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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 10. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8

Die Geliebte des Staatsanwalts

10. Kapitel

In der Falle

Es mochte gegen sechs Uhr nachmittags sein, als sich Sherlock Holmes dem Osten Londons zuwandte, um die starke Ausbuchtung der Themse – eine markante Stelle – aufzusuchen, an der sich Lady Likeness und Walker treffen wollten, um von hier aus die Flucht nach Amerika vorzunehmen.

Holmes hatte sich in eine Verkleidung gesteckt, in der er von Ruth nicht zu erkennen war.

Langsam schlenderte er das Ende seines Weges hinunter wie ein spazieren gehender Müßiggänger. Aus den umliegenden Fabriken kamen die Scharen der Arbeiter: Es war Feierabend für heute. An einer der Straßenecken, um die Holmes soeben bog, stand ein Konstabler, der den Spaziergänger befremdet musterte. Der Kommunikationsweg zur Themse hin war nur spärlich erleuchtet. Dort lagen die Wohnungen der Arbeiter und einige ver­rufene Branntweinschenken. Dem Konstabler musste es auffallen, dass sich ein wohlgekleideter Herr hierher ver­irrte. Er sah Holmes eine Zeitlang nach und folgte ihm sodann in einiger Entfernung.

Den heimkehrenden Arbeitern begegnete kurz hinter Holmes ein Paar, das mehr als der einsam wandelnde Detektiv auffallen musste. Es war Walker, an dessen Arm Lady Ruth Likeness hing, die dem Genossen ihrer verbrecherischen Taten vor einigen Straßen begegnet war und nun gemeinsam mit ihm dem gesteckten Ziel mit aller Eile zustrebte.

Holmes war soeben an einen Seitenarm der Themse gelangt und harrte auf die Fähre, um sich übersetzen zu lassen, als Walker mit seiner Begleiterin und mit ihnen der sie beobachtende Konstabler die Stelle erreichte, von der auch sie die Fähre benutzen wollten.

Plötzlich schoss ein bisher von Gesträuch verborgen gehaltenes Boot herbei und legte an dem niedrigen Ufer an. Zwei Männer saßen darin und zogen vor Lady Likeness ihre Mützen.

Es war ziemlich dunkel an dieser Stelle, und nur schwach drang der Lichtschein einer kleinen Laterne, die auf einer Bank des Bootes stand, an das Ufer.

»Steigen wir ein«, sagte Lady Likeness zu ihrem Begleiter.

In diesem Augenblick erschien der Konstabler. Ihm mochte die Sache verdächtig vorkommen.

»Halt!«, rief er hinunter. »Wer ist da?«

»Fort!«, sagte die Lady zu den Männern, die das Ruder führen sollten. Diese waren im Begriff, vom Ufer abzustoßen, als Holmes mit raschem Satz in den Boden des Kahns sprang.

»Bitte, nehmen Sie mich mit – der Beamte ver­folgt mich«, sagte er hastig und mit einem Gesicht der Angst, wie sie ein von der Behörde Verfolgter zeigen mochte.

Die Ruderer stießen auf einen Wink der Lady, ohne eine Antwort zu geben, ab und arbeiteten sodann mit vollen Kräften.

Der Konstabler rief noch einmal, doch das Boot war schon in der Finsternis verschwunden.

Schweigend saßen Walker und Ruth Likeness in der Mitte des kleinen Fahrzeuges und hörten die Entschul­digungen Holmes’ an, der sich, ohne erkannt zu werden, ihnen gegenübergesetzt hatte.

Der Himmel hatte sich in dunkle Wolken gehüllt; kein Stern war zu entdecken.

»Wenn wir verfolgt würden?«, bemerkte nun Walker zu seiner Begleiterin.

»Fürchte nichts. Wir kommen in eine Gegend, wohin sich nachts die Polizei nicht so leicht wagt«, entgegnete ihm die Lady.

Man langte bei einer steinernen Brücke an, auf der eine traurige Öllaterne brannte. Hier stieg man aus.

»Wenn Sie sich vor der Verfolgung der Behörde fürchten«, wandte sich Ruth Likeness an Sherlock Holmes, als dieser unschlüssig stand und sich umsah, »so gehen Sie mit uns. Wir können Ihnen für diese Nacht einen sicheren Schlupfwinkel bieten.«

Holmes sagte freudig zu und folgte dem voran­schreitenden Paar, hinter ihnen kamen die beiden Ru­derer, die das Boot am Ufer festgebunden hatten.

Nach wenigen Minuten hatten die fünf einen Platz erreicht, an dessen Ende ein Schanklokal lag, das, wie Holmes wusste, übel berüchtigt war. Es führte im Schild die Worte To the hell – das heißt Zur Hölle.

Dies Gebäude war erleuchtet und bildete gleichsam den Leitstern für die abendlichen Wanderer, die lautlos neben- und hintereinander daher schritten. Holmes hatte sich seines Revolvers in der Tasche vorsichtig versichert.

