mit paddelnden Bewegungen, als ginge sie durch hüfthohes Wasser, das Weite suchte.

Selbst Jeremiah Steele verlor die Nerven. Er erstarrte einen Herzschlag lang, griff als Nächstes in die Ablage seiner Tür, sprang aus dem Wagen und rannte auf den Lastzug zu.

Tony konnte nicht erkennen, was Steele dort machte. Er wollte selbst aus dem Wagen hinaus, um Steele zurückzuholen, zögerte dann aber, vielmehr war vor Schreck gelähmt, denn der Hubschrauber beendet nun seine elegante Kurve und schwenkte direkt über der Straße zu einem neuen und diesmal vermutlich effektiveren Angriff ein.

»Raus aus der Karre, ich hole Steele«, schrie Tony Tanner und stieß die Wagentür auf.

Bevor er sich klar wurde, dass dafür gar keine Zeit mehr blieb, bevor er sich aus seiner Starre losreißen konnte, bevor Dorkas und Little seine Aufforderung überhaupt verstanden hatten, kam Steele wieder hinter dem Lastzug hervorgerannt.

Er griff die offene Fahrertür an und wirbelte sich um sie herum zurück auf seinen Platz. Das geschah so unglaublich schnell, das Tony sich selbst erst zurückfallen lassen konnte, als Steele den Wagen mit offener Tür und quietschender Bereifung in die Rückwärtsbeschleunigung zwang. Instinktiv riss Tony Tanner seine Tür wieder zu.

»Sattelschlepper mit Leichtbenzin«, sagte Steele knapp, und Tony Tanner wurde nun schmerzhaft bewusst, dass Steele endgültig durchgeknallt war.

Eine solche Reaktion schien nur allzu verständlich, pflegt doch der menschliche Geist in ausweglosen Situationen eine Schutzfunktion zu aktivieren, die das nahende Ende durch gnä­digen Wahn überdeckt. Zum Beispiel, wenn ein aus vier aufblitzenden Rohren schießender Hubschrauber frontal auf einen mit vier hilflosen Personen besetzten, rückwärts dahinschlin­gernden Wagen zurast.

Die Einschüsse sprangen im Scheinwerferlicht wie kleine Vulkanausbrüche hoch ­Eruptionen von Staub, Splittern und Steinchen, untermischt mit stiebenden Funken.

Der Motor des Bentley machte deutlich, dass er an die Grenze seiner Drehzahlmöglichkeit angekommen war. Unter der Motorhaube erklang ein Gemisch von zornigem Brüllen und jammervollem Heulen, das sich wie ein Klagelied unter die Kriegstrommeln des Rotors und die Schüsse mischte.

 

Der Wagen schien unter Tony wegzugleiten, die Beschleunigung zog ihm förmlich den Sitz unter den Schenkeln fort, sodass er sich mit den Armen abstützen musste. Für eine Sekunde verspürte der Ärger darüber, dass der … Sicherheitsgurt in DIESEM Fall nicht blo­ckierte, sondern ihn geradezu genüsslich strangulierte, während er immer weiter in den Fußraum abrutschte.

Die Einschüsse rückten näher, fraßen den Abstand zwischen letzter Fontäne und Stoßstange, hasteten wie die Spuren eines Raubtieres hinter ihnen her.

Der Wagen erreichte die letzten Meter vor der Kuppe. Aus, fuhr es Tony Tanner durch den Kopf, als er direkt in das Mündungsfeuer des Hubschraubers blickte. Doch dann dachte er Nanu. Und dann überquerte der Wagen die Kuppe, wurde tief in die Federn gedrückt und hob im nächsten Moment ab. Die Insassen schwebten einen Herzschlag schwerelos, dann setzte der Wagen auf, zugleich trat Steele auf die Bremse. Tony wurde nach hinten geschleu­dert, und da er sich nur wenige Sekunden vorher halb im Fußraum befunden hatte, traf ihn die Sesselkante wie der Tritt eines knochenharten Innenverteidigers und presste ihm ein Stöhnen aus der Lunge.

Nach einigen Metern kam der Bentley am Ende einer kurvigen Gummispur zum Stehen.

Trotz der Dunkelheit wäre diese Spur auch ohne die Scheinwerfer erkennbar gewesen. Die Ursache lag in dem Ereignis, das Tony Tanner zu einem Nanu genötigt hatte.

Primäre Ursache dieses Nanu war der Anblick einer goldfarbenen, gleißenden Wolke, die aus der Mitte der Lastzuges austrat und an ihrem Rand das Fahrerhaus und Teile des Tanks mit nahezu spielerischer Leichtigkeit zur Seite warf.

Als Tony sich nun wieder auf den Beifahrersitz geschoben hatte und nach dem Haltegriff tastete, hatte sich die Explosionswolke zu einem pilzigen rotgoldenen, von dunkleren Flecken bedeckten Etwas gewandelt, das wie ein Ballon hochstieg und dabei zu einer schwarzen Wolke wurde, die in der Höhe zerfaserte.

Obwohl sie hinter der Kuppe Deckung hatten, prasselten nun Trümmerteile auf sie herab wie Hagel. Keiner achtete darauf. Vielmehr starrten sie auf den Hubschrauber, der aus ihrer Perspektive eine halbe Handbreit über der Straßendecke flog.

Die Glutwolke verdeckte den Helikopter nur kurz. Sofort brach die Haifischschnauze durch den Feuerball, glitt dann nach unten weg, als wäre sie in ein Loch gestürzt. Der Rotor tauchte auf, senkrecht in der kochend heißen Luft stehend, schlug wie in rasender Wut Rauchfetzen entzwei und kippte vornüber.

Der Hubschrauber verschwand aus ihrem Blickfeld.

Die Glutwolke der Explosion verglomm, Dunkelheit, durch ein Scheinwerferpaar zer­schnitten, dann grelles Licht, bläulich-weiß, das die Umgebung mit langen, harten Schatten füllte und erneut das ohrenbetäubende Krachen einer Explosion, so gewaltig, dass es lähmend wirkte.

Zischend und heulend stiegen Trümmer in die Höhe, zogen feurige Spuren in den Himmel als wären sie auf der Flucht, direkt über den Wagen fauchte etwas hinweg und schüttelte den gesamten Aufbau, prasselnd explodierte Munition.

»Es ist die heiße Luft«, bemerkte Steele beiläufig. »Die Rotorblätter verlieren schlagartig Auftrieb. Wenn man so nah am Boden fliegt, …« Er schenkte sich den Rest des Satzes.

»Sie haben den Lastwagen gesprengt«, glaubte Dorkas von hinten anmerken zu müssen.

»Streng betrachtet habe ich nur die Handgranaten angebracht«, antwortete Steele. »Eine, um die Sicherheitshülle zu knacken und eine, um das Benzin zu zünden. Und jetzt müssen wir sehen, dass wir irgendwie weiterkommen.«

Steele musste den Wagen über die Böschung fahren. Tony schaute durch das Seitenfenster auf Grashalme und wartete darauf, dass der Wagen umkippen würde. Als er wirklich so weit war, schlug Steele die Räder ein und ließ den Wagen zurück auf die Straße rutschen.

Hinter ihnen blieb ein Haufen verbogener Schrott und qualmendes Gummi umgeben von verbranntem Teer und kokelndem Gras.

