Der Gefangene der Stadtvogtei – Kapitel 2
Der Gefangene der Stadtvogtei
Eine Berliner Kriminalgeschichte
von Jodocus Donatus Hubertus Temme
G. Behrend (Falkenbergische Verlagsbuchhandlung), Berlin, 1861
Kapitel 2
Ein Mädchen für alles
Eine Minute später traten Herr und Diener in ein sehr bequem und elegant eingerichtetes Zimmer.
Eine große Astrallampe erleuchtete es hell. Sie hatte wohl schon auf ihren Herrn gewartet.
Der Gegensatz dieses reichen, wohnlichen Gemachs gegen die kahle, nackte Zelle der Stadtvoigtei war allerdings ein großer.
Wir erlebten es in neueren Zeiten, dass Männer unmittelbar aus den Kabinetten der Könige in das Zuchthaus geworfen wurden; ein Umschlag der Dinge brächte sie dann wieder ebenso unmittelbar aus dem Zuchthaus in das Kabinett des Königs. Es hatte da ein politischer Umschlag der Dinge stattgefunden. Nicht immer mit dem Willen der Könige. Manche blieben auch im Zuchthaus, wenn nicht fremdes Land sie aufnahm.
Zu jener Zeit war es indessen noch nicht so.
»Nichts angekommen?«, fragte der Gefangene der Stadtvoigtei den Diener.
»Nur diese Einladung.«
Der Bediente nahm von einem kleinen Marmortisch ein Billett und überreichte es dem Herrn.
Der Herr las es.
»Vom Grafen Tichy! Zu heute Abend!«
»Der gnädige Herr werden hingehen?«, fragte der Bediente.
»Ja.«
»Ich habe für den Fall die Kleider des gnädigen Herrn zurechtgelegt.«
»Gut.«
Der Gefangene ließ sich den Mantel abnehmen. Er entledigte sich dann mithilfe des Dieners seiner Bekleidung als Essenkehrer und warf sich in den elegantesten Gesellschaftsanzug. Es war ein vollendet schöner Mann.
»Ist die Droschke angespannt?«, fragte er, als er fertig war.
»Zu Befehl.«
»Den Mantel!«
Der Diener hing ihm über die elegante Kleidung den Mantel.
Beide verließen das Zimmer.
Unten im Hausflur stand eine hübsche, leichte Droschke, mit einem stolzen, schnaubenden Rappen bespannt. Ein Stallknecht hielt das Pferd. Der Gefangene der Stadtvoigtei setzte sich in die Droschke. Sein Bedienter nahm den Bock ein und ergriff die Zügel des Pferdes. Der Stallknecht ging, das große Einfahrtstor zu öffnen.
»Zum Dönhofsplatz!«, befahl der Herr dem Diener, der nun den Kutscher machte.
Das Tor war geöffnet. Die Droschke fuhr hinaus. Sie bog in die Friedrichsstraße ein, dann in die Leipziger Straße. Am Dönhofsplatz hielt sie.
Der Gefangene stieg aus. Er ging einige Schritte zurück, in die Jerusalemer Straße hinein.
An einem Haus, dessen Kellerfenster hell erleuchtet waren, blieb er stehen.
Er horchte nach den hellen Fenstern hinunter. Es schien viel Leben da unten zu sein. Man hörte Gläserklirren, Lachen, Singen, von Männer- wie von Frauenstimmen.
Der Gefangene ging ganz dicht unter den hellen Fenstern dreimal auf und ab. Dann trat er auf die Seile in das Dunkel zurück und wartete auf etwas. Gleich darauf kam ein Mann aus der Tür des Kellers hervor. Er sah sich vorsichtig um, bemerkte den Gefangenen und ging auf ihn zu.
»Fertig?«, fragte ihn der Gefangene.
»Fertig«, war die Antwort.
»Um welche Zeit?«
»Um ein Uhr.«
»Gut. Ihr habt für alles gesorgt?«
»Ja.«
»Adieu bis um eins.«
»Bis um eins.«
Der Mann kehrte in den Keller zurück, der Gefangene zu seiner Droschke.
