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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.10

Wo die Erde blutet – Teil 10

Seine Kumpane beobachteten ihn, sahen sich gegenseitig an und begannen erneut, die lange Arme wie Signalstöcke durch die Luft zu schwingen. Die Augen richteten sich wieder auf den Van. Bevor Steele wieder das Gaspedal durchtreten konnte, ertönte ein Schrei, der alles veränderte. Das Versuchsobjekt hatte ihn ausgestoßen. Aus der Starre wurde ein wildes Strampeln, das sich zu der wahnwitzigen Pantomime eines Wettlaufes auswuchs. Aus den hin und herschwingenden Fellzotteln begann Rauch zu steigen. Die Fratze des Ungetüms änderte ihre Farbe, bis die Haut krebsrot war und begann, sich wie Rinde vom rohen Fleisch abzuschälen.

In diesem Moment sprangen zwei, dann drei seiner Kumpane hinzu, griffen sich die Beine und schleiften ihn zu der Rampe. Die anderen folgten ihnen, aneinandergedrängt und offensichtlich völlig verwirrt. Langsam verschwanden sie hinter der Betonmauer.

»Die Sonne bringt es an den Tag«, kommentierte Dorkas, der wieder ein wenig zu Atem gekommen war. Der Wissenschaftler hatte den Kopf zwischen den Sitzlehnen in die Höhe gereckt und die Szene durch das Heckfenster beobachtet.

»Vielleicht gibt es ein Ozonloch über London?«, mutmaßte Tony Tanner. Er hatte sich in einen Sessel geworfen und massierte seinen rechten Arm. Langsam verschwand die Betäubung aus der Gliedmaße, aber das bedeutete noch nicht, dass er den Arm in den nächsten Tagen richtig einsetzen konnte. Trotzdem schaffte es Tony, seine Peitsche an ihrer üblichen Stelle am Handgelenk unterzubringen.

 

Unterdessen ließ Steele den Wagen vorrollen, schob eine Plastikkarte in einen Automaten und wartete, bis sich die Schranke mit mechanischem Rucken hob. Vorsichtig fuhr er auf die Straße. Sie war menschenleer, kein Fahrzeug war zu sehen, bis auf die parkenden Autos am Rinnstein. Steele lenkte nach links, fuhr an, ließ den Wagen plötzlich mit qualmenden Antriebsrädern herumschwenken und raste in Gegenrichtung davon. Als der Wagen Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte, folgte ein brutales Bremsmanöver, nach dem Steele den Van in eine kleinere Seitenstraße lenkte und gemächlich an einer Passantengruppe vorbeirollte.

Jeder im Wagen bemerkte die Blicke, die ihnen folgten.

»Wir brauchen einen neuen Wagen«, stellte Jeremy Steele fest.

»Was sollte dieses Manöver eben?«, erkundigte sich Dorkas, der nach einem Sicherheitsgurt suchte.

»Instinkt. Das war genau die Strecke, auf der Polizei einfahren würde. Bei dem Lärm, den wir veranstaltet haben, ist es unvermeidbar, dass irgendeiner die Polizei ruft. Und der Zustand dieses Wagens ist Verdacht erregend genug.«

»Und wie kommen wir an ein neues Gefährt?«, wagte sich Tony Tanner mit einer Frage vor.

»Mein Problem«, gab Steele knapp zurück.

Er hielt sich in den Seitenstraßen, bis die glitzernden Fassaden der Neubauten zurückblieben und sich London in ein schäbiges Kleid aus schmutzigen Ziegelmauern, verwahrlosten Freiflächen und zerfallenen Werkhallen hüllte. Zwischen zwei rotbraunen Wänden konnte Tony für einen Augenblick den Schornstein eines Themseschiffes erkennen.

Steele fuhr den Wagen durch ein offenes Tor und hielt an. Der Platz war von der Straße aus nicht einsehbar. Sie stiegen aus und standen herum wie eine Reisegruppe, die auf den Fremdenführer wartet. Jetzt erst merkte Tony, wie ihm die Beine zitterten. Und Dorkas, der sich ständig den Schweiß von der Stirn wischte, wirkte auch nicht sonderlich gelassen.

Tony sparte sich eine Beurteilung von Little. Der Amerikaner lief auf und ab und presste sich die Fäuste gegen die Schläfen. Er wirkte wie ein Autist, der sich in einer seiner Zwangshandlung verliert.

»Keiner rührt sich von der Stelle«, befahl Steele. »Egal, wie lange ich fortbleibe, ist das klar? Keiner!«

Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er durch das Tor auf die Straße.

 

Tony blickte sich um: Grasbüschel wechselten mit Gestrüpp ab, dazwischen lagen Plastiktüten, Flaschen, Spraydosen, Lumpen und anderer Müll. Ein ausgeschlachtetes Autowrack, verrostet und mit zerbeultem Dach, ragte wie eine abstrakte Plastik hinter einem Busch hervor. Das Gelände wirkte wie der gescheiterte Selbstmordversuch der städtischen Zivilisation. Dorkas hatte sich inzwischen erneut das Paket unter den Arm geklemmt. Als er auf Tony zuging, zog er die Schuhe mit lautem Schlurfen über den Boden und wirkte wie ein sehr alter, sehr müder Mann. Der Anblick war für Tony erschreckend, weil er die Wahrheit jenseits aller Illusionen widerspiegelte. So war es – so sahen sie alle aus. Und dieses Stück Niemandsland in der Themsemetropole war die einzige adäquate Kulisse für ihren Auftritt solcher Gestalten – eine heruntergekommene Bühne mit passabler Vergangenheit, jämmerlicher Gegenwart und wenig hoffnungserweckender Zukunft.

»Es gibt afrikanische Maskentänzer, die genauso aussehen«, sagte Dorkas.

Tony Tanner schaute ihn völlig verständnislos an.

Dorkas fing diesen Blick auf und blickte nun seinerseits verdattert, bis er Tonys Reaktion richtig gedeutet hatte.

»Ich rede von diesen unerfreulichen Kreaturen, die das Auto mit den bequemen Sitzen kaputtgemacht haben«, ließ sich Dorkas zu einer Erklärung herab. »Auf mich wirkten sie wie solche afrikanischen Maskentänzer.« Nach einigem Zögern fügte er hinzu: »Aber natürlich kenne ich so etwas nur aus Abbildungen …«

»Ich nehme mal an, dass sie nur so wirkten – es sollte mich wundern, wenn uns eine afrikanische Folkloregruppe auf derart massive Weise ihre Abneigung dokumentiert«, antwortete Tony. Er massierte immer noch seinen Arm, mit dem Ergebnis, dass die Schmerzen wiederkamen, aber seine Hand zumindest wieder ihre Beweglichkeit zurückgewann.

»An der Grenze zwischen Burkina Faso und der Elfenbeinküste …«, fuhr Dorkas fort. Er unterbrach seinen Satz, um sich am Kopf zu kratzen, schlug sich dabei fast selbst das Paket gegen die Stirn und starrte den störenden Gegenstand mit stummer Empörung an. Dann nutzte er den freien Arm und dozierte weiter, die Hand auf den Hinterkopf gelegt.

»Andererseits bin ich sicher, dass es in den Alpen auch zu bestimmten Festen einen Mummenschanz gibt, bei dem derartige Verkleidungen vorkommen.«

Tony war sich nicht sicher, ob er über Dorkas lachen oder weinen sollte. Eben noch hatten diese Monster ihn um ein Haar in traditioneller Sie liebt mich, sie liebt mich nicht-Manier in Stückchen gerissen und nun waren sie plötzlich nur noch ein Problem der ethnologischen Zuordnung.

Als ob Dorkas diese Gedanken gelesen hätte, fuhr er in seinen Überlegungen fort: »Ich frage mich, ob die Chimären, die im kollektiven Unbewussten der Menschheit entstehen, der visuelle Ausdruck, sozusagen die Vorwegnahme biologischer Gegebenheiten sind, und dieses deswegen, weil sich Visualisierung und physische Präsentation anhand derselben vorgebenen, sozusagen apriorischen Strukturen entwickelt haben.«

Beifall heischend blickte Dorkas auf. Er fand in Tonys völlig verständnislosen Zügen nichts von dem erhofften Zuspruch.»Selbst wenn ich verstanden hätte, was gemeint ist, bin ich sicher, dass es im Augenblick nicht von Interesse für mich ist. Nicht in dieser Situation.«

Hilflos hob Dorkas die Hände und setzte zu einer Wanderung durch das Gelände an. Nach einer Weile kehrte er zurück und unterhielt sich mit Tony. Es war ein gezwungener und wenig engagierter Austausch von Sätzen, über dem nur die eine unausgesprochene Frage stand: Was soll nun werden?

Jetzt, wo die Erregung langsam abklang, drängte sich diese Frage auf, ohne dass Tony Tanner auch nur den Hauch einer Ahnung einer Antwort hatte. Ihm waren jetzt alle Entscheidungen aus den Händen genommen. Steele führte jetzt Regie, eine Tatsache, die Tony nicht unbedingt fröhlich stimmte.

 

Er war in seinem Grübeln noch nicht wesentlich über diese Überlegung hinausgekommen, als ihn lautes Motorengedröhn ablenkte.

Das Geräusch klang nach einer Panzerbrigade und erweckte sofort Befürchtungen, eine Spezialeinheit könnte sich mit Spezialfahrzeugen einem speziellen Objekt, wie Tony Tanner beispielsweise, nähern.

Was dann von der Straße her durch das Tor rollte, war weniger Angst einflößend, auch wenn das Motorengeräusch die Schmerzgrenze bei Weitem hinter sich ließ. Jeremy Steele stieg aus dem japanischen Uralt-Transporter, auf dessen Seite der Name eines Malerbetriebes gerade noch erkennbar war.

»Was Besseres war auf die Schnelle nicht zu organisieren«, erklärte Steele. »Ich muss eine Manschette um den Auspuff legen, dann ist der Wagen nicht mehr so laut.«

Ohne weitere Verzögerung machte sich Steele auf die Suche nach einer kleinen Geländeunebenheit. Als er das Gesuchte gefunden hatte, fuhr er den Wagen so darauf, dass er sich bequem am Unterboden zu schaffen machen konnte. Aus dem Autowrack stanzte er sich mithilfe eines Messers ein Stück Blech, mit dem er wieder unter dem Lieferwagen verschwand.