 

Der Flug über die Kuppe und der Ritt über die Böschung hatten dem Wagen nicht gut getan. Die Spurstangen hatten vermutlich gelitten, Vibrationen im Lenkrad verstärkten sich bei höherer Geschwindigkeit, bis zu dem Punkt, an dem der Wagen unlenkbar zu werden schien. Zudem ließ sich die Lenkung nur mit brachialer Gewalt aus der Mittelstellung heraus­bewegen. Auf gerader Strecke hätte Steele dieses Manko noch ausgleichen können, aber hier, auf dieser kurvigen Neben-Nebenstraße war er gezwungen, das Tempo stark zu reduzieren. Trotzdem musste er vor jeder Kurve beide Hände an eine Seite des Lenkrads legen und dann ziehen, als würde er das Handrad eines Staudammventils bedienen.

»Ich nehme an«, sagte Tony Tanner nach einigen Minuten, »dass diese vier Lichter da vorn nichts Gutes bedeuten, ist es nicht so?«

»Im Normalfall bedeuten zwei Autos, die auf einer engen Straße nebeneinander in die gleiche Richtung fahren nie etwas Gutes«, bestätigte Steele. »Bestenfalls sind es zwei bescheuerte Halbstarke, die sich ein Rennen liefern.«

Dieser nicht einmal ausführlich zu nennende Wortwechsel war lang genug, um sie an den Punkt Aufprall minus zehn Sekunden zu bringen. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern jagten die beiden Wagen, Seite an Seite, auf den Bentley zu. Tony kniff die Augen zusammen und hielt eine Hand zum Schutz vor das Gesicht. Das Innere des Bentley war in den letzten Sekunden vor dem Aufprall zerschnitten in schmerzhafte Helligkeit und schwarze Schatten. Tony starrte auf seine Handfläche, wartete auf den Zusammenprall, wusste, dass es keinen Ausweg gab, konnte den unvermeidbaren Schlag schon spüren.

Direkt neben ihm knallte es, prallte gegen seine Tür, der Wagen begann zu schlingern. Tony ließ seine Hand sinken. Dort wo der Außenspiegel gewesen war, hingen nur noch eini­ge abgerissene Drähte. Er warf sich auf seinem Sessel herum und schaute durch die Heckscheibe. In diesem Augenblick stellten sich dort hinten zwei Wagen quer, rutschten über die Straße, drehten sich um ihre Hochachse und begannen die Verfolgung.

Steele hatte die Blicke auf den Innenspiegel gerichtet. Auch sein Außenspiegel war abge­rissen, als die anderen Wagen im letzten Moment zur Seite gelenkt und haarscharf am Bentley vorbeigewischt waren. Steele fühlte sich keineswegs als Sieger bei diesem Chicken-Spiel.

Er wäre ausgewichen, aber die beschädigte Lenkung ließ ihm keine andere Wahl, als stur geradeaus zu rasen.

Jetzt holten die beiden Wagen wieder auf. Sie würden als Nächstes versuchen, den Bentley abzudrängen oder zu rammen. Es war ein Spiel ohne viele Varianten. Lediglich die Art der Ausführung machte den Unterschied.

»Nehmen Sie das Steuer auf Ihrer Seite«, befahl Steele.

Tony beugte sich vor und packte ohne große Überzeugung das weiche Leder des Lenkrads. Steele legte beide Hände auf die gegenüberliegende Seite.

»Los, ziehen Sie!«

Der Tonfall duldete keinen Widerspruch, obwohl Tony die Aktion für blanken Wahnsinn hielt. Er zog mit aller Kraft, Steele kontrollierte auf der anderen Seite, und so glitt ihr Wagen wie unabsichtlich an den rechten Straßenrand. Rechts tat sich eine Lücke auf. Ein Wagen stieß mit einem hastigen Sprung in den freien Raum. Die Motorhaube, aus der das heisere Getöse eines frisierten Achtzylinders klang, war auf Höhe ihrer Mittelsäule.

»Loslassen!«

Tonys Hände fuhren in die Höhe, als hätte er auf eine heiße Herdplatte gefasst. Steele riss mit aller Kraft am Lenkrad.

Der Bentley brach quietschend nach rechts aus, prallte gegen die Flanke des Verfolgers und trieb ihn auf den Seitenstreifen. Während sich Steele mit seinem gesamten Gewicht auf der Gegenseite über das Lenkrad warf und den Wagen stabilisierte, hoppelte der gerammte Verfolger wie ein angeschossener Hase über den Randstreifen, hob, verteilte Grassoden über die Straße. Sein Scheinwerferkegel schwankte wie ein weißer Finger über Straße und Böschung.

Der Rammstoß hatte auch Steeles Wagen weiter ramponiert. Als er auf einem geraden Stück beschleunigte, pfiff der Fahrtwind hysterisch über die verbeulte Außenfläche.

Unterdessen suchte Tony nach dem Funkgerät, das ihm in den Fußraum gefallen war. Er ertastete es mit den Fingern, hob es hoch und berührte dabei einen Schalter.

»… rede mir hier das Maul fusselig. He Alter, melde dich doch endlich«, quäkte Pillburys Stimme aus dem Lautsprecher.

Die Erkenntnis traf Tony wie ein Schlag. Er hatte das Gerät während der ganzen Zeit im Sende-Modus gehabt, statt auf Empfang zu gehen.

Erst nach ausführlichem Räuspern konnte er antworten.

»He, Alter, wir dachten schon, ihr wärt verschütt gegangen«, meldete sich Pillbury wie­der.

»Wir hatten ein technisches Problem«, sagte Tony Tanner und machte, nach einem hefti­gen Prozess der inneren Erforschung, mit sich ab, dass diese Formulierung keineswegs verlo­gen war.

Es stellte sich heraus, dass Pillbury ein Stück weiter nördlich auf sie gewartet hatte. Noch zwei oder drei Minuten, dann war der Bentley an dieser Stelle. Wenn er es denn schaffen würde, und in diesem Augenblick, als ein weiterer Rammstoß von hinten den Wagen durch­rüttelte, schien ein Treffen mit Pillbury wünschenswert, aber unwahrscheinlich.

»Vorne warten noch zwei«, rief Little plötzlich aus. Er selbst wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm, aber er war sich dessen so sicher, wie er sicher war, dass er ein rechtes und ein linkes Bein hatte.

Steele nickte nur kurz.

»Melden Sie sich bei Pillbury«, befahl er Tony. »Ich habe schon genug Schwierigkeiten, zwei Wagen auf Distanz zu halten. Wenn noch zwei vor uns fahren, nehmen sie uns in die Mitte und zwingen uns zum Halten.«

Dann holte Steele tief Luft und zwang den Wagen zu einem Schlenker. Der eine Verfolger musste abbremsen, dafür beschleunigte der andere, um neben den Bentley zu kommen. Nur ein Zufall der Straßenführung verhinderte das – die nächste Kurve lag so, dass Steele seinen Wagen auf der Ideallinie beschleunigen konnte, den Straßenrand berührte und dadurch die entstandene Lücke wieder schloss. Auch der zweite Wagen verzögerte scharf und fiel erneut hinter den Bentley zurück.

Das Scheinwerferlicht füllte den Innenraum des Bentley mit einem hektischen Wechsel von Helligkeit und Schatten. Schwankend, vibrierend, pendelnd, springend, drängte es sich zwischen die vier Männer und schien wie der Vorbote eines fremden Willens, dem sie sich zu beugen hatten.