»Zur Marschallsbrücke!« sagte er zu seinem Kutscher. »Aber schnell.«
Er setzte sich in den Wagen.
Der Kutscher drehte, fuhr in die Leipziger Straße zurück, bog rechts in die Wilhelmstraße ein, durchschritt den Pariser Platz, fuhr durch die neue Wilhelmstraße, über die Marschallbrücke und hielt am Eingänge der Louisenstraße.
Der Herr stieg aus.
»Du wartest hier zehn Minuten«, sagte er zu dem Kutscher. »Dann fährst du im langsamen Schritt zum Karlplatz und wartest dort auf mich. Aber nur bis dreiviertel auf eins. Sollte ich bis dahin nicht da sein, so kehrst du rasch und ohne Aufenthalt nach Hause zurück.«
»Zu Befehl, gnädiger Herr«, sagte der Kutscher.
Der Gefangene der Stadtvoigtei ging in die Louisenstraße hinein. Nachdem er an zehn bis zwölf Häusern vorübergegangen war, hielt er an einem großen Haus an.
Einzelne Fenster desselben waren noch erleuchtet, mochte er es auch nicht erwartet haben. Auffallendes schien er nicht darin zu finden. Er schritt näher zu der Tür des Hauses, erfasste die Türklinke, um zu versuchen, ob die Tür verschlossen sei. Sie war nicht verschlossen. Er öffnete sie leise.
Er wurde aufgehalten.
Von der anderen Seite der Straße kam hastig ein Schritt heran. Der Gefangene hörte ihn. Er sah sich nach ihm um. Er trat zugleich ein paar Schritte zurück.
Er sah einen großen, kräftigen Mann eilig auf sich zukommen.
Eine entfernte Straßenlaterne an der Ecke des Karlsplatzes brannte noch. Sie warf ihren ungewissen Schein bis zu dem Haus, vor dem der Gefangene stand, dem der große, kräftige Mann sich eilig näherte. Der Schein traf die beiden Männer.
Der Gefangene stutzte plötzlich. Er schien den Nahenden zu erkennen. Seiner Überraschung schien Schrecken zu folgen. Er hatte schon vorher den Hut tief in das Gesicht gerückt. Er hüllte das Gesicht nun auch noch in den Mantel.
So sprang er rasch in das Haus. Die Tür schlug er ebenso rasch, aber mit fester, sicherer Hand, sodass sie kein Geräusch machte, hinter sich zu. In diesem Augenblick erst erreichte der andere sie.
»War er es?«, fragte der Mann sich halblaut.
Er stand ein paar Sekunden unschlüssig.
»Zum Teufel, ich muss es wissen!«, sagte er dann entschlossen.
Er wollte die Tür öffnen. Es war zu spät. Sie war von innen verschlossen.
Er knirschte wütend mit den Zähnen.
Das hörte der Gefangene noch, der in dem Haus an der Tür stehen geblieben war. Er verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. Dann horchte er noch eine Weile.
Es blieb draußen ruhig. Der Mann, der ihm hatte folgen wollen, hatte sich noch nicht wieder entfernt, man hörte ihn aber auch nicht mehr.
»Pah«, sagte der Gefangene leichthin.
Er ging tiefer in den Hausflur hinein, mit Schritten, so leise, dass ein Horcher draußen sie nicht hören konnte.
Er ging zu einer Treppe, die nach oben führte. Ehe er sie erstieg, blickte er in dem Flur umher. Eine Lampe brannte darin. Er sah gegenüber der Tür, durch die er gekommen war, eine kleinere Tür. Sie musste auf den Hof des Hauses führen. Sie stand offen. Dies schien ihn zu befriedigen.
Er stieg die Treppe hinauf, mit denselben leisen Schritten, mit denen er sich genähert hatte. Er erreichte den Flur des ersten Stocks. Hier stand er vor einer Wohnung, die durch eine breite Glastür abgeschlossen war.