Die verbissene Zielstrebigkeit, mit der Steele vorging, machte Tony deutlich, wie überflüssig er war. Dorkas schien dieselbe Empfindung zu haben. Jedenfalls wanderte er unzufrieden brummelnd umher, bis er sich dann mit tantenhafter Zuwendung um Little bemühte, der dadurch langsam wieder zu einem normalen Verhalten zurückfand, sich jedenfalls so benahm, dass man ihn nicht auf den ersten Blick für einen psychiatrischen Fall halten musste.

Die Reparatur nahm mehr Zeit in Anspruch, als Steele erwartet hatte. Zumindest schloss Tony Tanner das aus der Art, die etwas von einer wütenden Hornisse hatte, mit der Steele unter dem Wagen hervorgeschossen kam, zum ramponierten Van stampfte und dort nach Werkzeug wühlte. Dann stapfte er zurück, mit einem Blick, in dem die Wut nur so funkelte und Schritten, als müsste er seinen am Boden liegenden Todfeind mit einem Tritt die Rippen brechen. Zwar hielt sich Tony bewusst in vorsichtiger Distanz, trotzdem ertappte er sich bei einer heimlichen Befriedigung über Steeles Schwierigkeiten.

Endlich zwängte sich Steele erneut unter dem Wagen hervor und ließ den Motor an. Der Klang zeugte von einer alten, schlecht eingestellten Maschine, aber zumindest war der Tiefflieger-Sound verschwunden.

»Gepäck umladen und dann los«, befahl Steele, riss die Motorhaube auf und verstellte etwas am Vergaser. Der Motor blubberte jetzt deutlich freundlicher.

Das Gepäck verschwand im Laderaum. Dann drückten sich Dorkas und Little in die zweite Sitzreihe der Fahrerkabine. Für Tony blieb der Beifahrersitz, auf den er allerdings keinerlei Wert legte.

Steele ließ den Wagen auf die Straße rollen.

Er zögerte einen Moment, für welche Richtung er sich entscheiden sollte, dann drehte er entschlossen am Lenkrad.

»Wir müssen erst einmal in Bewegung bleiben«, sagte er knapp.

Dorkas hatte sein Paket auf die feisten Oberschenkel gestellt und musste aufpassen, dass ihm die Kante nicht gegen das Kinn schlug, wenn der Wagen schwankend über eine Unebenheit rollte.

Steele beschleunigte. Der Motor gab einen hysterisch schrillen Ton von sich, der für einen Moment aussetzte, als der Fahrer den Stock der Lenkradschaltung nach hinten riss.

»Die Federung des anderen Wagens war zwar besser«, hub Dorkas ungefragt an, »und von der Möblierung will ich lieber gar nicht reden. Trotzdem meine ich, wir sollten in dieser Situation auch bereit sein, gewisse Abstriche an unserem persönlichem Komfort in Kauf zu nehmen.«

»Der Wagen taugt nichts«, knurrte Steele. »Schlechte Straßenlage, zu langsam, Bremsen miserabel. Damit haben wir keine Chance. Ich habe den Ersatz in petto, aber wir müssen bis zum Abend warten. Immerhin fallen wir mit dem Karren nicht weiter auf.«

Dorkas’ Seufzer übertönte dennoch die scheppernden und knarrenden Geräusche, welche die geschundene Karosse von sich gab. Schließlich stellte Tony das Radio an. Zu seinem Erstaunen funktionierte das Gerät, und nach einigem Suchen fand sich ein Sender mit flotter, für fast jeden Geschmack passender Popmusik. Zwischen Musiktiteln, Werbung und mäßigen Witzen verlas ein künstlich aufgedrehter Moderator Verkehrsmeldungen. Steele hörte aufmerksam zu und nickte finster mit dem Kopf. Sämtliche Ausfallstraßen waren durch Unfälle oder Tagesbaustellen so blockiert, dass sich die kilometerlangen Autoschlangen nur langsam aus der Stadt herausbewegen konnten. Erst für den Abend wurde eine Entspannung der Situation vorhergesagt. Und wieder wurde der Ruf nach einer Maut für alle Fahrten in die Londoner Innenstadt laut.

 

Wenn Steele einen Plan hatte, dann war der für Tony Tanner nicht erkennbar. Für ihn wirkte das Folgende wie eine ziellose Stadtrundfahrt. Obwohl er durch das verschlissene Polster jede Sitzfeder spüren konnte, entspannte er sich so gut es ging. Es war die mäßige Entspannung, die sich in einem Zahnarztwartezimmer einstellt, wenn man die betrübliche Sicherheit hat, dass zwei andere Patienten noch vor einem aufgerufen werden, bevor man selbst den schweren Gang ins Behandlungszimmer antreten muss. Tony Tanner war inzwischen erfahren genug, um jede noch so kleine Pause zur Erholung zu nutzen. Er schaute aus dem Fenster und verband seine Erinnerungen mit den Orten, die vorüberglitten. Es waren erfreuliche Erinnerungen, und die meisten hatten sie etwas mit Francine zu tun. Tony Tanner versank wohlig in einen Katzenjammer über sein verpfuschtes Leben.

Steeles Stimme kündigte einen neuen Höhepunkt in diesem Leben an.

»Wir werden verfolgt!«

Tony Tanner beugte sich vor, um einen Blick in den Außenspiegel werfen zu können. Der Sicherheitsgurt blockierte und ließ sich erst nach einigem kräftigem Ruckeln dazu bewegen, die Bewegung des Oberkörpers freizugeben. In dem fleckigen, vibrierenden Spiegel konnte Tony wenig mehr als die Flanke des Wagens und einige hinter ihnen fahrende Automobile erkennen.

»Welcher ist es?«, fragte er, wobei er sich, als er den Ton der eigenen Stimme hörte, schlagartig darüber klar war, dass er die blödestmögliche Frage überhaupt gestellt hatte.

Jeremy Steele suchte sich eine andere Sitzposition. Er hing jetzt halb über dem Lenkrad, die Unterarme auf die Plastikspeiche gelegt, die Hände hingen in scheinbarer Lässigkeit herab. Sein Blick sprang mit der Geschwindigkeit eines Ping-Pong-Balles zwischen der Frontscheibe und dem Außenspiegel hin und her.

 

Sie befanden sich auf einer zweispurigen Straße, die parallel zur Themse verlief. Der Verkehr floß störungsfrei, bot allerdings keinerlei Möglichkeiten zu einem Überholmanöver.

Tatsächlich glitten die Automobile dahin wie ein kompakter, wenn auch recht flotter Lavastrom.

»Ich habe keine Ahnung«, kam es schließlich von Steeles Lippen. Tony zuckte beim Klang der Stimme zusammen. Er hatte mit keiner Antwort gerechnet und heimlich gehofft, der Fahrer hätte die Frage überhört.

»Aber das Bild hinter uns hat sich seit den letzten drei Kreuzungen nicht verändert. Das ist völlig abnormal. Da kann was nicht stimmen.«

In Tonys Ohren klang das schon etwas paranoid. Bei der derzeitigen Verkehrssituation erschien es ihm als völlig normal, wenn sich der Anblick im Rückspiegel nicht wesentlich änderte. Andererseits traute er Steele und seinem Instinkt mehr als seinen eigenen Überlegungen, die vielleicht weniger paranoid waren, dafür aber zu der Bequemlichkeit dienenden Rationalisierungen tendierten.

»Irgendeiner von denen da hinten verfolgt uns«, murmelte Steele, mehr zu sich selbst als zu seinen Begleitern. »Ich tippe auf einen der Fords oder Vauxhalls. Diese Dutzendkarossen fallen weniger auf. Aber der BMW oder der Jaguar könnten es auch sein, die haben ausreichend Puste, um jeden abzufangen, der sich im Spurt verdrücken will.«

Nach diesem Monolog, dessen Zeuge er geworden war, wusste Tony Tanner nur eines: Es könnte jeder Wagen sein, der hinter ihnen herfuhr und Steele wusste auch nicht mehr als alle anderen hier in diesem japanischen Lieferwagen.

Steele straffte sich und gab Gas. Er nutzte eine Lücke, um auszuscheren, drängelte, bis ihm Platz gemacht wurde, beschleunigte und drückte sich drei Plätze weiter vorn zurück auf die innere Spur. Unbehaglich rutschte Tony auf seinem Sitz herum. Die Aktion erinnerte ihn an die Automobilistensitten in Kairo oder – als Steigerung des Schrecklichen bis hin zur absoluten Apokalypse – an Francines Fahrstil in ihren besten Zeiten.

 

Während sich drei Personen mehr oder weniger heimlich den Schweiß von der Stirn wischten, beobachtete Steele, der wieder in lässiger Haltung über dem Lenkrad hing, die Reaktionen der Wagen hinter ihnen. Nichts passierte. Steele zerkaute einen leisen Fluch zwischen den Zähnen. Langsam kamen ihm Zweifel, ob er sich nicht selbst getäuscht hatte. Oder die Jungs hinter ihnen waren absolute Profis und ließen sich durch solche Spielchen nicht aus der Reserve locken. Beide Möglichkeiten waren nicht geeignet, Steeles Laune zu bessern.

In den letzten Tagen hatte er bei sich eine steigende Unsicherheit bemerkt. Er kannte die Ursache – sie saß neben ihm in Gestalt des Mannes namens Tony Tanner. Diesen Mann sah Steele als Angelpunkt seines Schicksals, als den Schuldigen am Tod seiner Familie und als Zielscheibe seiner gerechten Vergeltung. Oder, um genau zu sein, er hatte ihn bislang so gesehen, und selbst die Aussagen des sterbenden Pinazzi hatten ihn nicht vollständig von etwas anderem überzeugen können. Jetzt war die Gestalt seiner Vorstellungen in eine menschliche Haut gekleidet, und nun überkamen Steele Zweifel. Er hatte auf seinem Weg bis hierhin vielen Personen gegenübergestanden, die wirkten, als könne sie kein Wässerchen trüben, obwohl sie in sich die tiefsten Abgründe der Verworfenheit bargen. Aber keiner unter ihnen war selbst derart oft in Lebensgefahr geraten wie Tony Tanner, und keiner gab sich mit einer solch merkwürdigen Geduld mit solchen Begleitern ab – einem unbeholfenen Bücherwurm aus der teuersten Stadt der Welt und einem hysterischen Volltrottel aus dem Land der unbegrenzten Kriegsgier.