Vor ihnen tauchten zwei Rücklichter auf. Steele unterdrückte einen Fluch. Das war die Erklärung, warum die Wagen hinter ihnen abgewartet hatten. Sie wussten, dass sie ihre Beute in der Falle hatten.

»Pillbury, bitte kommen«, ächzte Tony Tanner in sein Funkgerät.

»Alles klar, Alter, wir sollten jetzt die Frequenz wechseln und ein Codewort verabreden. Kommen …«

»Dafür haben wir keine Zeit mehr. Wir sind eingekeilt. Vor uns sind zwei Wagen, die uns auflaufen lassen. Kommen.«

»Alles klar, wir sind auf Position. Keine Panik, Alter, wir kommen. Ende und aus.«

Tony schaute das Funkgerät an, als hätte er eine Garantie für die Worte Pillburys in der Hand. Erst ein Aufschrei von Little weckte ihn aus seiner Erstarrung.

 

Auf der linken Seite war die Straße von einer hohen Böschung oder einem alten Bahndamm begrenzt. Dort oben erschienen helle Lichter, wurden schneller, rasten parallel zur Fahrbahn, überholten die Autos. Dann nutzten sie eine Rampe, um noch einmal zu beschleu­nigen, stürzten sich unvermutet auf die Straße herab wie riesige Orkas, die sich voller Wonne in den Ozean zurückplatschen lassen.

Aus dem Dunkeln schälten sich die Umrisse zweier riesiger Betonlaster, die gewaltige Dieselfahnen ausstießen, in denen feurige Funken in den Himmel schossen.

Die beiden Wagen vor dem Bentley wurden von ihnen mit der Leichtigkeit eines Eishockeyprofis, der einen Bandencheck demonstriert, zur Seite gestoßen. Sie gerieten ins Schleudern, drehten sich und wirbelten als taumelnde Schatten in die Dunkelheit.

»Ihr müsst uns jetzt mal überholen«, meldete sich Pillbury.

»Wir haben ein Problem mit der Lenkung. Wir brauchen eine gerade Strecke, sonst kom­men wir nicht an euch vorbei.«

»Schlechte Vorbereitung, was Alter? Na ja – auf Kommando. Wenn wir zur Seite rücken, stoßt ihr mit Vollgas durch die Lücke, den Rest übernehmen wir. Klaro?«

Die beiden Betonwagen walzten wie eine bewegliche Wand vor ihnen her. Die Verfolger schienen unbeeindruckt. Sie hatten den Abstand größer werden lassen, hingen jetzt aber wie­der nach bekanntem Muster an der Stoßstange des Bentley. Noch witterten sie ihre Chance.

Der Blinker eines Lastwagens leuchtete auf. Im selben Moment wichen die beiden rasen­den Monster zur Seite aus und pflügten sich auf den Randstreifen. Erde, Gras und Begrenzungspfosten schleuderten wie ein Bugwelle zur Seite.

Zwischen den beiden schlingernden Lastwagen war jetzt eine schmale Gasse. Steele beschleunigte. Das konnte nicht gut gehen! Tony klammerte sich an seinen Sitz. Nicht einmal ein Kleinwagen hätte ausreichend Platz gefunden, geschweige denn diese große Limousine.

Neben Tonys Seitenfenster, direkt auf Kopfhöhe, heulten die Reifen des Lastwagens. Dann waren sie durch die Lücke gestoßen und hatten eine freie Fahrbahn vor sich. Hinter ihnen blieben zwei Lastwagen, die die Straße sperrten. Flüchtig, im Zurückblicken, erkannte Tony Tanner die Gestalt von Pillbury, der sich aus dem Seitenfenster des einen Betonlasters beugte und begeistert das V-Zeichen hinter ihnen herwinkte.

»Ich habe ihn unterschätzt«, gab Steele zu.

Tony Tanner wischte sich den Schweiß von der Stirn und gönnte sich eine weniger ver­krampfte Sitzhaltung. Sie öffneten die Fenster, ließen die kühle, feuchte Nachtluft herein.

»Und jetzt?«

»Auf die M1, bei Rugby auf die M6 und die M6 bis zum Ende. Wir haben noch etwa fünf Stunden, in denen es dunkel ist. Bis dahin müssen wir am Ziel sein. Aber mit einem Wagen in diesem Zustand können wir nicht einmal eine Tankstelle anfahren, ohne uns für die nächs­ten Jahre als schöne Erinnerung für eine Menge potenzieller Zeugen zu präsentieren.«

»Ich wusste doch, dass eine große Zukunft vor mir liegt«, sagte Tony Tanner und hielt den Kopf aus dem Fenster.

 

Sie fuhren eine Weile, bis Steele einen Parkplatz fand, wo sie den Bentley unter einer Straßenlaterne in Augenschein nehmen konnten. Stelle verschwand gebückt in den Tiefen des Motorraumes, kommandierte Tony, ihm dieses und jenes Werkzeug anzureichen, und zankte sich mir Dorkas, dem es nicht gelingen wollte, Steeles Maglite-Taschenlampe ruhig zu hal­ten. Steele zerlegte die Servolenkung und warf mit schmierigen Zahnrädern und Gestängen nur so um sich. Die Schläuche der Hydraulik verband er geschickt, sodass sie nun einen sinn­losen Kreislauf bildeten. Dann werkelte er den rechten Kotflügel, der halb abgerissen im Fahrtwind geflattert hatte, vom Fahrzeug, und befestigte die Scheinwerfer dieser Seite mit vielen Metern Klebeband an dem Gestänge, das eigentlich den mächtigen Kühler aufrecht zu halten hatte.

Dann machte er sich über die Vorderachse her. Das Schlingern kam wohl von einer jäm­merlich verbogenen Felge, auf welcher der Reifen nur noch wie durch ein Wunder haftete. Begeistert schwengelte Little den Wagenheber. Steele baute das Rad ab und richtete die ver­krümmte Spurstange notdürftig mit einem Hammer, den wiederum Tony anreichen musste. Nach der Aktion waren sie alle von oben bis unten mit Öl und Schmutz verschmiert und von einem ganz hübschen Haufen unbrauchbarer Autoteile umgeben.

Steele warf alles in den Kofferraum. Dann machten sie sich zu dem Toilettenhäuschen des Parkplatzes auf. Dorkas, der als Einziger noch halbwegs saubere Hände hatte, musste Seife aus seinem Koffer holen, und dann ging es ans Hände- und Gesichterwaschen. Steele trennte sich von seiner teuren Burberryjacke, die vom fetten Hydrauliköl unbrauchbar geworden war. Tony Tanner bekam einen kurzen Schrecken, als er das Etikett der Jacke sah, aber dort stand wirklich Burberry und nicht Carryblue.

Nach einer Weile ging es weiter. Der Wagen lief jetzt wieder halbwegs ordentlich, obwohl er rollen musste, um lenkbar zu sein. Dann kamen Steeles trainierte Muskeln mit der starren Lenkung ganz gut zurecht.

Bevor sie ihr Ziel, einen winzigen Hafen am Mull of Galloway erreichten, musste Tony Tanner noch einige Arbeit investieren. So wanderte er beispielsweise mit zwei leeren Benzinkanistern zu einer Tankstelle, erzählte eine rührende Geschichte von einer chaotischen Tante und ihrem Morris Minor (ein anderer Autotyp fiel ihm im Augenblick nicht ein) mit defekter Tankanzeige und wankte anschließend mit zwei schweren, vollen Kanistern zum Bentley zurück, der am Straßenrand stand und zwar so, dass man die schöne Seite sah. Das war die Seite, an der vorn kein Kotflügel fehlte.

