Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.5
Aus der Küche erklangen Stimmen. Als Little, noch mit schlafkleinen Augen, hereingeschlurft kam, fand er Dorkas und Tony Tanner mit Tee versorgt am Tisch sitzen. Sie begrüßten sich. Tony Tanner sah schmaler aus, als Little ihn in Erinnerung hatte, und er hatte dunkle Ränder unter den Augen. Dorkas dagegen wirkte auf geradezu unanständige Weise erholt.
Seine Seele hatte ihre Reise ebenfalls beendet und war angekommen. Er war wieder in seinem London, in seiner Wohnung, kurz in seinem Biotop und saugte die Umgebung auf wie ein ausgedörrter Schwamm, bis er pausbackig und prall hinter seiner unvermeidlichen Teetasse sitzen konnte.
»Setzen Sie sich«, wedelte er Little heran.
»Ich wollte nicht stören.«
»Jetzt lassen Sie diese Jungmädchenallüren. Wir führen keine Geheimgespräche. Vielleicht finden Sie eine Antwort auf die Frage, die mit Herr Tanner eben stellte. Er wollte doch wirklich wissen, was unsere Reise für Ergebnisse gezeitigt hätte. Als ob wir Vertreter für Miederwaren wären!«
»Nun zumindest haben wir interessante Menschen kennengelernt.«
»Das können Sie auch in London«, warf Tony Tanner ein.
»Aber nicht die Art, die wir meinen«, stellte Dorkas kategorisch fest.
»Also, für mich reicht der heimische Vorrat.«
»Erinnern Sie mich, dass ich nachschauen muss, was es mit dem Auge Luzifers auf sich hat.«
»Warum schaffen Sie sich nicht endlich ein Filofax an? Es gibt auch eine billige Version mit Kunststoffhülle.«
Statt einer Antwort auf die ausgemachte Frechheit Tony Tanners stand Dorkas und versorgte Little mit Tassen, Tellern und Besteck. Erst als sein Gast mit dem Frühstück beginnen konnte, setzte er sich wieder und wandte sich Tony Tanner zu.
»Sie sind also absolut sicher, dass dieses Mädchen, das Sie aus der Klinik Serebriakoffs geholt haben, diejenige mit dem Mondkind ist?«
Little kippte die Toastscheibe, die er gerade mit Ingwermarmelade bestrich, aus der Hand und landete – Butterseite unten, was sonst – auf dem Tischtuch. Die Gespräche in dieser ansonsten eher trivialen Küche erinnerten Little manchmal an den Effekt, den er bei Mafiafilmen bemerkt hatte. Auch da gab es einen absolut surrealen Gegensatz zwischen der scheinbar normalen Umgebung und dem, was dort besprochen wurde (Du hast Nicolo endlich kalt gemacht, ja? – Ja, hab ich! Ich hab gesagt Grüße von Tinto und dann hab ich ihm die Stirn durchgepustet. – Sehr gut. Gib mir mal den Parmesan rüber. Spaghetti ohne Parmesan sind wie ein Sonntag ohne heilige Messe. Was habt ihr mit der Leiche gemacht? – Francesco wollte mit der Kettensäge ran. Aber ich hab gesagt, was machst du mit der Schweinerei hinterher. Stundenlang die Säge putzen, so ein Dreck! Und wenn man Messer nimmt, dann ist man stundenlang am Schnitzeln dran bei dieser fetten Sau. – Und wo ist er nun? – Wir haben ihn in die Tierverwertung gebracht und zwischen die Schweine für das Tiermehl gelegt. – Genau das hat dieser Verräter verdient. Luisa, wo bleibt denn nun mein Espresso?)
Little hob den Toast auf und kratzte unter den erheiterten Blicken seiner beiden Tischgenossen Butter und Marmelade von der Decke.
»Wieso sollte sie sich so eine Geschichte ausdenken?«, fragte Tony Tanner.