Er näherte sich vorsichtig der Tür und sah durch die Glasfenster. Er blickte in einen langen, schwach erleuchteten Korridor. Er sah niemanden darin. Dreimal kratzte er leise an einer Glasscheibe. Dann trat er schnell zurück, hinter die Treppe, die weiter nach oben führte. Er konnte so in den Korridor der Wohnung sehen, ohne selbst gesehen zu werden.
Nach einigen Augenblicken öffnete sich hinten im Korridor leise eine Seitentür. Ein Frauenzimmer trat heraus. Sie trug die Kleidung einer Dienstmagd. Sie hatte das Gesicht mit einem weißen Tuch verbunden.
Sie lehnte die Tür so geräuschlos wieder an, wie sie diese geöffnet hatte. Dann ging sie in den Korridor hinein, der Tür zu, an der gekratzt war.
Aber wie fast unhörbar sie die Tür und den Schritt bewegt hatte, sie war doch gehört worden.
»Anna!«, rief befehlend eine Frauenstimme in ihrer Nähe.
Das Mädchen wollte schnell zurückgehen. Sie besann sich. Sie hielt ihren Schritt an. Man glaubte zu sehen, wie sie auch den Atem anhalte, um nicht gehört zu werden. Hatte sie geglaubt, täuschen zu können, so hatte sie sich geirrt.
»Anna!«, rief befehlender die Frauenstimme. »Ich höre dich wohl. Was treibst du dich in der Nacht herum? Im Augenblick komm her!«
Es war eine unangenehm kreischende Stimme einer alten Frau.
»Der verdammte alte Satan!«, fluchte der Gefangene in seinem Versteck hinter der Treppe.
Er zog ungeduldig eine goldene Taschenuhr hervor.
In fünf Minuten schon zwölf! Und um ein Uhr – hol der Teufel das alte Weib.«
Aber er musste sich in der Geduld üben.
Dem Mädchen mit dem verbundenen Kopf blieb keine Wahl. Sie ging zu der Seite, von welcher die Stimme der alten Frau gekommen war. Sie öffnete eine Tür.
»Was befehlen Sie, Madame?«
»Ich will wissen, warum du dich um Mitternacht im Haus umhertreibst.«
Ach, Madame, meine Zahnschmerzen waren so arg geworden. Ich konnte es nicht im Bett, ich konnte es nirgends mehr aushalten.«
»Muss man darum die Leute im Schlaf stören?«
Das arme Mädchen musste wirklich heftige Schmerzen haben. Sie seufzte tief auf über den Vorwurf. Und wohl über ihr Los.
Wenn die Madame Zahnschmerzen gehabt hätte, das ganze Haus wäre zusammengerufen und zusammenbefohlen, und das Dienstmädchen hätte hin und her rennen müssen, um dieses Mittel zu versuchen und jenes herbeizuholen, vielleicht nur um als Zielscheibe oder Ableiter für die Wut der Dame über den Schmerz zu dienen.
Die arme Dienstmagd sollte sich nicht einmal rächen dürfen.
»Aber da du auf bist«, rief die befehlende Stimme der Dame weiter, »so hole mir ein Glas Wasser. Aber ganz frisch, unten aus dem Brunnen.«
»Zu Befehl, Madame«, sagte gehorsam das arme Mädchen, die mit ihrem brennenden Schmerz auf dem Hof zum Brunnen in die kalte Regenluft gehen sollte.
Oder ging sie gern? Waren ihre Zahnschmerzen gar nur ein Vorwand bei der strengen Gebieterin gewesen?
Sie sprach jene Worte wenigstens ohne allen Unmut.
Sie kehrte schnell zu der Tür zurück, aus der sie zuerst in den Gang getreten war – es war wohl die Küchentür « und kam mit einer Wasserflasche wieder zum Vorschein.
Sie ging auf die verschlossene Glastür zu, an deren anderer Seite der Gefangene hinter der Treppe wartete.
Aber die strenge Gebieterin hatte sie wieder gehört.