Daraufhin machte er sich mit Steele und einem erstaunlich engagierten Dorkas daran, das Luxusprodukt der britischen Automobilindustrie mit Schmutz zu bewerfen, bis der Bentley aussah, als käme er frisch von der Rallye Paris-Dakar.

»Ich mache mir Sorgen um Pillbury«, sagte Tony Tanner, kurz nachdem sie das Ende der M6 erreicht hatten und sich in Richtung Westen wandten.

Die etwas rätselhafte Übertragung eines Radiosenders machte Tony klar, dass auch er Pillbury wieder einmal gewaltig unterschätzt hatte.

»Ich schalte jetzt zu meinem Kollegen, der sich in einem Hubschrauber über der Straße befindet«, klang es aus dem Radio. Steele drehte am Lautstärkeregler und versuchte, den schwachen Empfang zu verbessern.

»… alles voller Polizei … Geheimdienst … weiträumig abgesperrt«, sagte eine Stimme. Im Hintergrund hörte man das Knattern eines Rotors, von jaulenden Polizeisirenen begleitet. »… terroristischer Hintergrund wird nicht ausgeschlossen, wie ein Sprecher des Innenministeriums und bestätigte, der Fahrer des Tanklastzuges steht noch unter Schock, er wurde erst vor wenigen Stunden auf dem Gelände eines Landhotels aufgegriffen … Bild des Chaos … über Hunderte von Metern verteilt … schwere Bewaffnung … reine Spekulation.«

»Wann wird die Straße wieder befahrbar sein?«, erkundigte sich der Sprecher im Studio.

»… noch Tage dauern … einige Kilometer weiter … Polizei hat Nachrichtensperre ver­hängt, völlig neu in der Kriminalgeschichte Londons, obwohl der Zusammenhang unklar … Habe so etwas noch nie gesehen. Geradezu surrealer Anblick. Zwei Personenwagen, und alle beide stecken bis zu den Achsen in mindestens zwanzig Tonnen schnell härtendem Beton. Zurzeit ist die Polizei noch damit beschäftigt, die Insassen, die augenscheinlich bei der Flucht in der Masse stecken geblieben sind, mit Hilfe von Presslufthämmern zu befreien. Und damit gebe ich zurück ins …«

»Ich kann mich nie wieder in London blicken lassen«, sagte Tony Tanner. Der gelassene Ton passte nicht ganz zu der schicksalhaften Tragweite seiner Aussage. Vielleicht stimmte ihn der Anblick des Wassers, auf dem sich die Morgensonne spiegelte, milde. Vielleicht lag war er aber auch nur müde.

»Sie wollen Ihre Krawattensammlung doch nicht etwa dem Verfall überlassen?«, spöttel­te Dorkas.

Die Müdigkeit in seiner Stimme strafte die etwas bemühte Ironie Lügen und wirkte daher fast mitleiderregend.

Mitleiderregend, dachte Tony Tanner. Ja, genau dahin hast du es geschafft. Und so verbrachte er die nächsten Minuten damit, seinen Krawattenknoten zu richten und sich unter­dessen mit dem süßen Gift des Selbstmitleids zu betäuben.

Später wurde ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich eher komisch wirken mussten. Eine mit zu viel Gepäck ausgestattete und etwas angeschmuddelte Herrentruppe, die nach einem ausführlichen Zug durch die Gemeinde auf das Taxi wartete.

»Ich glaube, ich werde demnächst Drehbücher für Filmkomödien schreiben und damit reich und berühmt werden«, verkündete Tony Tanner als Ergebnis seiner Überlegungen. Danach lockerte er seinen Krawattenknoten, weil es ihm doch wichtiger erschien, Luft zu bekommen als in allen Situationen korrekt gekleidet zu sein. Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen.

»Überschätzen Sie nicht vielleicht doch das Potenzial Ihres Humors ein wenig, Herr Tanner?«, konterte Dorkas, immer noch todmüde und immer noch kampfeslustig.

»Dazu brauche ich keinen Humor. Manchmal muss ich mir nur die Krawatten meiner Mitmenschen ansehen. Ich werde einfach ein wenig durch die Gegend laufen. Der Alltag ist ein Kuriositätenkabinett. Hier in dieser idyllischen Gegend beispielsweise trifft man unerwar­teterweise vier männliche Wesen in einem Schafstall.«

Obwohl Tony seine Zukunftsplanung nicht übermäßig ernst gemeint hatte, so war seine Ortsbeschreibung doch völlig zutreffend.

 

Die vier Männer saßen tatsächlich in einem Schafstall. Exakter: Es war kein Stall, sondern ein halb verfallener Unterstand, gebildet aus drei Holzwänden und einem durchhängenden Dach. Neben einigen Resten von Heu, die von den vieren als Sitzpolster genutzt wurden, erinnerte ein durchdringender, scharfer Geruch an den eigentlichen Zweck der Konstruktion.

Der grässlich ramponierte Bentley stand gegen ein paar Pfundnoten in einem Winkel eines Bauernhofes. Steele hatte seinen Butler in London angerufen und ihn gebeten, sich in der kommenden Woche um das teure Stück zu kümmern.

Meistens wehte vom Wasser her ein frischer Wind, der nicht nur Kühle, sondern auch den wesentlich angenehmeren Geruch nach Salzwasser und Tang mit sich trug.

Tony fröstelte. Die Müdigkeit raubte ihm die Energiereserven. Unauffällig schaute er sich um. Links war Dorkas. Er hatte sich hinter seinem Gepäck in einer Ecke verschanzt und wirk­te, während er mit schlafmüden winzigen Äuglein blinzelte, als erwarte er den Angriff der Indianer.

Neben ihm saß Little und starrte stumm vor sich hin. Er schien über etwas nachzudenken, verzog manchmal auf groteske Weise das Gesicht, als würde ihn etwas schmerzen, und ver­fiel dann erneut in sein dumpfes Brüten.

Rechts lehnte Steele sehr locker an der Wand. Von seiner Position aus konnte er die Weide, die in leichtem Gefälle zum Strand abfiel, den Strand selbst und die Umgebung überschauen. Er hatte den Kopf gegen die Wand gelegt, schloss manchmal die Augen und schien zu schla­fen. Aber immer wieder öffneten sich die Augenspalte, und dann waren die Blicke hellwach und beobachteten die Landschaft mit geradezu feindseliger Intensität. Obwohl Steele völlig entspannt wirkte, wusste Tony, dass er sofort aufspringen und handeln könnte. Es erinnerte Tony an eine Übung des japanischen Schwertkampfes, die er mal irgendwo gesehen hatte. Wie war das genau gewesen? Richtig, der Budoka saß alleine auf seinem Platz und dann, so soll­te die Situation ein, stürmten mehrere Gegner den Raum. Gegner, die nur in der Imagination des Schwertkämpfers existierten.