Auf der Landstraße hinter dem Lokal To the hell brannten keine Lampen mehr. Es war völlig dunkel. Zu beiden Seiten der Straße standen niedrige, zum Teil sehr baufällige Hütten. Hier hatte die äußerste Armut ihren Sitz aufgeschlagen, zu der sich oft genug das Ver­brechen gesellte.

Weiter ab von der Landstraße blinzelte ein kleines, ungewisses Licht. Auf dieses schritt Lady Likeness zu und die anderen folgten ihr schweigend. Als man sich dem Schein ganz genähert hatte, bemerkte man eine kleine Laterne mit roten Scheiben.

Eine dunkle Gestalt huschte an den Wanderern vorbei. Man hörte ganz in der Nähe eine knarrende Tür sich öffnen. Dieser zu richtete die Lady ihre Schritte. Ein Hund knurrte und schlug an. Er zerrte an seiner Kette.

»Still, Crystals«, sagte einer der Ruderer hinter Holmes, und im nächsten Augenblick trat an die Stelle des Gebells ein freudiges Winseln.

Man befand sich vor einer Hütte, die mit denen an der Landstraße große Ähnlichkeit hatte. Doch ließen sich nur die äußersten Umrisse erkennen. Lady Ruth pochte. Die Tür öffnete sich und eine Frau mit einem qualmenden Lichtende in der Hand stand vor den An­gekommenen. Sowie diese die Lady erblickte, verneigte sie sich tief vor ihr, fast ehrfurchtsvoll, während sie Holmes mit misstrauischen Blicken betrachtete.

»Ist alles zur Flucht bereit?«, fragte Ruth.

»Ja, Lady, alle, die Sie begleiten wollen, warten.«

»So halte gut Wacht, dass kein Verräter sich nähert«, erwiderte die Lady. »Dieser Herr«, wies sie erklärend auf Holmes, »ist ein Flüchtling vor den Behörden, wie wir – er will diese Nacht hier bleiben oder begleitet uns, falls er Lust hat.«

Man durchschritt den schmalen Hausflur, ging über einen engen, unreinlichen Hof und stand bald vor der Kellertür eines Hintergebäudes.

Die Lady öffnete. Sie ging einige Stufen hinunter. Der Raum war nur spärlich durch eine Stalllaterne er­leuchtet, es war ein Gang, an dessen Ende sich eine zweite Tür befand, durch deren Ritzen ein hellerer Licht­schein schimmerte.

Hier musste die Lady sehr bekannt sein.

»Wir sind zur Stelle«, sagte sie zu Walker, der blei­chen Angesichts schweigend neben ihr verharrte. So viel Holmes beobachten konnte, schien sich der junge Mann etwas unbehaglich zu fühlen. Er blickte ängstlich um sich. Aber an ein Entweichen war weder für ihn noch für Holmes zu denken; denn unmittelbar hinter ihnen standen die beiden Männer, die die Ruder des Bootes gehandhabt hatten. Holmes dachte auch gar nicht an Flucht.

Man trat durch jene Tür am Ende des Ganges in ein hell erleuchtetes und ziemlich anständig eingerichtetes Gemach. In seiner Mitte stand eine lange Tafel, die mit Speisen bedeckt war. Rings um sie liefen einfache Holzbänke, die etwa fünfzehn bis achtzehn Personen Sitz­plätze gewähren konnten. Ungefähr ein halbes Dutzend Leute saß an der Tafel, vier Männer und zwei weibliche Personen. Auf allen Gesichtern lag ein finsterer, ent­schlossener Ernst.

Beim Eintritt der Lady erhoben sich die im Raum Anwesenden wie auf ein Kommando.

»Es lebe die Freiheit!«, grüßte sie, und die anderen antwortete mit ähnlichen Worten.

Holmes warf einen prüfenden Blick auf die Anwesenden. Dann wandte er sich um. Die Tür war hinter ihm geräuschlos geschlossen worden.

Nun richteten sich aller Blicke fragend auf den ver­kleideten Detektiv. Die Lady stellte ihn vor, indem sie sagte: »Liebe Freunde, ich bringe euch in diesem Mann einen gleich uns von der Behörde verfolgten, der hier wäh­rend dieser Nacht einen Unterschlupf sucht und ihn durch meine Gutmütigkeit gefunden hat. Ich bin überzeugt davon, dass er, wenn er gehört hat, dass wir noch in dieser Nacht auf einem von mir geworbenen und bezahlten Dampfer England verlassen, um Amerika aufzusuchen, die Fahrt ohne Besinnen mit uns machen wird, wenn ihn nicht bestimmte Gründe an dieses Land fesseln.«

»Mich hält hier nichts zurück«, erwiderte Holmes mit verstellter Stimme, »ich bin bereit, mit Ihnen auszuwandern, wenn Sie mich würdigen, Gefährte auf Ihrem Dampfschiff zu sein.«

Eine allgemeine Zustimmung folgte diesen Worten.

»Ihr Name, mein Herr?«, fragte die Lady.

»Smithfield«, lautete des Detektivs feste Antwort.

Ruth Likeness setzte sich neben Walker und den Bootsführern an die Tafel und bat auch den neuen Gefährten, Platz nehmen zu wollen. Der Detektiv folgte der Ein­ladung bereitwillig.