»Wohin willst du da?«, rief sie zornig.
»Zum Brunnen, Madame.«
»Durch das Vorderhaus? Um Treppen und Gang nass und schmutzig zu machen? Du wirst über die Hintertreppe gehen.«
»Zu Befehl, Madame«, seufzte das gehorsame Mädchen.
»Ich möchte dem alten Drachen den Hals umdrehen«, knirschte ungeduldig der Gefangene mit den Zähnen.
Aber er war aus seinem Versteck hervorgetreten, das Mädchen hatte ihn gesehen und sie warf ihm einen Blick voll Liebe und einen Wink zu.
»Engel!«, rief er leise durch die Glasscheiben. »Ja, sie ist ein Engel, mein Engel!«
Er sagte es mit einem innigen Gefühl, mit einem Seufzer, der ihm aus dem tiefsten Herzen kam, aber doch gedrückt, gepresst.
Das Mädchen war in die Tiefe des Korridors zurückgekehrt. Dort verschwand sie. Auch der Gefangene kehrte zurück zu der Treppe, auf der er gekommen war. Er ging sehr leise.
Als er unten den Hausflur erreichte, ging er noch leiser. Er blieb stehen und horchte nach der Tür und nach der Straße. Es war alles still dort.
»Er wird fort sein«, sagte er sich, »er hat mich nicht erkannt.«
Er ging um die Treppe herum, zu der kleinen Tür, die auf den Hof führte, die er vorhin offen gesehen hatte. Sie stand noch offen. Er durchschritt sie. Er befand sich in einem kleinen, engen, rund von Häusern und Mauern umgebenen Hof. Es war dunkel darin; auch von den Fenstern, die hineingingen, war keins erleuchtet. Aber die Dunkelheit wurde von Sternen des Nachthimmels erhellt.
In dem Sternenlicht gewahrte er hinten im Hof an der Seite einen Brunnen. Das dunkle Licht sollte ihm bald noch mehr zeigen, und was es ihm zeigte, sollte ihn glücklich machen und dann wieder auch nicht.
Eine kleine Seitentür wurde geöffnet.
Das Mädchen mit dem verbundenen Kopf trat heraus. Sie blieb nach drei Schritten stehen und sah sich im Hof um. Sie fühlte sich schon umfangen. Der Gefangene der Stadtvoigtei hielt sie in seinen Armen, der große, schöne, stolze Mann, so schön in jener braunen, verrußten Kaminkehrerjacke, nun noch mehr in der elegantesten Gesellschaftskleidung. Er hielt sie innig umfangen. Sie lehnte sich mit innigster Liebe an ihn.
Sie war eine feine, zarte Gestalt. So war auch ihr schönes, blasses Gesicht. Über beides, über Gestalt und Gesicht, war eine fast demütige Bescheidenheit ausgegossen. Und wie sehr diese aus dem Herzen kam, aus einem demütigen und weichen Herzen, zeugten die Augen und die Lippen, die auch im Glück nur leise und fast wie schmerzlich zu lächeln wagten, als ob das Glück zu groß, zu viel für sie sei.
Das feine, zarte Wesen war Dienstmagd. Auch ein Berliner Mädchen für alles!
Sie lehnte sich an den schönen, stolzen Mann an und sah aus ihren großen Augen mit dem Blick des höchsten, stillsten Glückes demütig lächelnd zu ihm auf.
In dem Licht der Sterne sah er sie und seine Augen zeigten, wie ihm das Herz in einem heiligen Schauer zitterte.
Er küsste sie beinahe ehrerbietig auf die Stirn.
»Meine gute, liebe Anna!«
»Adalbert!«, hauchte sie verschämt.
Auf die Lippen hatte er sie nicht küssen können. Das weiße Tuch, mit dem ihr Kopf verbunden war, bedeckte auch den Mund. Sie hatte also doch wohl Zahnschmerzen. Sie hatte sie in der Tat.
Er musste sie prosaisch danach fragen. Rechten Zahnschmerzen gegenüber hält auch die Poesie der Liebe nicht aus.