Ja, jetzt erinnerte sich Tony an diesen stummen Tanz, bei dem nur das Rauschen des Gewandes und das Pfeifen des Schwertes zu hören waren. Ihm war das unheimlich vorgekom­men, denn der Mann, den er beobachten durfte, benutzte ein echtes, scharf geschliffenes Schwert, und seine Hiebe waren echt. So als ob sie sich danach sehnten, lebendiges Fleisch treffen zu können. Am Ende der Übung, das war Tony besonders im Gedächtnis geblieben, führte der Schwertkämpfer die Klinge zwischen zwei Fingern hindurch – um das Blut abzu­wischen und steckte sie dann mit weitem Bogen in die Scheide, bevor er sich wieder setzte.

»Beherrschen Sie Kendo? Ich meine diesen japanischen Kampfsport, wo man sich mit Bambusstöcken beharkt?«, fragte Tony plötzlich.

Steele antwortete, ohne den Kopf zu wenden.

»Natürlich.«

»Wieso natürlich

»Wenn Sie mein Leben kennen würden, wüssten Sie, dass es natürlich ist!«

Tony kannte das Leben Steeles nicht. Dieser Mann, der ihm nicht besonders sympathisch war, hatte ihm einige Male das Leben gerettet, jetzt war sein Leben sogar in der Hand Steeles, und trotzdem wusste er nichts von ihm. So ist das nun mal, sagte sich Tony zum Abschluss seiner Überlegungen.

Steele hatte sie zu diesem Unterstand geführt, Steele hatte den Wagen verschwinden las­sen, und Steele hatte gesagt, dass sie bis zur Dunkelheit warten müssten. Dein Wille gesche­he, Jeremiah Steele, aber als Reiseführer bist du trotzdem eine Niete!

 

Tony schreckte hoch. Sein Kinn war ihm auf die Brust gesunken, er war eingeschlafen. Aber wie lange? Der Blick auf die Uhr nutzte nichts, den Sonnenstand hatte er sich nicht gemerkt, und das Boot, das eben noch vorbeigetuckert war, konnte hinter einer der Geländewellen verschwunden sein, die den Blick auf das Wasser versperrten. Unwillig schüt­telte Tony den Kopf. Er wollte nicht einschlafen, er wollte sich diese Schwäche nicht erlau­ben.

»Was ist eigentlich dieser Dschernuwensk-Apparat, von dem Peak-Maude geredet hat?«, fragte er Dorkas. Es war ihm völlig egal, aber wer redet, schläft nicht ein, darum brauchen Frauen auch weniger Schlaf.

Dorkas brauchte verdächtig lange, bis er die Antwort herausbrachte.

»Dscherwonesk, Herr Tanner, Dscher-wo-nesk. Es ist ein Gerät, mit dem man angeblich Gedanken manipulieren kann.«

»Heute bezeichnen wir also den Dscherwonesk-Apparat als Fernseher.«

»Das Ding stammt schon aus den 50er-Jahren, und irgendwer arbeitet wohl noch heute daran. Genaues weiß man nicht, aber es heißt, dass man mit dem Ding Wellen aussenden kann, die die Hirnwellen des bestrahlten Individuums überlagern. Angeblich wurden Neuronennetze zerstört und unter dem Einfluss des Apparates neu geknüpft. Und irgendwo habe ich mal gelesen, dass der Apparat vorzugweise die Hirnrinde ausschaltete. Dadurch wurde die neuronale Hierarchie gestört und die stammesgeschichtlich älteren Teile des Hirns, also so was wie der Mandelkern oder das Reptilienhirn, rückten in der Befehlskette an eine Stelle, die ihnen ansonsten nicht gebührt. Die Reflexe überwinden die Ratio.«

»Mit welchen Folgen?« Die Folgen waren Tony Tanner so was von schnuppe, aber er merkte, dass ihm Reden und Zuhören Verbündete gegen das Schlafbedürfnis waren.

»Keine Ahnung. Es wurde darüber spekuliert … also, nehmen wir an, Sie sitzen im Büro und werden bestrahlt, dann lassen Sie die Arbeit liegen, schnappen sich Ihre Sekretärin, um sie auf dem Schreibtisch … äh, … also, oder Sie holen Ihr Butterbrot aus der Tasche oder hauen jemanden auf die Nase oder treten die Flucht an. Viel mehr Möglichkeiten haben Sie nicht.«

»Peak-Maude hat recht. Europa wird von Dscherwonesk-Apparaten bestrahlt. Nur scha­de, dass unsere Politiker nicht vom Fluchtreflex erfasst werden.«

Aus der Ecke kam das Rascheln von Heu, als Dorkas seinem schmerzenden Hinterteil eine neue Position gönnte.

»Peak-Maude«, sagte er dann zögernd.

»Ja, Peak-Maude«, antwortete Tony etwas hilflos. »Peak-Maude, der beste Konspirologe weit und breit und der größte Spinner im Umkreis.«

»Also, dieser Peak-Maude …, es ist erstaunlich. Dscherwonesk – ich glaubte immer, einer der ganz wenigen Leute zu sein, die jemals davon gehört haben. Nun ja. Übrigens, Sie waren gerade dabei, einen dieser Monitore aus dem Wagen zu holen, Herr Tanner. Ja, also da sagte mir George Peak-Maude, er würde Sie kennen.«

»Wenn Sie mich beleidigen wollen, warum machen Sie es dann nicht auf die direkte Art und sagen Schmalzbacke zu mir? Ich habe diesen Herrn vorher noch nie gesehen und war im Übrigen auch meines Wissens niemals von dem Wunsch beseelt, ihn kennenzulernen.«

»Wissen Sie eigentlich, dass Sie manchmal ungeheuer arrogant wirken können?«

»Ja, ist es nicht so?«

»Ach so …«, Dorkas setzte die Brille ab und war zunächst damit beschäftigt, irgendeinen besonders hartnäckigen Fleck vom rechten Glas zu entfernen.

»Es ist nämlich so«, fuhr er fort, nachdem er die Brille wieder an ihre angestammte Stelle gesetzt hatte und sie nach mehrmaligem Rücken auch richtig saß, »dass Peak-Maude sich zwar nicht sicher ist, aber er glaubt, dass Sie, wenn auch etwas verkleidet, zu den drei Leuten gehörten, die ihn wegen der Forza Nobile besucht hatten.«

»Ich darf versichern, dass ich es nicht war. Ich war zu der Zeit nämlich als Elvis am Bodensee und habe mich mit Prinzessin Diana auf einem Pferd fotografieren lassen«, antwor­tete Tony Tanner giftig.

Der aggressive Ton fiel ihm selbst auf. Er starrte auf ein Grasbüschel vor seinen Schuhspitzen, an dem gerade ein goldglänzender Käfer hochkrabbelte.

Warum bin ich so sauer, dachte Tony. Ich tu so, als hätte mir Dorkas irgendeine Schmutzigkeit unterstellt. Warum also …

 

Die Müdigkeit täuschte ihn. Die Gedanken schienen zu rasen, sich wie eine gut geschmierte Mechanik ineinanderzufügen und im nächsten Moment wieder schienen sie in einem Sumpfloch zu stecken, aus dem sie nur in kleinen Schrittchen wieder herauskamen. Trotzdem näherte er sich … Ja, er näherte er sich, aber was war es, dem er sich näherte?

Also … eins nach dem anderen, ganz ruhig bleiben. Peak-Maude hatte von drei weiß gekleideten Typen aus Indien gesprochen, darunter einem Europäer. Warum trugen diese Herren auch in Europa unpassende weiße Kleidung? Weil sie direkt vom Flughafen kamen und keine Zeit gehabt hatten, die Klamotten zu wechseln. Oder weil sie die Farbe aus religiö­sen Gründen tragen wollten. Damit wären wir bei den Parsen, damit wären wir in Bombay, damit wären wir bei den Leuten, die mir damals das Fell gerettet haben.