»Warum müssen Frauen jede freie Fläche mit Häkeldecken belegen und alle zwei Wochen die Möbel umstellen?«
»Passen Sie auf. Ihre Meinung über Frauen in allen Ehren, aber dieses Mädchen ist geradezu sensationell normal. Die weiß nicht mal, was ein Horrorroman ist. Die denkt sich so was nicht aus. Und kommen Sie mir nicht mit Tiefenpsychologie und jungschen Archetypen und sonst was.«
Tony Tanner schob die Füße unter den Tisch und lehnte sich zurück. Man konnte an allem zweifeln, natürlich konnte man das. Man konnte alles zerreden, durch den Fleischwolf von Argumentationen drehen und nach Widersprüchen suchen. Das konnte man und darum waren die Anwälte so wohlhabend und liefen sie viele Verbrecher frei herum. Aber er selbst hatte neben dem Mädchen gesessen, als sie ihm und Grands die Geschichte erzählt hatte und der Schrecken, der sich in ihren Augen spiegelte, erschien Tony Tanner als ausreichender Beweis der Wahrheit. Es war im Grunde eine herzzerreißend banale Geschichte. So begann mit Mädchen trifft Jungen. Für das Mädchen war es das erste Mal, dass sie sich die Nächte um die Ohren schlug, gegen die Decke starrte und dort das Gesicht eines Jungen erblickte. Sie war nicht der Typ für emotionale Kreuzfahrten. Vater Buchhalter, Mutter Hausfrau, Ex-Lehrerin; das Mädchen war die einzige Tochter – intelligent, ohne übermäßig tiefschürfend zu sein; selbstbewusst; schlagfertig; durchschnittlich hübsch mit der Möglichkeit, sich entsprechend aufgebrezelt im oberen Drittel der Partyschönheiten zu etablieren. Sie nutzte das Potenzial nicht, sie war kein Partytyp, aber auch kein Stubenhocker. Fester Kreis von Freundinnen; keine Schulprobleme; mäßige, äußerst elternfreundliche Pubertätsrevolte; nachmittags oft auf einem Reithof; zwischendurch Babysitting, sie war beliebt und hätte viel mehr Aufträge haben können; am Wochenende die Disco im Jugendklub der Gemeinde; zwei oder drei Mal im Jahr ins Scala in der Pentonville Road; Alkohol wie jugendüblich, Zigaretten, wenn es sein musste, um nicht als Spielverderber zu gelten; Piercing am Nabel nach mehrmonatigem Kampf mit dem Vater; die Schmetterlingstätowierung auf der rechten Pobacke kennen nur ihre besten Freundinnen; Pferde sind interessanter als Jungs; knutschen nur mit Promille am Samstagabend, dann sogar mit Zunge, aber das war’s dann; Zukunftsvorstellung: Irgendwas mit Tieren, vielleicht auch Lehrerin, bloß kein Bürojob, aber vielleicht auch Heirat und Kinder. Sie mag Kinder. Dann tauchte dieser Typ auf. Tatsache war, dass sie keine Ahnung hatte, wer er war, woher er kam, und was er machte. Tatsache war, dass es ihr völlig egal war. Er quatschte sie an, obwohl Lucilla dabei war und Lucy trägt immer einen Rock, so kurz, dass sie einen zweiten Lippenstift braucht, und arbeitet sich stundenlang vor dem Spiegel um, bis sie aussieht wie die Zwillingsschwester von Britney Spears. Aber Lucys Keulen waren nicht das, was der Junge wollte. Der Rest ergab sich mit geradezu mechanischer Notwendigkeit. Sie trafen sich drei Wochen lang. Er drängte sie nicht. Im Grunde war sie es, die zuerst das Thema Sex ansprach und sozusagen die ersten handwerklichen Schritte einleitete. Als es dann geschah, war Vollmond. Sie hatte es nicht gewusst und nicht darauf geachtet. Sie merkte es, als das Mondlicht in ihr Zimmer schien – die Eltern waren für zwei Tage fort – und Schatten auf die Wand gegenüber ihrem Bett warf. Und dieser Schatten war es, der zuerst eine Veränderung anzeigte, die das Mädchen selbst noch nicht bemerkt hatte. Da lag er noch auf ihr und sie spürte seine Erregung und wusste, mit einer Mischung aus Furcht und Freude, dass es bald so weit sein würde und fragte sich, ob sie das Laken später würde wechseln müssen und er küsste ihren Hals, es kitzelte angenehm und sie drehte den Kopf zur Seite und sah den Schatten. Das heißt zuerst sah sie ihn nicht, weil sie die Augen geschlossen hatte und dann öffnete sie die Augen und sah den Schatten und dann schloss sie die Augen wieder und dann öffnete sie die Augen erneut und sah den Schatten und bemerkte eine Veränderung.