»Du leidest noch immer, du Arme?«
»Zum Sterben.«
»Und du musst …? Du hast nicht einmal in der Nacht Ruhe? Jener Drache …«
»Schilt sie nicht, Adalbert.«
»Aber, dass du musst! Dass du dienen musst …«
»Sprich nicht wieder davon. Ich bin so glücklich, wenn ich nur bei dir bin. Selbst der wütende Schmerz ist jetzt fort.«
»Mein gutes Kind! Mein Engel!«
Sein Mund suchte doch ihre Lippen. Er schob das Tuch zurück. Er fand sie.
Auf einmal bog sie sich hastig zurück.
»Still, still!«, flüsterte sie.
Sie horchte nach oben, nach dem Haus hin, aus dem sie gekommen war.
Ein Fenster war dort geöffnet. Schon vor einer Weile. Sie hatten es beide nicht bemerkt. Nun wurde es wieder verschlossen. Das hörte das Mädchen.
»Es hat uns jemand belauscht«, sagte sie.
»Die Alte?«, fragte der Gefangene.
»Nicht sie. Eine fremde Dame schläft dort, die heute hier eingezogen ist.«
»Eine Fremde?«
»Eine Russin oder Polin.«
»Ihr Name?«, fragte der Gefangene hastig.
»Ich weiß ihn nicht. Aber was ist dir?«
»Nichts, nichts. Ich war nur besorgt um dich. Geh, pumpe jetzt das Wasser, damit nichts auffällt. Ich warte unterdessen dort.«
Sie ging zum Brunnen.
Er stellte sich dicht an die Mauer des Hauses.
Er war doch wohl nicht allein für sich besorgt gewesen und aufgeregt. Er sprach angelegentlich zu sich selbst.
»Sollte sie es wirklich sein? Gewiss, gewiss. Auch er war es. Er ist ihr gefolgt. Aber was könnte sie hierher geführt haben? Mich zu suchen? Und welcher Zufall bat sie gerade in dieses Haus gebracht? Welcher nichtswürdige Zufall? Sie wird mich hoffentlich nicht erkannt haben! Und auch er vorhin nicht! Ich muss doch machen, dass ich fortkomme.«
Das Mädchen war mit dem Pumpen des Wassers fertig. Sie kam zu ihm.
»Ich werde gehen müssen.«
»Und auch ich werde gehen. Du bedarfst der Ruhe, du Arme.«
Er nahm sie wieder sanft in seine Arme. Er drückte einen Kuss auf ihre Lippen.
»Bis morgen?«. fragte sie ihn zärtlich.
»Bis morgen. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«
Sie ließen sich los.
Sie wollte in das Haus zurückkehren. Er zu dem Flur, zu der Straße, zu seiner Droschke.
Sie reichten sich noch einmal die Hände.
»Gute Nacht!«
Sie wandten sich um – und standen beide vor einer dunklen, schwarzen Gestalt.
Das Mädchen eilte mit einem Schrei des Erschreckens in das Haus.
Der junge Mann, der Gefangene der Stadtvoigtei, – das Licht der Sterne hatte ihm plötzlich etwas gezeigt, das ihn nicht glücklich machte, nicht mehr, und doch – der Mensch ist ja doch immer das sonderbarste Geschöpf auf der Welt Gottes, und er nennt sich oder lässt sich das Ebenbild Gottes nennen.
Es war eine hohe Frau in Trauergewand, die er vor sich sah. Das Sternenlicht zeigte ihm auch eine schöne Frau, ein bildschönes Weib, in der Mitte der zwanziger Jahre, voll, üppig, das Gesicht edel geformt, die großen, schwarzen Augen heiße Glut sprühend.
Ihm, dem jungen Mann, sprühten sie eine heiße Glut der Liebe entgegen.
Einen wilden Blick der Eifersucht hatten sie wohl unmittelbar vorher auf das erschrocken fliehende Mädchen geworfen, dann einen schnell auflodernden des Zornes auf ihn. Aber Eifersucht und Zorn weichen vor der Liebe. Wie heiß, wie leidenschaftlich, wie mächtig musste diese Liebe in dem Herzen der schönen, üppigen Frau mit den glühenden Augen sein!