Zu sehen, wie seine Gewissheiten bröckelten, brachte Jeremy Steele zwar keineswegs aus dem Gleichgewicht. Er bemerkte aber, wie seine die innere Ruhe und die Kälte weicher wurden, die seine Handlungen in den letzten Jahren bestimmt hatten. Das Bild des Kriegers, nach dem er sich geformt hatte, schmolz etwas, und manchmal schimmerte ein Bild durch, das sich Steele aufdrängte, obwohl er nicht danach gesucht hatte: ein geschlagener Mann, der von der Stätte seiner Niederlage hinweg humpelt, in Fetzen gekleidet und mit nichts in der Hand als einem derben Stock, den er als Krücke verwendet.

Als sie gegen die affenartigen Gestalten gekämpft hatten, war Steele aus dem selbst geschaffenen Exil in seinem Inneren herausgefallen. Er war zeitweise nervös geworden, hatte falsch reagiert, sich fast einer Panik genähert.

Und nun schien ihn auch sein Instinkt zu verlassen. Die Kerben um Steeles Mund vertieften sich. Nein, so leicht sollte er nicht aufgeben. Momente der Schwäche hatte es immer wieder gegeben, aber wie die Kopfschmerzen nach einer durchzechten Nacht weichen würden, so würde auch das jetzige Gefühl einer heimlichen Schwäche wieder vergehen. Rache war seine Triebfeder gewesen, und die Rache brannte nicht mehr so stark wie früher in Jeremy Steele. Dafür flammte eine gereizte Neugier auf. Er war mit Leuten zusammen, die er sich selbst angehalst hatte, die er irgendwie nicht mochte und deren Schicksal doch plötzlich mit dem seinen verbunden war. Steele riss sich zusammen. Die Situation erinnerte ihn an die militärischen Missionen, an denen er teilgenommen hatte, und da war er wieder, der Kick. Die Kälte, die in ihm entstand, beruhigte ihn.

 

Ohne weitere Überlegung riss Steele das Lenkrad herum. An dieser Stelle war das Abbiegen verboten, und der Lieferwagen hoppelte mit gefährlicher Schräglage in falscher Richtung in eine Einbahnstraße. Steele schaltete zurück und gab Gas. Die Straße war eng, auf beiden Seiten von Bäumen begrenzt, zwischen denen Wagen parkten. An einer Garageneinfahrt hielt Steele an, drehte und fuhr den Rest der Straße rückwärts. Da sich das Seitenfenster nicht richtig herunterkurbeln ließ, schob er zwei Finger zwischen Scheibenrand und Fensterrahmen und drückte die Scheibe nach unten. Dann schob er den Oberkörper halb aus dem Fenster, während die linke Hand am Lenkrad blieb.

Tony Tanner hörte ein deutliches Stöhnen von hinten, wo Dorkas sein Paket umklammert hielt. Auch er selbst verspürte ein nervöses Prickeln im Nacken, als ihn die Beschleunigung ein wenig nach vorne hob und die Baumstämme und Wagentüren in Zentimeterabstand an seiner Seite vorbeihuschten. Dennoch kam Tony nicht umhin, die Mischung aus Leichtigkeit und Entschlossenheit zu bewundern, die Steeles Aktion verkörperte. Ein Blick zur Seite zeigte ihm den muskulösen Arm und die Schulter des Fahrers, unter deren Haut die Sehnen wie Stahldrähte spielten, wenn er winzige Korrekturen am Lenkrad durchführte und er kam auch hier nicht umhin, widerwillige Hochachtung vor dem Mann mit den eisblauen Augen zu empfinden.

Das Getriebe heulte bei der Rückwärtsfahrt, dass es fast wie Sirenenklang zwischen den Hausfassaden entlangschallte. An der nächsten Kreuzung orientierte sich Steele kurz und rollte, dieses Mal in vorgeschriebener Fahrtrichtung, parallel zur Hauptstraße weiter. Nach einigen Minuten legte sich die Spannung.

Dann stieß Steel einen leisen Ruf aus. Ein Jaguar kam ihnen entgegen. Die Wagen passierten sich und entfernten sich wieder voneinander. Aber Steele war sich sicher, dass er einen Wagen dieser Bauart und in dieser Farbe auf der Hauptstraße gesehen hatte. Das mochte Zufall sein. Die Ungewissheit war ärgerlich. Nein, sie war sogar gefährlich. Wie groß war die statistische Wahrscheinlichkeit innerhalb von vielleicht zehn Minuten zwei Wagen dieser Bauart mit exakt derselben, ziemlich ausgefallenen Lackierung zu begegnen?

Steele zuckte mit den Schultern. Es war wie ein ausgelegter Köder.

Nachdem sie sich noch eine Weile durch Nebenstraßen fortbewegt hatten, bog Steele wieder auf die Hauptstraße ein. Er blickte kurz zu Tony Tanner hinüber. Zu seiner Überraschung erkannte er, dass dieser Tanner wohl den gleichen Gedankengang hatte. Dann verlangte die Straße wieder nach Steeles Aufmerksamkeit.

 

Tony Tanner sah den Jaguar in British Racing Green sogar früher als Steele. Der Abstand war zu groß, um hinter der schrägen Frontscheibe, über die im ständigen Wechsel Lichtreflexe huschten, die Insassen zu erkennen.

In dem Lieferwagen herrschte eine gespannte Ruhe. Little rieb sich die Schläfen, wollte den Mund öffnen, um etwas zu sagen und sackte dann doch sprachlos in sich zusammen.

Dorkas umklammerte sein Paket und betrachtete einen imaginären Punkt, der irgendwo weit vorne zu sein schien.

»Haben wir vielleicht so eine Art Sender am Wagen?«, unterbrach Tony Tanner schließlich das Schweigen.

Steele schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist auszuschließen. Ich habe den Wagen von einem Schrotthändler – sagen wir – übenommen, nur Minuten, bevor der die Karre in die Presse werfen wollte. Es standen noch andere Wagen herum, die ich auch hätte nehmen können. Nein, entweder, die – wer immer auch die sind – haben alle Autos im Umkreis, die man kaufen oder klauen kann, mit Sendern ausgerüstet, oder es ist was anderes.«

Inzwischen hatte Steele ein Verdacht beschlichen, der ihm allerdings auch nicht weiterhalf.

Es schien, als würden sie zwar verfolgt oder beschattet, aber als wüssten die Verfolger noch gar nicht, dass sie diesen speziellen Lieferwagen im Visier hatten. Als er diese Möglichkeit noch ein oder zwei mal durchdacht hatte, schien sie sich vollends in Absurdität aufzulösen. Steele zog die Brauen zusammen und beobachtete den Verkehr. Zwei Abbiegespuren ignorierte er, bei der dritten ordnete er sich im letzten Augenblick ein. Der grüne Jaguar glitt vorbei.

Für eine Sekunde waren die beiden Männer auf den Vordersitzen erkennbar und ein dritter, der auf einer schwarzen Decke auf einem Rücksitz saß. Dieser Dritte schien ein Zwerg zu sein, jedenfalls ragten seine dicken Beine gerade über die Kante des Sessels. Entweder hatten sich diese Männer bestens im Griff, oder sie wussten tatsächlich nicht, hinter wem sie her waren – jedenfalls gab es von ihrer Seite keinen Blick auf den Lieferwagen, in dem sich Steele und Tony Tanner die Hälse verbogen, um ihre Verfolger zu erkennen. Der Mann auf dem Rücksitz gestikulierte und schien die beiden anderen anzuschreien. Offensichtlich führte er das Kommando im Jaguar.

Die Ampelphase dauerte lange, und weil er in der Schlange stand, musste Steele abwarten, bis er so weit vorrücken konnte, dass sie beim nächsten Grün endlich die Hauptstraße verlassen konnten.

»Ich glaub’ es nicht«, knirschte Steele zwischen den Zähnen hindurch. Die Sache fand er spannend.

Der grüne Jaguar hatte irgendwo gedreht und kam ihnen nun auf der Gegenspur entgegen.

 

Dieses Mal glaubte Steele eine Kopfbewegung des Fahrers bemerkt zu haben, mit der er sich dem Lieferwagen zuwendete. Aber es konnte auch eine Täuschung sein.

Angenommen, die Männer im Jaguar wussten wirklich nicht genau, hinter wem sie her waren – eine Variante, die sich Steele nicht erklären konnte – dann waren sie jetzt vielleicht dabei, sich über ihr Zielobjekt klar zu werden. Wenn die Verfolger bisher im Nebel stocherten, dann würden ihnen sehr bald, wenn sie nicht völlig vernagelt waren, auffallen, dass ihnen dieser weiße Lieferwagen ziemlich oft in die Quere kam. Und dann wurde es interessant.

Nach einiger Überlegung äußerte Steele seinen Verdacht. Als er die ersten Worte gesprochen hatte, bereute er es schon wieder, denn er kam sich selbst lächerlich vor. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass der grüne Jaguar in einiger Entfernung wieder hinter ihnen war.

Steele entschloss sich, die Sache auf die gerade Art zu erledigen. Er würde anhalten, aussteigen, den Jaguar zum Halten zwingen und dann die Insassen nach ihren Absichten befragen.

Unter Umständen würde das Gespräch durch die Benutzung von Feuerwaffen bestimmt, aber davor hate Jeremy Steele keine Furcht. Als er schon nach einer Haltemöglichkeit suchte, den Wagen am Straßenrand zu parken, wurde ihm bewusst, dass er nicht allein war, dass er drei Männer mit sich schleppte und dass er darum diesen Befreiungsschlag vergessen musste.

Inzwischen geschah etwas, das die ganze Affäre auf elegantere Art aus der Welt schaffte.

Dorkas beugte sich nämlich über Little, rüttelte ihn an der Schulter und lauschte den leisen Worten, die der Amerikaner mühsam herauspresste. Dann hob Dorkas sei Paket und schlug es Little mit einem lauten Krach über den Kopf. Vorsichtig fing er den zusammensackenden Little auf und bettete ihn auf der sicherlich nicht unbequemen Polsterung seiner fetten Oberschenkel.