Instinktiv verkrampfte sie sich, bevor sie überhaupt registrierte, dass auf dem Rücken ihres Freundes etwas gewachsen zu sein schien. Sie dachte an den Ellbogen, der als Zacken hervorstand, aber er hatte seine Position nicht gewechselt. Aber dann wuchs – sie konnte zusehen, wie er wuchs – so etwas wie ein zweiter Zacken aus dem Rücken. Sie dachte an die Bilder von Märchendrachen und ihrem gezackten Rücken, und als sie es dachte, war es noch ein neutraler Gedanke, ohne Beigeschmack von Todesangst. Ihre Hand, die vorher neben ihrem Schenkel gelegen hatte, fuhr hoch und strich über seinen Rücken. Seine Haut war rau und hart und sie hatte fast das Gefühl über eine verrostete Eisenplatte zu streichen. Dann merkte sie, wie der Körper über ihr kalt wurde. Es war so auffällig, dass sie den Effekt später – als sie Grands und Tony die Geschichte erzählte – mit einer Haustüre verglich, die man mitten im Winter öffnet und in den Schnee hinaustritt. Instinktiv wehrte sie sich. Es war zuerst eher eine Abwehrbewegung, ohne Aufwendung besonderer Körperkraft. Aber es schien ihm zu gefallen.
Er drückte ihre Arme auf die Matratze. Jetzt sah sie wieder sein Gesicht. So seltsam es klingt, hatte sie sein Gesicht eine Viertelstunde, in der sie sich mit geschlossenen Augen küssten oder sie sich seinen Berührungen hingab, nicht gesehen. Nun sah sie es und wollte schreien.
Es war das Gesicht, das sie kannte und liebte, aber es war auf eine Art anders, die sie schreien ließ. Um genau zu sein, sie versuchte zu schreien, aber er stopfte ihr die Hand in den Mund. Sie biss darauf und spürte Blut in ihrem Mund. Zumindest war es eine Flüssigkeit, denn das Mädchen wusste, wie menschliches Blut schmeckt und dieses schmeckte nicht wie menschliches Blut. Dem Jungen schien es zu gefallen. Er lachte. Es war ein raues, dröhnendes Lachen, so verändert wie das gesamte Gesicht. Vor allem die Augen erschreckten das Mädchen. Sie waren wie Wasserlachen, auf denen sich eine Eisschicht gebildet hat. Und darin waren die Pupillen und das Mädchen schwor, dass die Pupillen wie die von Ziege aussahen.
Er drang in sie ein. Es war, als hätte man heißes Wasser in ihren Leib gegossen. Sie spürte, wie der Schmerz alles durchdrang und durch ihren Körper wanderte, bis schließlich die Fingerspitzen brannten, als hätte sie auf eine glühende Herdplatte gefasst, und jede Haarwurzel am Kopf war wie ein brennendes Streichholz, das man in ihre Haut gedrückt hatte. Der Junge – oder das Wesen, das vorgegeben hatte, ein Junge zu sein – tobte sich auf ihr aus. Er nahm seine Krallen aus ihrem Mund, weil sie sowieso keinen Laut mehr hervorbringen konnte, kratzte ihr die Flanken auf, biss ihr in die Brustwarzen, riss ihr das Piercing aus dem Nabel. Schließlich entlud er sich und erfuhr eine Steigerung des Schmerzes und war sicher, dass ihr Unterleib jede Sekunde platzen müsste wie ein überdehnter Ballon. Er packte ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzuschauen. Sie wimmerte und bat ihn aufzuhören, als wäre es immer noch der Junge, den sie vor einigen Minuten geküsst hatte. Aber in jedem seiner Züge lag etwas, was sie nicht verstand, was aber ein Mensch wie Dorkas als Höchstmaß an de Sad’scher Perversität beschrieben haben würde. Für das Mädchen war es einfach ein Teufel, ein abartiger Teufel von eiskalter Schönheit. Sie fiel in Ohnmacht und erwachte erst wieder, als er schon längst fort war. Sie lag in einer Blutlache, überall hatte sie Wunden und blaue Flecken und Prellungen, aber sie raffte sich dennoch auf und begann, die Spuren zu beseitigen. Als die Eltern zurückkamen, fanden sie ihre Tochter fiebrig und krank vor. Sie erklärte es als eine Erkältung und versuchte, ihr Alltagsleben wieder aufzunehmen. Sie ging wie immer zur Schule und traf sich mit ihren Freundinnen. Aber sie war leichenblass, fühlte sich schwach, litt unter ständigem Brechreiz, hatte in jeder Nacht Albträume. Die Pferde benahmen sich anders ihr gegenüber, schreckten zurück, sobald sie sich näherte, und ließen sich nicht reiten. Auch einige Säuglinge begannen bei ihrem Anblick zu kreischen, sodass die peinlich berührten Mütter das Mädchen bitten mussten, eine Ersatzaufsicht zu organisieren.