»Du bist es«, rief sie. »Du bist es, mein Adalbert. Endlich, endlich habe ich dich wiedergefunden.«
Sie umschlang ihn leidenschaftlich, sie presste ihn an sich.
Die Eifersucht kam noch einmal über sie.
»Zwar hier, in den Armen einer anderen. Aber ich verzeihe dir. Es war ein leichtes, flüchtiges Abenteuer, das du gesucht und gefunden hattest. Eine Dienstmagd! Dein Herz hatte keinen Anteil daran. Dein Herz gehört nur mir.«
Ein Aufschrei unterbrach sie. Ein lauter Schmerzensschrei tief aus dem Grund eines plötzlich zerrissenen Herzens.
Die arme Dienstmagd – konnte ihr Herz frei von Eifersucht bleiben? Sie war lauschend, wie sie vorhin belauscht war, hinter der Tür stehen geblieben. Sie hatte ausharren können, bis jene Worte der schönen Frau mit der wilden Liebe ihr das Herz zerrissen.
Sie musste laut aufschreien. Dann floh sie, die Treppe hinauf, die Verratene vor dem Verräter, die Dienstmagd in dem Zorn der keifenden Herrin, die ungebührlich auf das Glas Wasser hatte warten müssen.
Der junge Mann wollte sich doch aus den Armen der Frau losreißen, um ihr nachzustürzen. Um ihr zu sagen, dass sein Herz ihr, nur ihr gehöre?
Die schöne Frau hielt ihn fester.
»Wie, mein Adalbert, Du liebtest mich nicht mehr? Deine Aurelie? Deine einzige Geliebte? Das Weib deines Herzens, die ohne dich sterben müsste? Die sterben wollte, als sie dich in der Welt vergebens suchte?«
Der Mensch ist schwach.
Er fühlte die schönen warmen Arme um seinen Nacken; ihr Busen wogte an seinem Herzen; ihr heißes Gesicht lag an seinen Wangen.
»Adalbert, mein Adalbert«, rief sie nicht mehr, aber flüsterte ihr Mund leise, heimlich an seinen Lippen.
Er umfing sie, er umschlang auch sie.
»Aurelie, meine geliebte Aurelie!«
»Sag, wie in früheren Zeiten, meine einzige Geliebte!«
»Meine einzige Geliebte!«, sagte er.
In dem Augenblick drang das Keifen der bösen Frau gegen die arme Dienstmagd in den Hof hinunter.
Sie hörten es beide nicht.
Die Frau jauchzte.
»Ja, ich bin wieder deine einzige Geliebte, und ich werde es bleiben. Und jene – sie wird mir nicht mehr in den Weg treten. Sie …«
Sie brach ab.
Aber der junge Mann erbebte. Er kannte ihre wilde Liebe. Konnte er verkennen, dass, wo wilde Liebe ist, noch wildere Eifersucht brennt? Und die Eifersucht war nochmals über sie gekommen, wilder, leidenschaftlicher.
»Um Gotteswillen, Aurelie«, rief er.
»Was willst du?«
»Tu ihr kein Leid an.«
»Sie soll nur fort. Aber was geht sie denn dich noch an? Komm mit mir, in meine Wohnung. Sie soll dich in meinen Armen sehen. Sie soll uns bedienen. In der Liebe stehen alle Frauen einander gleich, die Höchste der Niedrigsten, die Königin der Dienstmagd. Und sie fühlen es. Auch die Stolzeste muss es fühlen.«
Sie wollte ihn mit sich hinauf in das Haus ziehen. Der junge Mann schwankte. Er konnte ihr nicht folgen, er konnte ihr nicht widerstreben.
Er sollte gerettet werden; aus diesem Kampf durch einen anderen Kampf.