»So etwas ist sicherlich sonst nicht meine Art«, rechtfertigte sich Dorkas schuldbewusst und sprach damit Jeremy Steele und Tony Tanner an. »Aber Herr Little äußerte soeben die Klage, dass sich jemand in seinem Kopf zu schaffen machte, und angesichts der etwas unklaren Situation, in der wir uns befinden, erschien es mir als durchaus annehmbare Hypothese, dass sich unsere Verfolger der speziellen Eigenschaften des Herrn Little bedienten, um … äh …«

»Sind Sie sicher, dass er jetzt nicht mehr geortet werden kann, wo er ohnmächtig ist?«, erkundigte sich Tony Tanner.

Jeremy Steele kniff die Augen zusammen. Das Fette schlug den Spinner zusammen, und dieser Tanner schien den Schwachsinn auch noch zu begreifen.

Dorkas war sich nicht sicher. Allerdings riskierte Steele die Probe. Er fand eine Parklücke, fuhr hinein, wartete die Vorbeifahrt des grünen Jaguar ab und ordnete sich dann direkt hinter dem Wagen wieder in den Verkehr. Der Zwerg auf dem Rücksitz hatte in diesem Moment sichtlich einen Tobsuchtsanfall. Er strampelte mit den dicken Beinen, hob die Arme mit geballten Fäusten über den Kopf oder prügelte auf die Lehnen der Vordersitze ein.

Schließlich machte der Fahrer beim Umfahren eines haltenden Lastwagens einen heftigen Schlenker und der Zwerg rutschte mitsamt seiner lächerlichen Decke in den Fußraum.

 

Steele setzte den Blinker, wesentlich früher als notwendig und fuhr derart auffällig nahe an den Jaguar heran, dass auch ein Blinder dieses Abbiegesignal im Rückspiegel erkannt hätte. An der nächsten Kreuzung fuhr der Jaguar stur geradeaus, während sich der Zwerg wieder aus dem Fußraum hocharbeitete. Der Lieferwagen mit Steele und seinen Begleitern bog ab.

»Die wären wir los«, kommentierte Steele. »Bei Gelegenheit erklären Sie mir das vielleicht?«

»Wir können Herrn Little nicht ständig auf diese Art in künstlichen Schlaf versetzen«, gab Dorkas von hinten zu bedenken. Sie grübelten eine Weile, dann hatte Tony Tanner eine Idee.

»Wir setzen ihn unter Alkohol«, schlug er vor. »Wir kaufen eine Flasche Whisky oder meinetwegen Eierlikör oder so was, und damit füllen wir ihn dann ab. Morgen hat er zwar einen Brummschädel, aber ich nehme mal an, der Suff wird als eine Art von Störsender funktionieren. … Und außerdem macht es bestimmt mehr Spaß, als von Ihnen mit dem Grand Albert bearbeitet zu werden.« Dafür bekam er einen fragenden Blick von Steele, und er grinste frech zurück.

Dorkas zog den Kopf ein. Er wusste selbst nicht, ob es die völlig unkultivierte Gewalttätigkeit war, die er besonders bedauern sollte oder die ohne Zweifel geradezu blasphemische Nutzung eines Werkes wie dem Grand Albert.

Zu ihrer aller Beruhigung erklärte sich der wieder aufgewachte Little bereit, sich freiwillig einem Alkoholkoma entgegen zu trinken. In einem Supermarkt suchte er sich einen Likör aus, dessen giftgrüne Farbe zwar schnellen Erfolg, aber auch einen hässlichen Kater verhieß.

»Mein Kopf dröhnt sowieso«, erklärte Little tapfer und setzte die Flasche an die Lippen.

Nach einigen Minuten breitete sich ein Grinsen auf seinen Zügen aus und der Amerikaner wirkte so ausgeglichen, wie schon lange nicht mehr. Arm in Arm mit Dorkas begann er zu schunkeln und schmetterte einen Hippie-Song nach dem anderen. Dorkas war dieses sichtlich peinlich, zumal Steele ihn mehrfach so angeschaut hatte als wolle er sagen: »Kann ein Kerl allein so bescheuert sein?«

Die Flasche war schon geleert, als Little sie immer noch unterhielt, obwohl er inzwischen sowohl mit den Texten als auch mit seiner Zunge durcheinander kam. Die Alkoholresistenz Littles schien sich zum Problem zu entwickeln, aber endlich, Dorkas war seinerseits vor Schunkeln schon schwindelig geworden, sank Little in sich zusammen und beschränkte des weiteren seine gesamten Lebensäußerungen auf lautes Schnarchen.

Steele ließ unter den drei Überlebenden erst gar keinen Jubel aufkommen.

»Ich verstehe zwar nicht, was da jetzt abgelaufen ist und was ich über Ihren Begleiter zu denken habe. Aber es hat ja offensichtlich funktioniert. Aber eines muss klar sein: Wer immer hinter uns her ist, hat ein erstaunliches Arsenal von Möglichkeiten. Und wenn jemand uns diese Psycho-Kiste auf den Hals schickt, dann hat er vielleicht noch ganz andere Sachen in der Hinterhand. Ich sage euch also eins: Egal wie dick es kommt, ich habe das gute Gefühl, dass wir das schaffen!«

Die Eröffnung wurde mit verbissenem Schweigen seitens der noch aufnahmefähigen Mitfahrer quittiert. Was kam dieser Eisblaue jetzt mit Motivationstraining? Und wieso kam nach dem »schaffen« kein aufmunterndes »Tschaka«?

Dann schnippte Dorkas mit der Hand. Eigentlich blieb es eher bei dem Versuch, denn für Dorkas war diese Technik der Aufmerksamkeitserregung eher fremd, aber es gelang ihm immerhin eine gewisse Geräuschentwicklung, woraufhin er mit der Hand wedelte, weil ihm der Daumen schmerzte.

»Pillbury«, brachte er schließlich heraus. Steele schrie innerlich um Hilfe. Diesem Pillbury war er schon einmal nachgestiegen, als er mehr über Tony Tanner und Dorkas herausfinden wollte. Pillbury, das war ein Bier saufendes Jüngelchen mit kriminellen Ambitionen.

Tony zuckte zusammen und machte sich in seinem Sitz kleiner. Jedoch vergeblich, denn sobald Dorkas spürte, wie der Schmerz aus seinen misshandelten Fingern schwand, erläuterte er seine rettende Idee.

»Pillbury kann uns helfen«, sprach Dorkas voller Optimismus. »Ihm fällt sicherlich eine Möglichkeit ein, wie wir uns gefahrlos aus der Stadt verabschieden können.«

»Pillbury ist selbst spurlos verschwunden«, bemühte sich Tony Tanner, dem Dorkas’schen Enthusiasmus die Kraft der Fakten entgegenzusetzen.

Steele hingegen schien Lust auf ein Spielchen zu haben. »Wer ist dieser Pillbury?«, fragte er, und war sicher, dass seine Scheinheiligkeit nicht mitklang.

Weil Tony Tanner seinen Mund nicht schnell genug aufbekam, war es an Dorkas, seine Sicht der Person des Alexander Pillbury zu schildern. Steele stellte sich hochgradig interessiert, was Tony Tanner fast zur Verzweiflung brachte. Das wiederum erfüllte Steele mit einiger Freude.

»Es klingt, als ob uns dieser Kerl wirklich helfen könnte«, meinte er. »Wir sind nicht in der Situation, irgendeine Möglichkeit auszuschlagen.«

Dorkas stimmte dem Votum zu, Tony Tanner enthielt sich der Stimme und entschloss sich, mit seelischer Gelassenheit dem entgegen zu treten, was ihn nun erwartete.

 

Und es kam, wie Tony befürchtet hatte.

»Sie müssen Pillbury finden, Herr Tanner«, sagte Dorkas. »Organisieren Sie irgendetwas.«

»Es kann Tage dauern, bis ich Pillbury finde«, antwortete Tony und versuchte, den leicht bockigen Unterton in seiner Stimme nicht übermäßig auffällig werden zu lassen.

»Wenn Pillbury sich wieder die Kante gegeben hat oder wie er es auch immer nennt, dann liegt er tagelang neben dem Bett und schläft seinen Rausch aus. Ich habe außerdem keine Ahnung, wo ich ihn finden könnte.«

»Aber Sie wissen, wo Sie ihn suchen müssen?«, gab Dorkas gnadenlos zurück.

Steele schaute auf die Uhr. »Sie haben noch gute neun oder zehn Stunden Zeit, um diesen Pillbury zu finden«, sagte er. »Wenn der Kerl auch nur die Hälfte von dem bringt, was hier behauptet wurde, dann kann er unsere Probleme lösen. Wir dürfen diese Option nicht einfach fallen lassen.«

Für Tony Tanner blieb an dieser Stelle nur noch die Option, patzig zu werden, oder sich dem Druck der Umstände zu beugen. Er wagte noch einen schwächlichen Versuch des Rückzugs, in dem er auf den deutlich derangierten Zustand seiner Garderobe hinwies. Offener Hohn beantwortete diesen Einwand, und so prickelte Tonys Gesichtshaut und kündete von einer Verfärbung Richtung Rotbereich, während einige notwendige Einzelheiten durchgesprochen wurden. Dann hielt Steele kurz an, Tony Tanner stieg aus und schaute dem Lieferwagen nach, der sich mit bläulicher Abgasfahne entfernte.

Tony rammte die Fäuste in die Hosentaschen und stiefelte mit gesenktem Kopf los. Er fühlte sich, als würde er ein großes Schild mit der Aufschrift Ich blase in meiner Freizeit Frösche auf mit sich tragen. Jedem Passanten warf er unter den Brauen einen prüfenden Blick zu, ob der ihn vielleicht anstarrte oder in seinem Gesicht ein Zeichen von Missfallen erkennen ließ, angesichts eines derart heruntergekommenen Menschen, wie er zurzeit durch Tony Tanner dargestellt wurde. Nach einer Weile stellte Tony fest, dass diese Beschäftigung ihren Reiz verlor. Er beschloss, den Zustand seiner Stoffumhüllung als Ausdruck des persönlichen Stils zu werten und sich im Übrigen nicht viel mehr darum zu kümmern als andere, die entweder ähnlich abgerissen herumliefen oder die gar nicht auf ihre Mitmenschen achteten – die sechs bis sieben prüfenden Blicke, die er bemerkt hatte und die wie Nadelstiche auf seiner Haut brannten, stellte Tony bei seinen Überlegungen hintan.