Nach einigen Tagen bemerkte sie, dass sie schwanger war. Etwas wuchs, mit der Geschwindigkeit eines bösartigen Tumors. Aber es lebte. Und es hatte seine Lust daran, das Mädchen zu quälen. Oft genug fiel sie vor Schmerzen fast in Ohnmacht, wenn dieses Ding, das ihren Leib besetzt hielt, gegen ihre Organe trat oder schlug, bis sie Herzrhythmusstörungen bekam. Ihr Unterleib blähte sich mit erschreckender Schnelligkeit auf. Wenn an einem Tag noch eine Hose passte, dann musste am nächsten eine Sicherheitsnadel als Verschluss dienen. Das Mädchen veränderte sich. Sie bemerkte es erst wirklich, als sie eines Nachts, wie in einem plötzlichen Moment von Helligkeit, ihre blutigen Hände bemerkte und sich Reste von Katzenfell zwischen den Zähnen hervorzog. Ihre Mutter sagte ihr, dass irgendein wilder Köter die Gegend unsicher mache und Hunde und Katzen verschwinden würden, von den Taubenkadavern mal ganz abgesehen. Dann war ihr Zustand nicht mehr zu verbergen. Sie tischte ihrer Mutter eine Lüge auf und lief davon. Für einige Tage ließ sie sich von ihren Freundinnen versorgen und schlief in einem Anbau des Gemeindehauses. Dann war wieder Vollmond und sie spürte, wie es sich in ihr regte.
Vor Schwäche konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie verkroch sich in eine Ecke. Sie biss sich auf die Finger, um nicht zu schreien. Der Schmerz wuchs. Sie sah, wie sich ihr ballonartig geblähter Bauch regte, dann brach etwas in ihr und ergoss eitrige Flüssigkeit in den Raum, deren Geschmack ihr den Atem nahm. Das Mädchen wurde fast wahnsinnig vor Ekel und Schmerz. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Nach einer Weile hatte sie verstanden, dass diese spitzen Schreie aus ihrem eigenen Mund kamen. Zwischen ihren Schenkeln regte sich etwas. Sie spürte etwas aus sich hinausgleiten, sah es und fiel in Ohnmacht.
Der Pfarrer fand sie. Sie hatte das Glück, eine besonders fähige Mannschaft in der Krankenhausnotaufnahme vorzufinden. Es folgten zwei Wochen Intensivstation, Krankenhaus, Erklärungen, Verhöre, Medienaufruhr, dann kam Serebriakoff und wollte ihr über den Schock helfen.«
»Was hat er mit ihr gemacht«, fragte Dorkas, nachdem Tony Tanner seine Erzählung beendet hatte.
»Er hat versucht, ihr einzureden, dass sie spinnt. Freudsche Analysekunst, dann Hypnose, dann Drogen. Schließlich, als sie anfing, sich zur Wehr zu setzen, und zwar nicht nur durch Worte, kam sie eingewickelt in eine Zwangsjacke in die geschlossene Abteilung.«
»Warum hat er sie nicht umgebracht?« Wieder einmal stellte Dorkas die Frage mehr an sich als an die anderen.