An der Haustür wurde heftig geläutet. Die beiden Liebenden mussten es hören. Der Gefangene der Stadtvoigtei fuhr auf.
»Du erschrickst, Adalbert?«
»Dein Mann!«
»Auch die Frau erschrak.«
»Er hier?«
»Du wusstest es nicht?«
»Ich hatte keine Ahnung.«
»So ist er dir ohne dein Wissen gefolgt.«
»Er sah mich hier eintreten.«
Der Mut der Frau war zurückgekehrt. Es war ein wilder Mut, wie ihre Liebe eine wilde war.
»Mag er kommen. Er hat keine Rechte mehr an mich. In meiner Wohnung bin ich Herrin. Und meine Herrschaft weiß ich mit meinem Dolch zu verteidigen.«
Ich werde dich verteidigen, Aurelie.«
»Dich würde die Welt seinen Mörder nennen. Ein Weib, das roh überfallen wird, hat alle Rechte der Notwehr. Komm, mein Adalbert.«
Sie sollte sich doch verrechnet haben. Sie konnte nicht einmal mehr ihre Wohnung erreichen.
In Folge des Läutens war die Haustür geöffnet. Zwei Männer waren in das Haus getreten.
Der eine war ein großer, kräftiger Mann. Eine hohe und stolze Gestalt, wie der Gefangene der Stadtvoigtei. Er war elegant gekleidet, wie dieser. Der andere war ein Polizeibeamter. Jener hatte ihn wohl herbeigeholt.
Der Beamte trug eine Laterne.
»Was suchen Sie hier?«, fragte ein Hausknecht, der geöffnet hatte, den Beamten.
»Hier wohnt die Gräfin Luberski?«, drängte sich schnell der fremde Herr vor.
»Ich kenne den Namen nicht.«
Eine Dame, die heute eingezogen ist!«
»Eine fremde Dame ist heute eingezogen.«
»Sie ist es. Sie hat vor einer Stunde Besuch erhalten.«
Davon weiß ich nichts.
Der Polizeibeamte war unterdessen in seiner Art tätig gewesen. Er hatte im Hausflur umher gesehen; er war am Ende des Hausflurs in die offene Tür des Hofraums getreten. Er kehrte eilig zurück. Er hörte noch die letzten Worte des fremden Herrn.
»Von einem Dieb sprachen Sie zu mir«, sagte er. »Im Hof sind Leute.«
»Wo, wo?«, rief der Fremde.
Er eilte schon hin.
Die anderen folgten ihm.
Im Schein der Laterne sah er die Liebenden.
»Dort ist der Dieb«, sagte der Polizeibeamte.
Aber der Fremde fuhr ihn zornig an.
»Sie sind ein Narr, Herr! Hier haben Sie einen Friedrichsdor, und nun machen Sie, dass Sie fortkommen.«
Dann wandte er sich an den Hausknecht.
»Und Er – hier hat er einen Taler – schere Er sich zum Teufel.«
Die beiden gingen. Der Fremde trat in den Hof. Die Liebenden waren geblieben.
»Meine Ehre fordert von mir, dich zu verteidigen«, hatte der junge Mann gesagt.
»So fordert meine Liebe von mir, bei dir zu bleiben.«
Sie erwarteten den Fremden.
Beide sollten sich in dem, was folgen werde, verrechnet haben.
Der Fremde trat ruhig an sie heran. Er blieb stolz vor ihnen stehen. Sein Gesicht war nicht schön. Es war breit, pockennarbig, bleich. Als er ruhig und stolz vor den beiden stand, konnte man es nicht mehr hässlich finden.
Und er stand vor seiner Frau. Oder war sie es nicht mehr? »Er hat keine Rechte mehr an mich«, hatte sie gesagt. Aber vor einer schönen Frau, die einst ihm gehört hatte, die ihn vielleicht geliebt hatte, die er noch liebte, die nun einen anderen liebte und von einem anderen geliebt wurde, vor ihr und ihrem Buhlen stand er jedenfalls. Er stand mit jenem ruhigen Stolz vor ihnen.