 

Er fand ein Taxi und ließ sich zum Picadilly Circus fahren. Die Chancen, Pillbury um diese Zeit dort zu finden, waren denkbar gering, aber irgendwo musste er seine Suche ja beginnen. Während er das weiche Sitzpolster im Taxi genoss, ging er in Gedanken alle Adressen durch, an denen er Pillbury möglicherweise antreffen könnte oder zumindest jemanden finden, der ihm einen sicheren Hinweis gab.

Allein schon dieser Aufwand, der notwendig war, um Pillbury aufzutreiben, machte Tony wütend. Wenn Pillbury sein Dasein in einem Zustand zwischen ein wenig bewusster Anarchie und sehr viel Chaos verbringen wollte, dann war das im Grunde seine Sache. Aber wenn er, Tony Tanner, nun gezwungen war, sich diesen Regeln oder vielmehr Nichtregeln zu unterwerfen, dann empfand er das als schmerzhafte Herabsetzung.

Ohne dass er sich dessen selbst völlig bewusst war, ordnete Tony diesen Alexander Pillbury immer noch in die Kategorie der Kleinkriminellen ein, und wenn nicht in diese, dann in die benachbarte der asozialen Spinner. Und obwohl Tony Tanner jeden derartigen Verdacht weit von sich gewiesen hätte, war in ihm das instinktive Misstrauen des besitzenden Städters gegen den nomadisierenden Habe-Alles ebenso lebendig wie bei seinen entferntesten Vorfahren, die von den Wällen ihrer Wohnorte mit schmaläugigem Missfallen die vorbeiziehenden Wanderhirten beobachteten.

Es ging um nichts anderes, als um die Notwendigkeit, über den eigenen Schatten zu springen.

Eine Disziplin, in der er, wie Tony Tanner mit einem bitteren Zug um die Mundwinkel feststellte, in der letzte Zeit eine gewisse Routine gewonnen hatte. Im Grunde war Tony Tanner nichts als ein schlecht gewandetes Känguru, das ständig über seinen eigenen Schatten sprang. Tony Tanner, auf Mission, auf Geheiß unterwegs, ein Diener auf der Suche. Der Gedanke gefiel ihm plötzlich.

 

Das Treffen mit Lucille Chaudieu fiel ihm wieder ein. Sie hatte ihn völlig überraschend angerufen und ihn in eine Mischung aus Weihnachtseuphorie und Examenspanik gestürzt.

Morgen wollten sie sich treffen. Morgen, wenn es ihm denn gelungen wäre, sein ver… Leben in den Griff zu bekommen, hätte er sich mit diesem Wesen getroffen, für das die Bezeichnung Superweib noch nicht glanzvoll genug war. Und statt jetzt schon einmal anzufangen, sich zu duschen, zu parfümieren und die Zähne zu putzen, saß er, eingehüllt in ein deutliches Odeur von Kanalisation und eigenproduziertem Schweiß in einem Taxi und fragte sich, wie er Lucille beibringen könnte, dass er das Treffen nicht einhalten würde und sich dabei immer noch eine Option offen halten.

Bei Option dachte Tony an Jeremy Steele, und als im selben Moment eine grüne Limousine am Taxi vorbeifuhr, wurde ihm zusammen mit einem Schweißausbruch im Nacken bewusst, dass die Suche nach Pillbury einem guten persönlichen Zweck diente, nämlich ihm auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Gelegenheit zu erhalten, dem verpassten Rendezvous mit der Französin nachzutrauern, anstatt sich in beschaulicher Ruhe die Graswurzeln aus subterraner Position anzuschauen.

Der Gedanke gab Tony neuen Schwung. So viel davon, dass er in der Lage war, seine vorherigen Gedanken und Empfindungen als weinerliches Gesülze abzutun und bei vollem Bewusstsein ein neues Kapitel des Tages aufzuschlagen.

Es wäre aber auch zu schön gewesen, Alexander Pillbury in seinem Stammlokal am Piccadilly Circus aufzufinden. Weit und breit war keine Spur von ihm zu sehen, und die drei Typen, die dortherumlungerten und so aussahen, als würden sie Pillbury kennen, glotzten Tony nur blöde an, als er sie mit dem Namen konfrontierte. Immerhin erreichte Tony die Mailbox von Lucille Chaudieu, und nachdem er heimlich ein Dankgebet für die moderne Kommunikationstechnik zum Himmel gesandt hatte, säuselte er seine Nachricht in den Hörer und verlieh seiner Stimme einen erotischen Schmelz, zusammen mit einem Hauch männlich ertragener Verzweiflung, der jedes Frauenherz ins Wanken bringen musste, selbst wenn es sich um die bekanntermaßen recht abgebrühte Lucille handelte.

 

Auf seinem Weg durch London nutzte Tony Tanner die Untergrundbahn, den Bus und das Taxi und legte zwischendurch immer wieder weite Strecken zu Fuß zurück. Wenn er sich am Anfang auch selbst gesagt hatte, dass diese Vorsichtsmaßnahmen überflüssig seien und eher seinem Sinn für Inszenierung als den Tatsachen entsprangen, änderte sich seine Haltung schnell. Er selbst wusste nicht, ob sich sein Instinkt meldete oder ob das Katz-und Mausspiel, das er selbst begonnen hatte, langsam seine Wahrnehmung prägte. Ständig überkam ihn das Gefühl, beobachtet zu werden, immer war die Empfindung von prüfenden Blicken in seinem Nacken da, und jedesmal, wenn er sich schnell umwandte, war da jemand, der gerade in diesem Augenblick den Kopf wegdrehte, angelegentlich vor einem Schaufenster stehen blieb oder sich schleunigst durch einen Hauseingang aus dem Staub machte. Seine Kleidung, sein Geruch. Da musste was zu machen sein. Tony Tanner verschwand in einem Fastfoodrestaurant und begab sich auf die Toilette. In Rekordzeit wusch er seine Hände und sein Gesicht, machte die Haare nass und kämmte sie nach hinten, fieselte seinen Kram aus den Jacketttaschen, nässte den Ärmel des Jacketts mit Wasser und Seife und rieb sich die gröbsten Flecken aus der Hose. Diese bestand aus einem teuren und dankbaren Stoff, denn die Flecken verschwanden nach und nach tatsächlich. Tony Tanner fuhr aus dem Hemd, riss sich das verschwitzte Unterhemd vom Leib, machte es nass, wischte seinen Oberkörper ab, und warf das Unterwäscheteil in den Mülleimer. Dann seifte er sein Oberhemd ein und knetete es unter dem fließenden Wasser.

Ein anderer Kunde betrat den Waschraum. Tony Tanner murmelte etwas von »Scheiß-Ketchup«, was der Fremde zu verstehen schien. Jedenfalls deutete er vielsagend auf den Handtrockenfön. Tony dankte in einem Anflug von Eitelkeit seiner eigenen Vernunft, für seine Reisen besondere Kleidung zu besitzen. Alle seine Hemden trockneten schnell und waren zudem bügelfrei. Nach einer Viertelstunde machte Tony Tanner wieder einen halbwegs passablen Eindruck. Das zerfetzte Jackett wanderte ebenfalls in den Mülleimer, und im Hinausgehen schnappte sich Tony Tanner, einer ekligen plötzlichen Laune folgend, einen gelblichen Herrenblazer vom Kleiderständer, klemmte ihn sich wie zufällig unter den Arm, und verließ den Imbiss unbehelligt. Zwei Straßen weiter zog er sich den Blazer über, verteilte seinen Kram in die Taschen und hastete weiter.

 

Das Gelb de Blazers passte nicht zum Beige seiner Hose und dem RosÈ des Hemdes.

Tony Tanner hatte sich unbehaglich verändert. Er merkte, wie eine aufkommende Panik jeden seiner Gedanken verformte. Sein eigenes Gesicht, gespiegelt im Fenster einer U-Bahn, trug die Züge eines Gehetzten und Halbirren, dessen Augen mit nervösem Flackern umherirrten, als wollten sich seine Blicke wie wildgewordene Tiere selbstständig machen. Links neben ihm, vier Schritte entfernt, saß ein Mann. Er trug normale Sommerkleidung, gab sich unauffällig, aber Tony hatte deutlich gespürt, wie der Fremde, als er sich unbeobachtet glaubte, ihn mit seinem Augen abgetastet hatte, mit der schamlosen Offenheit dessen, der sich eine Ware anschaut, die schon ihm gehört. Tony stand im Gang und schwang mit den anderen Fahrgästen in den Rhythmus, den ihnen die Bewegungen des Wagens aufzwangen. Er hielt sich mit der einen Hand fest, und ihm wurde schlagartig deutlich, wie hilflos er war, mit seinem Arm, den er nur unter Mühen bewegen konnte und der jetzt nutzlos herunterhing, weil kein Gedanke daran war, mit ihm zur Halteschlaufe zu greifen.

Der Mann blickte auf und erhob sich. Der Ausgang an der anderen Seite war näher, aber der Mann wandte sich in die Richtung, in der Tony stand und sich in diesem Moment vorkam wie ein Stockfisch, der zum Trocknen an der Leine baumelt. Sein Puls raste, aber während sich sein Körper straffte und das Blut schneller durch die Adern schoss, war sein Geist wie gelähmt und träge wie ein Reptil an einem kalten Tag. Tony registrierte jede Einzelheit an dem Mann – das Hemd, das zu bunt und zu weit offen war und das die schwarzen Brusthaare sehen ließ, als wäre der Mann ausgestopft und das Füllmaterial würde aus einer geplatzten Naht hervorquellen. Der Mann war muskulös in der Art, die sich nur an den Geräten von Fitness-Studios bildet. Er hatte eine Narbe am Kinn, seine Nase war etwas platt und die dunklen Augen hatten einen herausfordernden Blick. Der Mann schob sich vorwärts, wartete direkt neben Tony, als der Zug über eine Weiche raste und der Wagen in größere Schwankungen geriet. Dann drängte er sich an Tony vorbei und ging zur Tür, die er an der nächsten Haltestelle durchschritt.

Tony hätte am liebsten laut aufgelacht. Aber das befreiende Glucksen blieb ihm wie ein vergifteter Apfel im Halse stecken, denn ihm wurde sofort klar, dass es sich um den primitivsten aller Tricks handelte, und dass er fast darauf hereingefallen wäre. Natürlich kamen die Kerle immer zu zweien. Der eine stieg aus, um das aufmerksam gewordene Opfer in Sicherheit zu wiegen …

 

Fluchtartig verließ Tony an der nächsten Station den Wagen und eilte nach oben, auf die Straße. Er hatte gehofft, dass er in einer Menschenmenge verschwinden könne, aber die Gehwege waren wie blankgeputzt. So stürmte er weiter, kontrollierte in jedem spiegelnden Gegenstand, ob sich Verfolger hinter ihm befänden, und musste sich schließlich eingestehen, dass er sich selbst in eine Vorstellung verrannt hatte, die ihm nun so hilfreich war wie eine Eisenkugel am Bein.