»Das wäre wohl aufgefallen, schließlich wusste die Presse doch von ihrem Aufenthalt.«
»Was heißt das? Ich meine doch auch nicht, dass Serebriakoff sie persönlich erwürgt oder einen seiner Schergen ranlässt. Er kann das als Psychologe doch viel subtiler machen. Er entlässt das Mädchen als geheilt und drei Wochen später rennt sie vor einen Zug, weil sie den Zug nicht bemerkt hat. Die Möglichkeiten der heutigen Hypnose und Suggestion sind vielfältig.
Psychologen wie Serebriakoff sind die begabtesten Vernichter von Menschenleben. Von der Zigarettenindustrie mal abgesehen. Nein, unser Meister der Seelenkunde hatte mit dem Mädchen noch etwas vor. Fragt sich nur was. Wie geht es ihr jetzt?«
»Ganz erstaunlich gut. Der Doktor, bei dem sie ist, ich nenne aus ganz banalen Sicherheitsgründen seinen Namen nicht, hat sie prima hingekriegt. Er schüttet sie mit Mittelchen voll, dass ich zuerst gedacht habe Oh Gott, so ein Chemie-Freak, aber ich muss Abbitte tun. Die Säftchen haben geholfen.«
»Säftchen?«
»Nun ja, Gr … ich meine der Doktor, verschwindet immer für Tage in seinem Labor und kommt dann mit irgendeinem Saft oder einer Pille heraus. Er sagt, das Mädchen hat die Erlebnisse jetzt in ihrer Seele eingekapselt und muss sie … ähm nur noch ausscheiden, obwohl sich der Doc deutlicher ausdrückte. Das war übrigens der Moment, wo sich die Ex-Jungfer geradezu ausgeschüttet hat vor Lachen.«
»Das war’s dann wohl.«
»Wie meinen?«
»Ich meine«, erklärte Dorkas sanft, »dieses Lachen war die Art, wie das Mädchen die Erlebnisse loswurde.«
»Tja, da hab ich dann wohl was verpasst. Ich musste den Saft aufwischen, den das Mädel verschüttet hatte.«
»Immer Kavalier. Und was ist mit nun mit dem Mädchen?
»Kam gestern nach Hause zurück. Ich war mit ihr im Pferdestall. Die Gäule lieben sie und haben nur nach mir getreten.«
»Sind Sie vielleicht schwanger, Herr Tanner? Gut, ich gestehe, ich habe mein sonstiges Niveau mit dieser Bemerkung etwas unterschritten. Was ist mit Gainsworth?«
»Ein härterer Brocken. Er ist immer noch in der Entgiftung. Sieht aber besser aus als jemals in den letzten Jahren. Der Doktor hat ihn dazu gebracht, wieder zu malen. Gegenständlich, abstrakt ist verboten.«
»Hochgradig interessant. Konnten Sie sich mit Gainsworth unterhalten oder haben Sie sich nur mit dem Mädel abgegeben?«
»Dorkas, ich mag Ihren Unterton nicht. Ich habe mit Gainsworth gesprochen. Aber er sagt, wenn er es nicht gerade mit einem Jüngling getrieben hat, stand er unter Drogen und malte. Er behauptet, sein Galerist habe ihn ziemlich gehetzt von wegen Geld und so und deshalb sei er auch immer tiefer in den Drogensumpf geraten. Gainsworth hat keinen Überblick über seine Finanzen und scheint Schulden zu haben, obwohl seine Werke für Millionen verkauft wurden. Der Galerist versorgte ihn übrigens immer wacker mit Stoff.«
»Klingt nach Komplott.«
»Das glaube ich auch. Gainsworth sprach von einem letzten Werk, namens Topografie der Apokalypse. Sein Galerist hat die Leinwände, es müssen vier oder fünf sein. Danach sorgte er dafür, dass Gainsworth in der Klapsmühle Serebriakoffs verschwand.«
»Wie hübsch, wenn man seine Tage nicht in Müßiggang verschwenden muss«, knurrte Dorkas. »Wir müssen uns den Galeristen und dieses Werk anschauen.«
»Die Galerie hat dichtgemacht. Und Gainsworth weiß nicht, wo seine Bilder sind.«
»Dafür hat man Beziehungen. Sie erinnern sich an den Jungjournalisten, dem ich den Tipp mit der Zeusstatue zukommen ließ? Der arme Junge brennt darauf, dem alten Dorkas einen Gefallen zu tun. Und jetzt ist der Moment gekommen.«
»Eine nebensächliche Frage wollte ich noch stellen,« sagte Tony Tanner nach einem Moment der Stille. »Mr. Little sprach von einem Buch, das ihr in euren Besitz bringen konntet.«
Dorkas nickte und stand auf, um es hervorzukramen. Dann legte er den Folianten auf den Tisch. Tony Tanner streckte die Arme aus, um es zu sich heranzuziehen. Mit Little ging im gleichen Moment eine seltsame Veränderung vor. Er schien zu frieren oder sich zu verkrampfen, sein Gesicht nahm einen blassblauen Schimmer an, und seine Augen starrten in eine unbekannte Ferne. Auch Dorkas schien eine herannahende Abkühlung zu spüren, denn er raffte seine Strickweste zusammen und schüttelte sich. Leise klingelten die Teetassen.