Obwohl es ihm schwerfiel, führte sich Tony noch einmal die Szenen vor Augen. Die Bilder begannen sich zu verselbstständigen, jetzt ging er ohne Mühe einen Gang entlang. Ja, da war eine Tür, eine offene Tür, und im Vorbeigehen hatte er damals einen Mann erblickt. Halt! Die Szene noch einmal zurückspulen bitte und beim Blick auf den Mann einfrieren.

Tony spürte deutlich, dass seine heftige Reaktion etwas mit diesem Mann zu tun hatte. Inzwischen befand er sich in einer Art Halbschlaf und konnte zu seinem eigenen Erstaunen tatsächlich Erinnerungssequenzen abspulen, als hätte er einen Videorekorder im Kopf.

Dieser Mann …

»Kennen Sie das?«, meldete sich Little plötzlich.

Die Stimme kam so unerwartet, dass Tony Tanner erschrocken auffuhr. Eine Sekunde lang war er wieder wütend, denn er wusste, dass er der Lösung des Rätsels ganz nahe gewesen war. Und in der nächsten Sekunde verspürte er große Freude und Erleichterung, die so überwälti­gend war, dass damit jedes Misstrauen zur Seite gestoßen wurde.

Tony drehte sich zu Little um.

»Was sollen wir kennen?«

»Ich meine dieses Gefühl, dass Ihnen ein Wort auf der Zunge liegt und Sie bekommen es nicht heraus? Das ist nicht nur ärgerlich, es kann einen verrückt machen.«

Dafür bist du der beste Beweis, alter Kumpel, dachte Tony. Und laut antwortete er: »Ich kenne das. Das Boshafte ist ja, dass einem das Wort einfällt, sobald man es nicht mehr sucht und braucht. Also suche ich auch nicht weiter und verlasse mich auf Umschreibungen. Schließlich hat man dafür einen Sprachschatz von mehr als zweihundert Worten.«

 

Damit war die Unterhaltung erst einmal wieder beendet und jede der vier Personen schau­te wieder schweigend auf das Wasser. Jeder der vier hatte dabei völlig andere Gedanken. Tony dachte an den Strand von Nizza und Lucille Chaudieu. Dorkas dachte an die phönizischen Seefahrer und fragte sich, welche psychischen und weltanschaulichen Veränderungen eine Kultur durchlief, wenn sich ihre Elite auf das Meer wagte. Steele dachte an einen Tag mit sei­ner Familie und an Helena, in ihrem langen weißen, im Wind flatternden Sommerkleid, und an die Kinder, die im Wasser planschten und manchmal ihren Eltern zuwinkten, als müssten sie durch dieses Winken immer wieder eine Verbindung und herzliche Nähe herstellen. Little dachte an den Pazifik und die Delfine, die sich mühelos durch das blaue Wasser näherten, und wie er die geschmeidigen, muskulösen Leiber an seiner Seite gespürt hatte.

»Jetzt weiß ich es«, rief er plötzlich aus. Die anderen zuckten zusammen und Little ver­zog das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln.

»Ich meine das, was mir die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hat. Jetzt ist es mir einge­fallen. Ich habe es schon in London verspürt, aber ich konnte es nicht formulieren. Ich wäre fast daran erstickt.«

»Lassen Sie es raus, ich will keine Mund-zu-Mund-Beatmung bei Ihnen machen müssen«, knurrte Steele, aber es interessierte ihn wirklich.

»Es geht um denjenigen, der uns diese Leute auf den Hals geschickt hatte. Ich meine den Zwerg und die anderen.«

Jetzt war die Aufmerksamkeit der Zuhörer garantiert, und Little konnte sich nicht enthal­ten, sie zu genießen und eine kleine Kunstpause einzulegen.

»Es gibt einen Mann, nein, eine Person, also es gibt da eine Person. Sie hat die ganze Stadt unter Kontrolle. Ich meine das nicht nur im materiellen Sinn. Was ich meine – er hat seine Fäden über die ganze Stadt gespannt …«

»Was für Fäden?«

Little verzog das Gesicht und rieb sich das Kinn. Er wirkte plötzlich wieder derart in sich versunken, dass Dorkas eingriff.

»Sie meinen sicherlich keine physischen Fäden. Sondern Fäden im übertragenen Sinn, also Einfluss, Information, Einblick, Manipulation …«

Little schnippte mit den Fingern und wirkte wie ein Urlauber, dem eine gute Idee für den nächsten Ausflug gekommen war.

»Genau so ist, vielen Dank. Heißen Dank! Es ist so eine Art … stellen Sie sich vor, es gibt überall Agenten, die alles beobachten und manipulieren und dabei das Hauptquartier benach­richtigen. Die Fäden, die ich meine, sind zugleich die Agenten und die Leitungen, mit denen sie ihre Meldungen abgeben.«

»Das klingt so, als hätte er London in der Hand«, merkte Steele an.

»Hat er auch, in gewissem Sinn. Auf der anderen Seite funktioniert das mit dem Einfluss nicht immer so perfekt wie er es will. Und er selbst hat Schwächen. Er leidet darunter. Er weiß, dass er geschaffen ist, um Macht auszuüben, er lechzt nach der Macht, aber manchmal wird er schwach und sie entgleitet seinen Fingern.«

»Wer ist das, von dem sie reden?«

»Der Zwerg ist sein Bruder. Jedenfalls auf gewisse Weise. Sie können nicht wirkliche Brüder sein, weil sie nicht so geboren sind wie Menschen. Der Zwerg heißt Lalle. Er hasst die Menschen. Er kann in ihre Gedanken eindringen und sie manchmal manipulieren. Lalle könn­te viel stärker sein als sein Bruder. Darum hasst er seinen Bruder besonders.«

»Warum kann Lalle seinen Bruder nicht übertreffen?«, fragte Steele. Jetzt vergaß er sogar, die Umgebung weiter zu beobachten und wandte sich interessiert Little zu. Steele hatte seine Hand am Hals dieses Zwerges gehabt, er hatte unter seinen Fingern gespürt, wie der Puls hochschnellte, als der verkrüppelte Körper begann, nach Atemluft zu schreien.

»Es sind die Schmerzen. Lalle hat ständig Schmerzen. Darum hasst er jeden, der keine Schmerzen hat. Besonders das Gehen fällt ihm schwer. Ich glaube, er hat kranke Gelenke. Manchmal hat er kurze Momente, in denen ihm nichts schmerzt. Dann denkt er an Tiere, an kleine niedliche Tiere, und ist fast glücklich. Aber dann kehrt der Schmerz zurück und Lalle verliert das Glück und ist so voller Trauer und Hass, dass er beginnt, das Glück zu hassen, weil es ihm noch mehr Schmerz bereitet.«

»Wie tragisch«, kommentierte Steele sarkastisch.