Die Erkenntnis hatte, wenn sich Tony auch eingestehen musste, dass er auf seine alten Tage zur Hysterie zu neigen schien, etwas Aufbauendes. Er zupfte sein neues Outfit zurecht machte sich munter auf die Suche nach Pillbury. Er klopfte an den Türen von Hinterstraßenclubs und befragte den Teil eines menschlichen Gesichtes, der sich hinter einem quietschend aufgeschobenen Sehschlitz zeigte. Er stieg schmutzige Treppen zu schmutzigen Pubs hinunter, in denen im Dämmerlicht ein schneidend dicker Geruch von verschüttetem Bier und altem Frittieröl über den abgenutzten Tischen lag. Er näherte sich voller Gottvertrauen Gruppen von Menschenjungen, die um Lärmgeräte lungerten, aus denen mit äußerster Lautstärke Klänge sprangen, die auf Tony wie eine Rolle Stacheldraht in seinem Gehörgang wirkten. Er klapperte reihenweise kleine Autowerkstätten ab, deren Umgebung selbst dem Wohlmeinenden schon von weither signalisierte, dass hier auch ohne Wimpernzucken eine alte Fahrgestellnummer in eine genehme neue solche umgewandelt werden könnte.

Nirgendwo hatte Tony Tanner Erfolg. Immerhin schätzte er sich glücklich, dass der Name Pillbury überall bekannt war, er selbst also nicht in Gefahr geriet, als aufdringlicher Volltrottel dazustehen, aber außer einigen wilden Gerüchten wusste niemand etwas Genaueres über den Verbleib von Tonys Zielperson. Pillbury war wie vom Erdboden verschluckt.

Diese Boshaftigkeit sah dem Kerl durchaus ähnlich, stellte Tony fest und vergaß in seinem gerechten Zorn, dass am Beginn der Suche mit dem Gedanken gespielt hatte, ein wenig durch London zu fahren und dann Dorkas und Steele zu verkünden, dass er trotz aufreibender Suche und hohem persönlichem Einsatz leider und noch einmal leider keine Spur von Pillbury gefunden hätte.

Weil ihm die Adressen von zwei oder drei Leuten genannt worden waren, machte sich Tony noch einmal auf. Die eigentliche Suche hatte er inzwischen aufgegeben. Was jetzt kam, war Buße für seinen schändlichen Plan, Dorkas hinters Licht zu führen und ihn zu belügen.

Der Taxifahrer erkundigte sich zweimal, ob Tony wirklich diese Adresse meinte, und zuckte dann die Achseln. »Ich kann Sie bis auf zwei Straßen heranbringen«, erklärte er, »den Rest der Strecke müssen Sie zu Fuß gehen.«

Tony schluckte und bemühte sich um Haltung.

 

Je mehr sie sich dem Ziel näherten, desto schwerer fiel ihm das allerdings. Die schmutzigen Fassaden beiderseits der Fahrbahn dünsteten so etwas wie eine boshafte Traurigkeit aus, als würden sie sich besserer Zeiten erinnern und zugleich jedem, der nicht ihrem Abstieg in den Randbereich des Sozialen miterleiden musste, mit blankem Hass begegnen.

Ein Fleckenteppich halb abgerissener Plakate bedeckte wie Ausschlag die Wände und zeigte an, bis zu welcher Höhe sich die Plakatkleber recken konnten. Arabische Schriftzeichen breiteten sich wie Ranken über Toreinfahrten aus. Die Graffitis hatten eindeutig Schmutziges zum Inhalt. Die Gerüche, die durch das heruntergekurbelte Wagenfenster drangen, waren ebenso exotisch wie die Kleidung und das Aussehen der Passanten.

Ein solches Ambiente hätte Tony Tanner sicherlich zu schätzen gewusst – wenn es acht Flugstunden von seinem Wohnort entfernt gewesen wäre. Aber hierhin konnte man um den Preis einer U-Bahnkarte gelangen, und dieser Gedanke machte Tony die Kehle plötzlich trocken.

Der Fahrer hielt abrupt an einer Straßenecke an. »Weiter fahre ich nicht«, sagte er. »Sie müssen jetzt hier rechts und dann die nächste Querstraße. Überlegen Sie es sich gut, hier bekommen Sie nämlich in den nächsten Monaten kein Taxi mehr.«

Tony bedankte sich für das freundliche Angebot, bezahlte, stieg aus und ging dann an einer Gruppe verschleierter Frauen vorbei die Straße hinunter.

Nach einer Weile, während der er vorwärts gestürmt war, in einer Körperhaltung, als müsste er gegen einen Hagelschauer anrennen, bemerkte Tony Tanner, dass sich hier niemand um ihn kümmerte. Die Empfindung, in dieser Gegend ein exotisches Wesen zu sein, blieb zwar, aber Tony war offenkundig kein wirklich aufsehenerregender Exot.

An der nächsten Straßenecke blieb ihm die Wahl, nach rechts oder nach links zu gehen.

Er nahm den Weg nach rechts, in dem resignierenden Wissen, dass die erste Wahl sowieso falsch sein würde, egal in welche Richtung er ging.

Aus geöffneten Fenstern tönte Musik – fremdartige Klänge, die sich in immerwährenden Wiederholungen und unmerklichen Variationen wie endlose Luftschlangen über die Straße warfen. Hausfassaden und Straße dünsteten, obwohl sie schon im Schatten lagen, die fiebrige Hitze eines zu heißen Herbsttages aus. Aus der Kanalisation stieg ein übler Geruch auf und erinnerte Tony an die Ereignisse des Morgens, die er in den letzten Stunden sorgsam verdrängt und abgewaschen zu haben gehofft hatte. An den Fassaden waren die Hausnummern kaum mehr erkennbar. Als er schließlich eine der verwaschenen Zahlen fand und sie entziffern konnte, war klar, dass er in die falsche Richtung gelaufen war.

Die Musik klang immer noch genauso wie vorhin, nur Tonys Füße schienen am Ende ihrer Gebrauchsfähigkeit angekommen zu sein. Bei der Auswahl seines Schuhwerkes hatte er die Möglichkeit langer Märsche durch entlegene Stadtgebiete natürlich nicht in Betracht gezogen.

Endlich tauchte hinter einer Straßenbiegung ein Gebäude auf, das sich derart dreist und eigensinnig von der Umgebung abhob, sodass Tony sofort sicher war, hier die gesuchte Adresse gefunden zu haben.

 

Das Haus bestand aus einem Erdgeschoss und zwei niedrigen Obergeschossen, auf die ein steiles Dach gestülpt war. Das Dach wiederum erinnerte Tony ein wenig an alte Karikaturen, auf denen schlechte Schüler mit einer spitzen Papiermütze angetan in der Ecke des Klassenzimmers sitzen müssen.

Vor dem Gebäude lag ein kleiner Platz, auf dem sich eine krüppelige Platane nach dem Sonnenlicht reckte. Eine einfache Aufgabe war das sicherlich nicht, denn die umstehenden Häuser überragten den Baum ebenso wie das Haus, vor dem er stand, um mehr als das doppelte.

Vor dem Platz teilte sich die Straße in zwei Fahrbahnen, nur um sich hinter ihm wieder zu vereinigen. Sicherlich hatte diese Freifläche noch nicht einmal einen Namen. Sie wirkte dennoch eindrucksvoll, weil sich das querstehende Gebäude wie mit in die Hüften gestemmten Armen und eingezogenem Kopf der Straße entgegenzustemmen schien.

Ein hoffnungsloser Romantiker hatte den Verputz mit schwarzen Balken und Ständerwerk bemalt, um den Eindruck von Fachwerk hervorzurufen. Dass die Künstlerhand dabei weder von Kenntnissen über Fachwerkbau geleitet wurde, noch eine Ahnung von der Existenz der Schwerkraft mit ihren Zumutungen an den Bauherren zu haben schien, passte zu dem eigenwilligen Stil des Hauses.

Im Näherkommen, das sich jetzt immer langsamer abspielte, weil Tony die Blasen an seinen Füßen förmlich wachsen spürte, entzifferte er den Namen über der Tür. »The British Bulldog« stand da, als eine Art von Siegel, mit dem der erste Eindruck beglaubigt wurde.

Vier Treppen führten zu der Tür der Gastsstube hinunter. Tony stützte sich auf den Handlauf und stellte fest, dass das Holz glatt und irgendwie vertrauenerweckend war.

Als er die Klinke herunterdrückte, rührte sich die Tür keinen Zentimeter. In einem Anfall von wütender Energie, der von dem Gedanken begleitet war, dass dieses Haus geschlossen und alle Anstrengungen vergeblich sein könnten, warf sich Tony Tanner beim zweiten Versuch schwungvoll gegen die störrische Tür. Jetzt ging sie tatsächlich auf, schabte aber über den Boden und produzierte dabei ein sowohl lautes als auch höchst unanständiges Geräusch, das auf fatale Weise an eine Blähung erinnerte.

Bevor sich Tonys Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, registrierte er den Geruch von Bier, scharfen Soßen und gebratenen Zwiebeln, vermischt mit dem Aroma eines Fußbodenreinigers. Vor ihm lag ein langgestrecker Raum, der viel zu gewaltig für die wenigen runden Tische schien, die sich wie zerstrittene Verwandtschaft auf einer Familienfeier im rechnerisch höchstmöglichen Abstand zueinander befanden. Kein Gast war zu sehen.

Nach einer Weile, in der sich Tony überlegte, ob es hier angemessen wäre, sich akustisch bemerkbar zu machen, erklang aus der Tiefe der Räumlichkeiten das Quietschen eines Türscharniers. Als Tony zum Tresen gehumpelt war, tauchte auf der anderen Seite eine Gestalt auf.

 

Der Mann wirkte wie die Verkörperung aller Eigenschaften des Hauses, das er bewirtschaftete.