Als Tony das Buch in den Händen hielt, ließ Little plötzlich einen derartig kläglich-schrillen Laut vernehmen, dass Tony Tanner zusammenzuckte. Das Buch fiel knallend zu Boden und blieb dort aufgeschlagen liegen.
Der Knall brachte Little in die Wirklichkeit zurück. Er nahm einen Schluck Tee und war bemüht, völlig normal zu wirken. Dorkas schüttelte sich wieder, und Tony Tanner wollte das Buch schuldbewusst aufheben, als Dorkas seine Hand auf seinen Arm legte.
»Ich glaube, das sollte ich tun …«, sagte er mit belegter Stimme. »Der Mensch kann seinem Schicksal wohl doch nicht entrinnen.«
»Sie sind doch gar nicht verheiratet!« sagte Tony Tanner.
»Lassen Sie Ihre Scherzchen, Mr. Tanner!« Dorkas bückte sich nach dem Buch und hob es auf. »Es heißt, es habe eine Bedeutung, wenn ein Buch auf diese Weise auf seine offenen Seiten fällt.«
»Meine Mutter machte das so, wenn sie nicht wusste, was sie zu Mittag kochen soll!«, meinte Tony Tanner. »Sie kochte dann, was dort zu lesen stand – nur hatte sie meistens nicht die richtigen Zutaten. Dann gab es etwas Undefinierbares, das mein Vater als Krotteldottel bezeichnete.«
Dorkas ignorierte dieses selbst der frugalen britischen Küche unbekannte Rezept, schob seine Brille nach vorn und beugte sich über die Zeilen des Buches.
»Können Sie das entziffern?« Little sprach mit rauer Stimme, aber er hatte das Gefühl, sich in der Runde zurückmelden zu müssen.
»Ich kann es, im Unterschied zu Ihnen, nehme ich an. Also, es übersetzt sich sinngemäß so: Achtet auf den Hahn, der die Schlafenden weckt, sein Schrei bringt zusammen die sich nicht kannten und trennt, die einander Vertraute waren. Dann ist keine Hilfe mehr, den Hahn zu töten, denn der Erweckten werden es viele sein. Aus einem werden zwei, und aus zwei werden drei und so fort. Dies geschieht, bis die Waage tariert sei. Was ihr in die Waagschale legtet, wird levitieren, und es ist kein Rat nützlich, solange der Schlaf nicht zurückkehrt.
Achtet auf den Hahn. Er ist an seinem Federkleid nicht zu erkennen.«
Für einen Moment bildete sich ein unsichtbares Dreieck zwischen den Männern, indem sie einander zu erkennen glaubten. Das Gefühl einer brüderlichen Verbundenheit wischte für den Augenblick sogar Tony Tanners leichte Eifersucht auf Little hinweg. Als Dorkas das Buch zuklappte, wich dieses Gefühl wieder, hinterließ aber doch einen winzigen Funken, der jedem vertraut und fremd zugleich schien.
»Heißt das, wir sollen einen krähenden Gockel suchen?« fragte Tony Tanner, um das weiche Gefühl in sich loszuwerden.
»Sie sind noch ein Knabe!« sagte Dorkas und wischte sich über die Stirn. »Und Sie, Little, sind noch ein kleiner Knabe.« Er schüttelte vielsagend den Kopf, und Tony Tanner verkniff sich die Bemerkung, dass er Dorkas in solchen Momenten für einen eitlen Gockel hielt.
Fortsetzung folgt …