»Ja, tragisch«, antwortete Little eifrig, ohne den Unterton zu bemerken. »Aber auch gut. Ich meine gut für die Menschen, für uns. Wenn Lalle sich konzentrieren könnte, dann könnte er die Gedanken vieler Menschen lenken. Manchmal schafft er das auch, aber zu kurz, um damit etwas zu bewirken. Denn je mehr er seine Macht ausspielt, desto größer wird der Schmerz und er kommt zu dem Punkt, wo alles zusammenbricht, er sich nicht mehr konzen­trieren kann und in seine schmerzenden, verkrüppelten Körper zurückfällt.«

Little schaute vor sich hin. Nur er sah jetzt den Zwerg, wie er auf seinem Bett saß und keuchte vor Selbsthass, heulte vor Schmerz, strampelte, um sich trat, sich selbst in die Arme biss, dass die Wunden bluteten, atemlos tobte in seiner unbändigen Wut, bis er von seiner eigenen Schwäche gebändigt wurde und auf sein Lager zurücksank, röchelnd und keuchend, im Säurebad des Schmerzes, der jede Zelle durchglühte. Und Little war das einzige Wesen, das von den Tränen wusste, die Lalle über die Wangen rannen und den grauenhaften Zwerg für kurze Momente an rettende Grenzen leiteten, die er niemals würde überschreiten können.

»Mister Moon«, fuhr Little wieder aus seiner Versunkenheit. »Der Bruder des Zwerges nennt sich Mister Moon. Er ist ebenso böse wie der Zwerg, ebenso voller Hass und Grausamkeit. Er liebt es, Menschen zu quälen. Er fühlt sich überlegen, aber es gibt trotzdem Dinge … er hasst sie, weil sie anders sind als er und weil er nicht so anders sein kann, wie er will. Ja – er weiß nicht einmal, woher er kommt. Er hat keine Mutter und keinen Vater. Er war plötzlich da. Völlig verwirrt. Er handelte, aber manchmal wird er von Fragen bedrängt. Er will wissen, wer er ist. Er gibt vor, etwas zu sein, aber er ist es nicht. Er kann nicht einmal seine Form beibehalten.«

»Was???« Dorkas lugte herum und zeigte ein Gesicht, das für eine Scherzpostkarte geeig­net gewesen wäre.

»Er verändert sich. Er verändert seine Gestalt. Nein, das stimmt nicht. Die Gestalt verän­dert sich, ohne dass er es will. Das ist sein Manko. Trotzdem ist er mächtiger als sein Bruder. Er will seinen Bruder töten, aber er hat Angst vor ihm. Beide fürchten sich. Ja, so ist es: Lalle kann sich im Tageslicht aufhalten, aber Mister Moon muss in der Dunkelheit bleiben. Er hat eine Ahnung davon, wo er herkommt. Er hat ein Bild vor Augen – eine junge Frau mit zer­fetztem Unterleib, sie lebt noch, sie kreischt, aber sie wird bald sterben, denn ihr Gedärm hängt ihr zwischen den Schenkeln und …«

Ein unterdrücktes Stöhnen von der Seite, auf der sich Dorkas verschanzt hatte, stoppte Littles Beschreibung.

»Verzeihung, ich ließ mich mitreißen.«

»Nein, nein, jedes Detail ist wichtig, es ist mein Fehler«, versicherte Dorkas wacker.

Tony Tanner mischte sich ein.

»Es erinnert mich an das, was mir eine junge Frau erzählte, die ich in der Anstalt von die­sem Psychologen getroffen und zusammen mit Gainsworth bei Doktor Grant untergebracht habe.«

»Doktor Grant?«, sagte Dorkas und dann wiederholte er den Namen einige Male, als würde ihm der Klang eine Gewissheit versprechen, die er noch nicht hatte.

»Sarah«, schrie Little plötzlich aus voller Kehle.

Dann schaute er sich um und räusperte sich.

»Tut mir leid, es kam mir einfach so. Ich weiß auch nicht, wie ich auf diesen Namen komme …«

»Ich weiß es«, antwortete Dorkas zugleich aufgeregt und resigniert. Dabei klopfte er auf sein Paket, in dem der Grand Albert und die Statue des Hermes Trismegistos aneinander geschnürt waren.

»Sarah Hamilton, die heißeste Nummer seit es Esoterik gibt, ist es das? Das ist es!«, stöhn­te auch Tony Tanner.

»Exakt. Sarah steckt im Hintergrund. Und daher …«, verfiel Dorkas nun in den von ihm so geschätzten dozierenden Tonfall, »… und daher hat Mister Moon, vielleicht unbewusst, obwohl ich natürlich nicht weiß, ob solche Wesen überhaupt ein Unbewusstes ihr eigen nen­nen, in dem selbst gewählten Namen das Geheimnis seiner Herkunft enthüllt. Mister Moon ist ein Filius Lunae.«

Triumphierend ließ Dorkas die letzten beiden Worte ausklingen.

»Das Mondkind«, deklamierte er dann. »wir haben das Mondkind gefunden!«

»Wohl eher ein Mondkind und einen Mondzwerg«, warf Tony Tanner ein.

»Vielleicht das Mondkind und das Kind des Mondkindes. Oder aber beide sind Kinder des Mondkindes.«

»Ich verliere soeben etwas den Überblick«, gestand Tony Tanner.

»Damit suggerieren Sie, dass Sie ihn hatten, Herr Tanner«, spottete Dorkas. Er war wie­der so wach wie seit Tagen nicht mehr. »Und damit nehmen Sie sich einiges heraus. Ich zum Beispiel habe ihn mitnichten. Sicher ist, dass Sarah ein Mondkind erschaffen hat und es für ihre Zwecke nutzt. Dass in beiden Fällen eine Behinderung vorliegt, könnte durchaus eine Art Immunreaktion sein. Von Kräften, die auf der anderen Seite stehen als Sarah. Vielleicht ein letztes Signal der Gesundheit seitens …«, hier kam Dorkas ins Stocken.

»Seitens der Erde vielleicht oder was weiß ich. Vielleicht mache ich mir auch nur Illusionen.«

»Es gibt Gegenkräfte«, bestätigte Little. »Ich kann sie nicht verstehen. Es sind Wesen, die unter der Erde wohnen und sehr anders sind …«

»Ich weiß«, sagte Tony und verzog den Mund. »Sie essen Schokolade mitsamt Verpackung.«

»Es sind nicht nur sie … es gibt Gruppen … Zirkel, Logen. Manche wollen das Gute, ande­re sind schwarz wie die sternenlose Nacht und suchen nach Macht. Mister Moon versucht, sie zu manipulieren und es gelingt ihm oft. Es gibt andere … ja, ein Mann in weißer Kleidung ist da und er …«

»Was ist?«

Steele war als Erster auf den Beinen und fing Little auf. Der Amerikaner war mit Erstaunen im Gesicht und einem geradezu verzückten Lächeln zur Seite gekippt. Er fing sich sofort wieder und schaute Steele erstaunt an.

»Verzeihung, ich bin schon wieder in Ordnung«, versicherte Little dann und setzte sich wie­der auf. Er spürte die fragenden Blicke. Aber Little zögerte, sein Geheimnis zu verraten. Es erschien zu gewaltig und zu wertvoll. Ja, es war etwas, das die anderen überhaupt nicht ver­stehen konnten, weil sie Little zu wenig kannten. Little den Spinner, Little, den Halbirren.

 

Und nun war etwas Wundervolles geschehen. Little hatte eine Berührung verspürt, eine freundschaftliche, brüderliche, eine liebevolle Berührung, eine Umarmung, eine blitzschnel­le Kommunikation über Zeit und Raum hinweg. Etwas, das keiner verstehen konnte, der es nicht selbst erlebte.