Bullig, breitschultrig, vierschrötig musste er sich quer durch den Türrahmen schieben, und dabei machte er dem Namen seines Lokals alle Ehre. Die Arme baumelten schlaff an den Seiten, und der in die Schultern gezogene Kopf gab der Art, wie der Mann lief, etwas Gorillaähnliches. Unter seinen schweren Schritten vibrierte der Boden, und die Flaschen im gegenüberliegenden Regal klirrten gegeneinander.

Der Mann stieß ein grunzendes Geräusch aus. Es schien sich um eine Begrüßung zu handeln oder zumindest um die Bestätigung, dass der Mann Tonys Anwesenheit bemerkt hatte.

Bevor Tony irgendetwas sagen konnte, begann der Wirt ein Bier zu zapfen, und nachdem er sich dieser Pflicht entledigt hatte, stellte er das Glas vor seinen Gast, und zwar mit einem Schwung, als handele es sich bei dem Untergrund nicht um eine blankgescheuerte Holzplatte, sondern um weichen Sand, in den man den Behälter hineinrammen muss, um ihn vor dem Umfallen zu schützen.

Nun war ein Bier so ziemlich das Letzte, wonach Tony Tanner in diesem Moment der Sinn stand. Aber die resolute Form von Gastlichkeit, die im Gebaren des Wirtes zum Ausdruck kam, ließ jeden Protest als ein unkalkulierbares Risiko erscheinen. Ein Blick in das Gesicht seines Gegenübers beseitigte endgültig jeden Zweifel. Gehorsam ergriff Tony den Krug und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit rann ihm angenehm über die Zunge, schmeckte gut und bewirkte ein wohltuendes Kribbeln im Magen. Vielleicht war es diese Empfindung oder vielleicht auch schon die erste anfeuernde Wirkung des Alkohols, die Tony Tanner bewog, einen zweiten Blick auf den Wirt zu wagen.

Der Kopf des Mannes war kahlrasiert. Auf der glänzenden Haut spiegelte sich das Licht, das durch das Fenster einfiel. Was an Haupthaaren fehlte, wurde durch Bartwuchs wettgemacht. Ein struppiger, gelblicher Schnurrbart lag wie eine exotische Raupe über der Oberlippe des Wirtes, folgte sodann dem Gebot der Schwerkraft und stürzte neben den Mundwinkeln in Richtung Kinn, wo die nächste Richtungsänderung stattfand und die Bart-Raupe die Kinnbacken entlang zu den Ohren kroch, die wie Haltegriffe vom Schädel abstanden.

Der Bart hatte sein Gegenstück in buschigen Brauen, die als durchgezogene Linie die Billardkugelstirn absperrten und deutlich signalisierten, dass jetzt Schluss mit lustig war. Für den Betrachter war diese Warnung durchaus von Vorteil, denn so geriet er nicht in Gefahr, angesichts der schwarzen, aus tiefen Höhlen finster blickenden Augen in voreilige Panik auszubrechen.

Zwischen den Augen verlief ein senkrechter, pfeilerartiger Vorsprung, der sich erst knapp über dem Bart anhand eines heftig vorspringenden Zackens, der ein wenig an den Absprung einer Skischanze erinnerte, als Versuch offenbarte, dem Gesicht eine originelle Nasenversion einzufügen.

Während Tony den Pegel seines Glases langsam senkte, lehnte sich der Wirt ein Stück weiter an die Theke, legte wie eine Sphinx die Unterarme auf und starrte gegen die Wand.

Seine Haltung entsprach einem großen Vorsicht, bissiger Hund-Schild. Für Tony wirkte das beeindruckend, zugleich war es ihm völlig egal. Er leerte sein Glas und hob es in Richtung des Wirtes. Inzwischen hatte er die Phase des großen Ihr könnt mich alle mal erreicht. In seinem Magen rumorte es, seine Füße brannten höllisch, und die Welt wartete darauf, gerettet zu werden. Scheiß drauf, das war die Summe aller Erkenntnis, die Tony jetzt wie einen Wimpel über diesem Tag flattern ließ, als er es sich in dem gestohlenen Blazer gemütlich machte.

Er bestellte ein weiteres Bier und Sandwiches, knackte genüßlich auf Zwiebelringen und fragte schließlich den Wirt, ob in diesem Lokal ein Alexander Pillbury bekannt sei.

Die Augenbrauen des Wirtes sackten noch ein Stück tiefer, sodass seine Augen wie Kopfjäger im Hinterhalt eines Dornengestrüpps verschwanden.

»Schon möglich«, knurrte er. »Und was will … einer wie Sie von Pillbury?« Dazu schürzte der Wirt die wulstigen Lippen und warf damit unsichtbare Küsschen über den Tisch.

Tony entschied sich, keine Verwirrung zu zeigen und leckte sich den letzten Klecks süßen Senf vom Finger. »Ich bin ein …« Hier wollte er eigentlich Bekannter sagen, entschied sich aber für Freund.

»Ein Freund, soso. Und da wissen Sie aber nicht, wo Ihr … Freund ist?«, forschte der Wirt und wackelte mit dem fetten Hintern.

»Alex liebt die Abwechslung«, antwortete Tony. »Auch was seine Adresse angeht.«

Der andere überlegte einen Moment, dann zielte sein Zeigefinger auf Tony Brust. »Name!«, forderte er dann, und es klang wie ein Zuschnappen.

Noch während Tony seinen Namen bekannt gab, ärgerte er sich, dass er auf diese barsche Aufforderung überhaupt reagiert hatte. Ihm blieb eine Weile Zeit zum Ärgern, denn der Wirt wackelte wortlos durch die Tür, blieb eine Weile verschwunden und kehrte dann mit einem Umschlag in der Hand zurück. Der Umschlag wurde neben Tony auf den Tresen geknallt, dass das leere Bierglas abhob.

Für Tony Tanner stand in einer bemüht sauberen, ungelenken Schrift auf dem Umschlag.

Innen war der Zettel eines Rechnungsblocks, oben mit einer Bierreklame versehen, auf dem Pillbury eine Adresse notiert hatte.

»Ist ein echt feiner Kerl«, sagte der Wirt plötzlich. Sein Gesicht und seine Stimme wirkten dabei allerdings keinen Deut freundlicher. Er griff umständlich nach einem nassen Lappen und wischte sich die Hände daran ab, als habe er etwas Schmutziges berührt.

Tony hielt den Zettel lässig zwischen zwei Fingern vor seinen Mund und schaffte es nur halb, den Rülpser zu unterdrücken, der ihm einen Nachgeschmack von Zwiebel und Gurke in den Gaumen spülte.

»Ein echter Gentleman«, sagte er. Sicherlich war er in diesem Moment, was die Definition des Begriffes Gentleman anging, zum ersten Mal im Leben in Übereinstimmung mit seinem Vater. Pillbury und sein alter Herr, wurde Tony Tanner plötzlich bewusst, würden sich auf eine verquere Art mögen.

Der Rest der Aktion gestaltete sich unvermutet mühelos. Wenn man davon absieht, dass der Wirt sich weigerte, einem Freund von Pillbury auch nur einen Penny abzunehmen und dass Tony bei sich leichte Schwankungstendenzen feststellte, als er zu dem Taxi ging, das ihm der Wirt besorgt hatte und das tatsächlich gekommen war.

 

Kichernd überlegte sich Tony Tanner, was Dorkas oder Steele zu seinem derzeitigen Zustand anzumerken hätten. Ihm fiel eine ganze Menge ein, und es war ihm alles völlig egal.

Trotzdem war er ganz zufrieden, als sich seine alkoholisiert-lockere Weltsicht mit zunehmender Nüchternheit wieder verdünnisierte.

Die Gegend, in der ihn der Fahrer absetzte, erinnerte ihn fatal an jenen Teil der Stadt, in der sie auf Steele und den neuen Wagen gewartet hatten. Neben der Straße verlief eine Ziegelmauer, auf deren Krone Glassplitter mit haiartiger Entschlossenheit in die heiße Luft bissen. Von einem Tor aus führte ein gepflasterter Weg zwischen schäbigen Gebäuden auf die Reste einer Krananlage zu. Überdimensionierte Schilder versprachen dem Besucher sensationelle Sonderangebote für Autoteile, riesige Rabatte für Teppiche oder eine besonders große Auswahl an großen Größen.

Die drei oder vier Gestalten, die Tony über den Weg liefen, schleppten umfangreiche Tüten und ächzten unter der Last verschiedener Kartons.

Mit steigender Nervosität fächelte sich Tony mit seinem Zettel Luft zu. Er sah sich um und fand nichts als ein heruntergekommenes Konsumparadies. Im Grunde war es weniger ein Paradies als eine Vorhölle, nach deren Durchschreitung man nur noch in den fürchterlichen Zustand des Verzichtens gelangen konnte.

Plötzlich vernahm er, halb unbewusst, scheppernde Klänge, die an eifrige Arbeit in einer Schmiedewerkstatt denken ließen. Die Gedankenkette bildete sich so schnell, dass Tony Tanner das Ergebnisprotokoll seiner eigenen Geistestätigkeit vorliegen hatte, noch bevor er sich über das Warum völlig im Klaren war.

Egal – was ihm eben durch das Oberstübchen gefahren war, lautete in etwa: Lärm, metallischer Lärm, Heavy Metal, Alexander Pillbury. Tony Tanner widerstand dem natürlichen Fluchtinstinkt des bekennenden Kulturmenschen und lenkte seine Schritte zu der Quelle des Lärmes, der sich beim Näherkommen nicht nur als lauter Lärm, sondern als infernalisch lauter Lärm zeigte.

Das Dröhnen drang aus einer kleineren Halle, die sich hinter einem größeren Exemplar versteckte. Was in Tonys Augen eindeutig darauf hinwies, dass diese kleine Halle Geschmack hatte, denn sie war so verfallen und verkommen, dass ihr Anblick den Augen ebenso weh tat wie die Musikberieselung den Ohren.

Eine Eisentür führte in das Innere des Gebäudes. Auf ihrer verwitterten Oberfläche hatten sich einige Männer mit Angaben über die Größe ihres Prachtstücks und kurz skizzierten Vorschlägen, wie man dieses Werkzeug nutzen könnte, verewigt.

Nach kurzem Stutzen war sich Tony Tanner sicher, dass diese Kerle übertrieben hatten.