»Habt ihr gespeist?«, erkundigte sich Ruth bei den an der Tafel Sitzenden, und als die sechs anwesend Ge­fundenen bejahten, befahl sie, für sich und die Hinzuge­kommenen ein opulentes Essen anfzutragen. »Zur Stärkung, bevor wir uns auf den Weg zum Schiff machen«, wie sie erklärend hinzusetzte.

Während die Pförtnerin mithilfe zweier Frauen das Gewünschte auftrug und die Lady nebst den Letztgekommenen den Speisen zusprach, wurde Frage und Ant­wort gewechselt.

»Hat der Kapitän unserer »BUSSNESS« die letzten Vor­sichtsmaßregeln getroffen?«

»Alle.«

»Wir werden nichts von den Behörden zu fürchten haben?«

»Nichts.«

»Wie steht es mit dem Zollamt?«

»Es wird uns nicht belästigen.«

»Sind meine Wertsachen an Bord?«

»Sie und alles andere«, lautete die Antwort.

»Ist jeder von euch davon überzeugt, dass man der spürenden Polizei und den Kriminalbeamten Sand in die Augen gestreut hat?«

Das Gesicht des einen Mannes, der das Boot ge­rudert hatte, wurde kirschrot.

»Was hast du, Burton?«, fragte die Lady.

»Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv, ist auf unsern Fersen«, knirschte der Gefragte zwischen den Zähnen hervor, »wir schweben in Gefahr, entdeckt und gefasst zu werden.«

Ein Murmeln des Zornes floss von aller Lippen.

»Sherlock Holmes – hm!«, sagte Ruth Likeness. »Der Name ist bekannt genug. Sie kennen ihn doch, Mr. Smithfield?«, wandte sie sich an den Detektiv, der mit stolzer Ruhe vor seinem Teller saß und mit einem schein­baren Appetit aß, um den ihn jeder andere beneidete.

»Holmes?«, wiederholte der Gefragte mit möglichst nachdenklichem Gesicht. »Nein«, fügte er nach einer Pause hinzu, während der alle Blicke voll Spannung an seinen Lippen hingen, »nein, ich kann mich gar nicht besinnen, diesem Mann jemals begegnet zu sein. Seinen Namen habe ich nur flüchtig gehört.«

»Ich desto öfter«, fiel die Lady ein. »Sherlock Holmes heißt der mich und mein Tun umspürende Spion, der mir gern etwas anflicken möchte, dem ich jedoch, trotz aller List und Schlauheit, überlegen bin und nun heute wieder ein Schnippchen geschlagen habe. Denken Sie einmal nach, Mr. Smithfield, ob Ihnen nicht dieser Mann wirklich schon begegnet ist. Sie kommen doch aus London, wo er überall da auftaucht, wo man ihn am wenigsten vermutet. Zum Beispiel befindet er sich in diesem Augenblick an einem Ort, den er, soviel ich weiß, zum ersten Mal in seinem Leben gesehen hat, aber auch – zum letzten Mal.«

Holmes sah sich durchschaut. Unbemerkt tappte er nach seinem Revolver – zu spät. Die neben ihm sitzenden Ruderer hatten die Hände mit eisernem Griff um seinen Arm gelegt und hinderten ihn an jeder Bewegung.

»Dieser Mr. Smithfield«, wendete sich Lady Likeness lächelnd an die um die Tafel Sitzenden, »ist Mr. Sherlock Holmes, unser Widersacher, der uns an den Galgen bringenwollte und nun durch einen Hinderungsgrund davon abgehalten wird.«

Ein kurzer unterdrückter Aufschrei des wütenden Er­staunens klang durch den Raum.

»Ich verlange, dass man mich ungehindert von hier entlässt«, sagte Holmes, ohne eine Miene zu verziehen. Je größer die Gefahr für ihn war, um so kaltblütiger wurde er.

»Auf einem Weg werden Sie diesen Raum verlassen, der von Ihnen weder erwünscht noch auch gewöhnlich ist«, antwortete die Lady mit zornsprühenden Augen. »Ich freue mich, dass ich, ehe ich den mir so heiß gewordenen Boden Englands verlasse, Gelegenheit finde, zum Schluss noch die Welt von einem Mann zu befreien, der durch seinen Scharfblick und seine Klugheit unsereinem ein gar zu gefährlicher Gegner geworden ist.«

In diesem Augenblick wurde hastig an die Tür ge­pocht.

»Verrat?«, schrie die Lady auf.

Die Pförtnerin steckte den Kopf durch die Tür. »Die Polizei ist in der Nähe«, rief sie herein.

»Alles hinweg – schnell!«, befahl Ruth Likeness mit fester, aber unterdrückter Stimme. Zu gleicher Zeit konnte man hören, dass sich hinten im Hof ein lautes Stimmengewirr und Waffengeklirr erhob.

Im Nu waren sämtliche Lichter bis auf eines aus­gelöscht, der Tisch und die Bänke beiseitegeschoben. Dann stiegen alle Anwesenden in großer, aber möglichst ge­räuschloser Eile eine Leiter hinab, die durch eine ver­borgene Falltür in die Tiefe führte.