Little hatte verspürt, wie ihn der weiß gekleidete Fremde ansprach. Wie er, ohne Worte zu nutzen, Mut zusprach, Lob zollte, Hoffnung gab. Wie er Little einlud. Little, der ab diesem Moment wusste, dass er dazugehörte – zu was es auch immer war, er gehörte dazu, er war nicht allein mit seinem Können, das zugleich sein Fluch war.

Zögernd öffnete Little die Lippen. Jetzt, wo der weiß gekleidete, dunkelhäutige Fremde ihn berührt hatte, konnte er nicht alles verschweigen. Es war seine Pflicht zu sprechen. Er brauchte nicht alles zu offenbaren, aber er wusste, dass er sich mit Verschweigen gegen den neu geschlossenen Bund versündigen würde.

»Er ist mächtig«, flüsterte Little. »Er wirkt demütig und bescheiden. Die Leute übersehen ihn oft, er wirkt fast ängstlich. Aber er ist ein Riese. Er hat gelitten, um groß im Geist zu wer­den. Er hält Mister Moon in Schach. Und er ist nicht der Einzige. Es gibt viele von ihnen. Sie leben überall und wissen oft nichts voneinander. Manchmal wissen sie nicht einmal etwas von ihrer Macht. Das sind die Mächtigsten, diejenigen, die von ihrer Macht nichts wissen, weil sie eine Aura um sich schaffen. Sie sind die Gewichte, die die Waage noch im Gleichgewicht hal­ten. Noch. Denn Mister Moon und viele andere legen ihre Bosheit wie Bleigewichte auf ihre Seite der Waagschale. Darum geschehen so viele Dinge, die bisher nicht sein konnten. Darum kann es Sarah geben, und weil es Sarah gibt, kann sie weitere Gewichte auf die Waage legen. Und Brantley. Brantley in seinem Mantel, der aus Menschenleder ist. Er ist unendlich mäch­tig. Er ist ein schwarzer Engel. Er ist ein Bote der Hölle. Er hat die Diener der Hölle gesandt, und sie stürmten durch die Stadt an dem Fluss wie flüssiges Erz, sie wehten wie der Wind aus der Wüste des Versuchers. Sie fingen den, der gesandt war und verbrannten ihn, und noch viele werden brennen in ihrem Leib der Sünde, weil die Ewigkeit der Hölle nicht ausreicht, ihre Sünden zu tilgen und Brantley der Herr hat sie …«

Das Klatschen einer Ohrfeige unterbrach Little, der mit geballten Fäusten, die Augen ins Leere gerichtet, seine Sätze mit singendem Tonfall wie eine Fanfare geschmettert hatte.

»Verzeihung«, sagte Dorkas und blies sich dann auf seine schmerzende Handfläche. »Aber im Moment ähnelten Sie doch ein wenig zu sehr an Doktor Josef Goebbels in seinen besten Zeiten. Und der Wahl der Propagandameister …«

»Und er trug elegante maßgeschneiderte Anzüge«, teilte Tony Tanner seine Sicht der Dinge mit.

Eine Weile muste sich Little die Wange reiben

»Es ist so, dass viele, die das Potenzial gehabt hätten, sich der … ich nenne es die weiße Seite anzuschließen, sich schließlich für die schwarze Seite entschieden. Aus Machtgier oder weil sie ihre Voreingenommenheiten mehr lieben als das Gute. Brantley ist auch einer … wir schwimmen in einem Meer der Tränen, die vergossen werden, weil zu viele Menschen auf die falsche Seite gezogen werden. Und darum entsteht wieder ein neuer … ein neuer … es entsteht ein … er wurde gerufen …«

Little schien erneut zu entgleiten und ließ dabei seine Augen fest an Tony Tanner hängen, wobei niemand sicher war, dass er ihn auch wahrnahm.

»Die Regeln geraten außer Kraft«, sagte Dorkas, so leise, als würde er nur zu sich selbst sprechen. »Darum geschehen Dinge, die nicht geschehen können.« Dann wurde seine Stimme lauter, als er Little eine Frage stellte.

»Warum sind sie so hinter uns her? Ich meine diesen Mister Moon?« Little fand sofort aus seiner Abwesenheit zurück.

»Es ist dieses Buch. Es ist wie eine Waffe. Mit ihm kann man Sarah in Schach halten. Aber wenn sie es in die Finger bekommt … ich meine das im bildlichen Sinne, also wenn es eines ihrer Geschöpfe wie Mister Moon in die Finger bekommt, dann steigt ihre Macht exponenti­al. Dann hat sie eine Macht, von der sie bisher nicht einmal zu träumen wagen durfte. Und sie haben etwas, hinter dem auch Brantley her ist. Ein Tauschobjekt vielleicht.«

»Brantley ist also noch im Spiel?«

»Er könnte nicht aussteigen, selbst wenn er wollte. Aber er verbirgt sich. Ich spüre so etwas wie eine schwarze Wolke, in der Blitze aufscheinen und in der es donnert. Es ist wie die Schmiede des Vulkanus, in der eine neue Waffe geschaffen wird.«

Dorkas umklammerte sein Paket und bemühte sich, die Augen offen zu halten.

»Wie steht es geschrieben in der Rolle des achten Tages? Die Väter werden ihre Söhne hassen und die Söhne werden ihre Väter bekriegen. Mutter und Tochter werden ihre Namen mit Verachtung nennen, und die eine wird ausspucken vor der Schwelle der anderen. Nichts wird bleiben wie es der Herr setzte in den Tagen der Verwirrung, die da kommen werden, wenn die Flügel der schwarzen Engel rauschen über den Hütten der Gerechten, und die Unzucht feiert in den Palästen. Aber siehe, nichts ist verloren, und der Bund der Brüder ist stark und brüllt wie ein junger Löwe am Morgen. Rüste dich für die letzte Schlacht, wirf ab die Schwäche, greife dein Schwert und schneide dir ab deine Lider, auf dass dich der Schlaf nicht übermanne am Tage der Entscheidung. Denn die Brut der Welt schläft und wird darob vergehen, aber die Väter des Lichtes kennen keinen Schlaf bis zu dem Tage, an dem …«

Die Stimme wurde, während Dorkas theaterhaft deklamierte, leiser und undeutlicher. Der Kopf des Wissenschaftlers fiel nach vorne, sein Kinn ruhte auf dem Paket, das er umarmte, wie ein Kind seinen Lieblingsteddy umarmen mochte. Dorkas war selig entschlum­mert.

»Wie steht es mit den Wagen, die uns verfolgt haben? Mit dem Hubschrauber?«, fragte Steele. Er wunderte sich selbst, dass er diese absurde Frage stellte und dieses sogar in der Überzeugung, von diesem Mann eine Antwort zu erhalten, die mit der Wirklichkeit in Einklang stand.

Aber Little zuckte die Schultern. »Sie haben nichts mit Mister Moon zu tun. Es waren andere. Menschenjäger. Sie sind wie Haie. Sie riechen Blut, sie erfreuen sich daran, Menschen zu jagen.«

»SSI«, knurrte Steele vor sich hin. Er hatte es geahnt. Ein blitzblanker, moderner Hubschrauber, SSI, wer sonst hatte solche Möglichkeiten? Nach einiger Überlegung fiel ihm noch eine dringende Frage ein.

Fortsetzung folgt …