Ein Mann, der seine mittelmäßigen literarischen Fähigkeiten auf Eisentüren und zu diesem speziellen Thema ausbreitete, musste sozusagen naturnotwendig übertreiben. Aber völlig sicher war sich Tony nicht. Einen Augenblick lang stand er kurz vor einer tiefen Existenzkrise. Dann wurde ihm klar, dass Existenzkrisen für ihn seit längerem Alltagsgeschäft waren, und so wandte er sich seiner eigentlichen Aufgabe zu.

Also schob er sich durch die Tür und widerstand dem Schalldruck einiger Lautsprecher in Wandschrankgröße, die in der Halle standen. Den Restraum, den sie nicht verbrauchten, nahmen ein Lastwagen mit Anhänger und einige Fahrzeugteile – Tony schätzte ihre Anzahl vorsichtig auf mindestens zehntausend – ein. Die intimsten Details von fahrbaren Untersätzen lagen offen vor aller Besucher Blicken, als würde hier eine stumme Talk-Show zum Thema Sara bella, mein Kolben hat einen Sprung stattfinden.

Die verschmutzten Fenster ließen nur ein mattes Licht herein. Zwar baumelten von der Decke einige Lampen, aber die zerborstenen Glühbirnen in den Fassungen dienten bestenfalls als Fanal der Vergänglichkeit und nicht als Lichtquelle.

Zwischen all den Fahrzeugteilen konnte Tony keine Spur von Pillbury ausmachen. Die Halle schien leer zu sein. Die Musik brachte die Luft zum Vibrieren, sie schien sich zu verfestigen und gegen seine Stirn zu stoßen. In seiner Hilflosigkeit griff Tony nach einem herumliegenden Schraubenschlüssel und hämmerte damit Dellen in einen ebenfalls herumliegenden LKW-Tank. Trotz aller Bemühungen waren seine Krachversuche stümperhaft im Vergleich zur Lautstärke aus den Boxen. Aber dieser Krach schlich sich in den hetzenden Rhythmus der Musik und störte ihn. Und siehe da: das Schicksal wollte, dass hinter einem Kotflügel und einem Zwölfzylinder-Motorblock eine dürre Gestalt in die Höhe wuchs, einen Schweißbrenner zur Seite legte und eine Schutzmaske abnahm. Dann drehte Pillbury an einem Schalter und plötzlich schepperten nur noch Tonys Schläge durch die Halle, bis der mit leicht gerötetem Kopf sein Werkzeug leise zur Seite legte.

»Schau an, schau an, wer stört denn da meine Ruhe«, grölte Pillbury und hüpfte zwischen den Ersatzteilen auf Tony zu.

Es gab zur Begrüßung eine herzliche Umarmung seitens Pillbury, und Tony stellte mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fest, dass Pillbury sich echt und wahrhaftig und unverblümt freute, ihn zu sehen.

Bevor sie noch ein weiteres Wort wechselten, fummelte sich Pillbury Stöpsel in Sektkorkengröße aus den Ohren.

»Geile Dinger, was, sehen aus wie Tampons für Elefantendamen«, sagte er.

»Es wäre vielleicht einfacher, die Lautstärke herunterzudrehen«, schlug Tony vor.

»Ach was«, antwortete Pillbury, während er Tony zu einigen ausgebauten Auto-Rückbänken führte, die in einer Hallenecke zu einer Art von Sitzgruppe arrangiert waren. »So ‘ne Musik muss man mit ordentlich Power hören, sonst kommt nichts rüber. Außerdem können die Boxen gar nicht leise, leise ist nix. Aber ich will mir natürlich auch nicht die Paukendecke kaputtmachen.«

Tony brauchte nicht einmal lange, um zu verstehen, dass Paukendecke Trommelfell heißen musste. Es lag ihm kiloschwer auf der Zunge, Pillbury kurz mit dieser Tatsache vertraut zu machen, aber er schluckte seinen Beitrag zur Volksbildung herunter. Vieleicht war jetzt Diplomatie wichtiger als Pädagogik.

»Ich promote diese Gruppe«, erklärte Pillbury. »Die kommen ganz groß raus. Obwohl mit den Interviews ist es immer schwierig, die Jungs sind ja alle schon fast taub und verstehen kaum was. Andererseits fragen die Journalisten sowieso immer nur dieselben Sachen, und am besten redet man gleich über Sex, dann fragen sie gar nicht mehr und schreiben nur noch mit.«

»Ich wusste nicht, dass du jetzt Geschäftsmann bist?«, sagte Tony mit ehrlicher Ehrfurcht.

Pillbury zuckte müde die Achseln. »Bin ich ja auch nicht«, bekannte er. »Ich tu nur so. Im Grunde ist das alles konkret Anarchie, verstehst Du? Punk, Baby, das ist der Punk! Punk in Reinkultur. Diese Typen sind so was von unmusikalisch, da könnte selbst ich noch mitspielen. Aber wir verpassen denen ein Image, lassen gute Songs schreiben, spendieren klasse Studiomusiker und mixen den ganzen Mist elektronisch ab, und alle finden das toll. Dieser ganze Kram kommt in die Charts und keiner merkt, dass es voll der Schrott ist.«

Pillbury klatschte sich vor Begeisterung auf die Schenkel.

»Weil es kein Schrott mehr ist«, sagte Tony Tanner trocken.

Pillbury schaute ihn entgeistert an. Seine Mimik war ein einziges Fragezeichen. Ein langgezogenes Hääääh war das Einzige, was er herausbrachte. Immerhin stellte er die Musik ab, und die Stille tat plötzlich richtig weh, so als habe man einem alten Mann die Decke weggerissen und seine miefige Nacktheit der bitteren Kälte preisgegeben.

»Es ist kein Schrott mehr. Es sind gute Stücke, gut gespielt, gut arrangiert, gut gemixt. Also ist es kein Schrott mehr.«

Pillbury tätschelte Tony mitleidig auf die Schulter. »Du verstehst das Prinzip nicht, Alter. Macht aber nichts. Wer den Punk nicht hat, der versteht eben nicht, wie das läuft. Ha!« Pillbury fuhr in die Höhe. »Ich hab was anderes für dich. Siehst du den Lastwagen?«

»Selbst ich kann ihn nicht übersehen.«

»Weißt du, wozu wir den Lastwagen brauchen? Weißt du natürlich nicht, war ‘ne rotorische Frage meinerseits …«

»Rhetorisch, es heißt rhetorische Frage …«

Pillbury stutzte, nagte für einen Moment an seiner Unterlippe, dann ging ein breites Grinsen über sein Gesicht.

»Du willst mich wieder linken, was? Kleine Prüfung, wie? Aber nicht mit dem alten Pillbury. Rhetorisch heißen so Leute in Europa. Wart mal, rhetorisch-Rumänen. Ich glaub’s nicht …«

Mit mahlenden Kiefern betrachtete Tony Tanner Pillburys strahlendes Gesicht. Für einen Moment stand der Diplomat warnend in ihm auf, der Talleyrand in Tony Tanner, und bemühte sich um kluge Zurückhaltung. Dann sagte Tony: »Was du meinst, sind Räto-Romanen. Die leben in der Schweiz, und ein Rhetor war …«

»Ha!« Pillburys Zeigefinger fuhr lanzenartig in Richtung auf Tonys Herzgegend. »Deine Schweizer Römer-Tomaten ziehen bei mir nicht, oder Rätselromanen. Du denkst, der alte Pilly hat zu wenig Bildung, aber pass auf: Weißt du, wer Carryblue ist?«

Tony Tanner hatte wirklich keine Idee und zuckte nach kurzem Nachdenken mit den Schultern.

Pillbury grinste. »Du hast einen Blazer von Carryblue an. Das ist ein Siebenhundertpfundblazer, Junge Junge, das ist nicht deine Spielklasse, sogar für einen Upperclassfuzzi ist das nicht deine Spielklasse. Und es ist ein Schwuchtelblazer, verstehst du, Carryblue ist ein Laden, in dem nur Schwuchteln kaufen. Der Inhaber arbeitet nur auf Maß … also, woher hast du den Fetzen? Hä?« Pillbury lachte jetzt aus vollem Halse.

Tony schälte sich aus dem Kleidungsstück, entnahm seine Sachen und stopfte sie in seine Hosentaschen.

Sein Sieg hatte Pillbury in allerbeste Stimmung versetzt. Tony privater Talleyrand konnte sich beruhigt zurücklehnen.

»Was ist denn nun mit dem Lastwagen?«, fragte Tony. Einerseits wollte er endlich das Thema wechseln und zweitens war er wirklich neugierig.

»Also«, Pillbury hob den Finger und sprach langsamer, als müsste er ein Rezept diktieren.

»Du nimmst diesen Lastwagen, fährst zur morgendlichen Hauptverkehrszeit auf irgendeine Kreuzung, stellst die Warnblinkanlage an und bleibst stehen. Dann steigst du aus, machst die Motorhaube auf, guckst da auf den Motor – Mann, das ist einfach geil.«

Die Begeisterung war für Tony nicht ganz nachvollziehbar, aber er bemühte sich redlich um Verständnis.

»Den Motor könntest du doch auch hier anschauen«, warf er lebensklug ein.

Pillbury klatschte sich die Hand vor die Stirn: »Das mit dem Motor ist doch nur, damit jeder denkt, Du hast eine Panne. Der Motor ist doch voll uninteressant. Was zählt, ist das Chaos. Du glaubst es nicht, alles bricht zusammen. Der Verkehr liegt über Kilometer lahm, nichts geht mehr, nur noch Stau. Irgendwann kommt auch ein Hubschrauber und du kommst mit deinem Stau sogar ins Radio. Mein Rekord liegt bei vollen acht Meilen.«

»Schön. Und was soll das?«

Pillbury schaute Tony Tanner mit mildem Blick an. Er gewann dadurch etwas von einem Heiligen, der einem Zweifler versichern kann Du bist zwar ein Volltrottel mit Carryblue-Klamotten, aber Gott liebt dich trotzdem.

»Es ist einfach cool«, ließ er sich dann zu einer genaueren Erklärung herab. »Cool und geil auch, eben irgendwie abgefahren. Hey, stell dir das einfach vor, Hunderte von Kerlen in ihren Autos, denen vor Ungeduld die Krawatte wegfliegt und du bist der Mann am Drücker.«

»So was ist total unsozial«, empörte sich Tony.

»Genau«, freute sich Pillbury. »End-unsozial, siehst du, Alter, dieses Wort habe ich gesucht. Es ist cool und voll end-unsozial.«.

Fortsetzung folgt …