»Madame, mit Ihnen habe ich nichts mehr zu schaffen. Sie wurden eine Verführte. Sie sind eine Elende geworden. Aber Sie, mein Herr Graf Romkewicz, Sie werden von meiner Hand sterben, Ihre Hand möchte denn die glücklichere sein. Ich habe Sie lange vergebens gesucht. Ich erwarte Sie morgen auf Pistolen. Auf fünf Schritt Barriere, meinetwegen auch auf drei. Am liebsten über das Schnupftuch. Doch das werden unsere Sekundanten näher verabreden. Ich hörte, dass Sie beim Grafen Tichy erwartet werden. Ich war schon dort.«
»Sie wurden vermisst und das zunächst verschaffte mir die Ehre, Sie hier zu treffen. Sie werden hoffentlich noch hinkommen. Ich werde in die Gesellschaft zurückkehren. Wir werden beide dort Herren finden, die sich eine Ehre daraus machen werden, unsere Sekundanten zu sein. Ich darf auf Ihre Pünktlichkeit rechnen, Herr Graf?«
»Sie dürfen, mein Herr Graf«, antwortete ihm sein Gegner. »Nur«, setzte er hinzu.
Aber er stockte, so wie er das Wort ausgesprochen hatte. Eine plötzliche Verlegenheit zog durch sein Gesicht.
»Nun?«, fragte der Graf Luberski.
Aber der Verlegenheit in dem Gesicht des Grafen Romkewicz, des Gefangenen der Stadtvoigtei, war schon ein eigentümliches spöttisches Lächeln gefolgt.
»Nur«, erwiderte er, »mit diesem Lächeln, mein Herr Graf, werde ich morgen früh, überhaupt morgen am Tag nicht die Ehre haben können, Ihnen eine Kugel durch den Kopf zu jagen.«
»Zu welcher Zeit dann wurden Sie mir zu Diensten stehen?«
»In der morgigen Nacht.«
»In der Nacht?«
»Ein Ehrenwort bindet mich, ein früher gegebenes, und Sie wissen, Herr Graf, ich bin ein Ehrenmann, der sein Wort unter allen Umständen hält.«
»Ich weiß es«, sagte der Graf Luberski zum Grafen Romkewicz, der ihm seine Frau verführt und zu einer Elenden gemacht hatte.
»Sie sind also einverstanden?«, fragte der Graf Romkewicz.
»Ich bin einverstanden.«
»Das Nähere werden unsere Sekundanten verabreden.«
Der Graf Luberski entfernte sich darauf stolz. Die Dame hatte er nicht wieder angesehen. Aber seine äußere Ruhe musste ihm einen schweren Kampf gekostet haben. Als er den Hofraum verlassen hatte und in den Hausflur zurücktrat, hörte man einen Wutschrei, den er nur halb unterdrücken konnte. Dann stürzte er auf die Straße.
Die Gräfin Luberski, die schöne, üppige Frau mit den glutsprühenden Augen und dem wildliebenden Herzen war doch blass geworden. Aber ihr liebendes Herz war auch ein stolzes. Sie versuchte nicht mehr, den Geliebten in ihre Unterhaltung zu ziehen.
»Du musst gehen, Adalbert«, sagte sie. »Die Ehre ruft dich. Aber du wirst ihn erschießen. Dann gehören wir einander an.«
Sie besiegelte die Worte mit einem heißen Kuss auf seinen Lippen.
Er verließ sie träumend.
Als er draußen auf der Straße war, durchzuckte ihn auf einmal etwas heftig.
»Herr des Himmels, Anna! Jene Eifersucht, jene Wildheit! Ich soll ihr den Mann erschießen. Sie wird untergehen das arme Mädchen …! Und ich kann sie nicht retten. Die Ehre! O, diese Ehre.«
Er eilte zum Karlsplatz. Seine Droschke wartete dort auf ihn. Er sprang hinein.
»Zum Grafen Tichy. Aber im Galopp. Es ist schon halb eins.«
Die Droschke fuhr im Galopp dahin.