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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 2 – Die Totenstadt – 4. Teil

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 2
Die Totenstadt
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Richards Annahme

Die Landstraße war von der hochstehenden Sonne schon getrocknet. Von den Feldern war der Schnee weggeschmolzen, die frischen, grünen Spitzen der Wintersaat zeigten sich bereits und bildeten mit den unbestellten Äckern und den blätterlosen Bäumen einen merkwürdigen Gegensatz. Auch ein auf der Landstraße stehender Schlitten nahm sich seltsam aus, der Kutscher war tot vom Bock gefallen, davor lag das Pferd. Ferner sah Richard viele tote Mäuse, Hasen und Vögel, alles hatte die Giftwelle vernichtet, doch wurde die Luft noch immer von Vögeln belebt. Aber ein vierfüßiges Tier schien nicht mehr zu leben.

Während des Fahrens überlegte sich Richard, dass der Schuster schließlich doch recht hatte, wenn auch anders, als er meinte. Eine Hungersnot konnte für sie nicht eintreten. Es musste ja ungeheure Vorräte an Mehl und Hülsenfrüchten geben, die nicht so leicht verdarben, und bis dies geschah, war das Getreide und das Obst reif, das in dem neuen, heißen Klima herrlich gedeihen würde. An Fleisch konnte es ebenso wenig fehlen, dafür sorgten zunächst die Konserven, und dann gaben die Vögel, schon allein die Tauben, die sich stark vermehren würden, wenn man sie in Ruhe ließ, genug jagdbares Wild ab.

Wie mochte aber später, vielleicht in zehn Jahren, diese Gegend aussehen? Sie würde jedenfalls ein sehr glückliches Land werden. Getreide, Kartoffeln und Obst wuchsen dann gewiss in Überfluss und trugen hundertfältige Frucht, der Mensch brauchte ja nur etwas Fleiß auf das Land zu verwenden, das ihn ernähren sollte. An Fleisch mangelte es auch nicht. Die Plagen der südlichen Länder – Schlangen, Skorpione, Mosquitos und so weiter – fehlten ganz. Denn in dieser Gegend war nie eine Kreuzotter gefangen worden, und schließlich konnte man sich dieser kleinen Schlangen leicht erwehren, ihre furchtbare Gefährlichkeit spukte mehr in den Köpfen ängstlicher Menschen, als sie in Wirklichkeit vorhanden war. Ebenso wenig gab es Raubtiere.

Den bunten Charakter einer tropischen Region würde die Landschaft allerdings nicht annehmen. Sie blieb auch unter der Äquatorsonne die deutsche voller Eichen und Buchen, die sich allerdings zu Urwäldern vermehren würden, auch aus den Raupen in den Puppen, wenn diese nicht getötet wurden, konnten sich nur die bekannten deutschen Schmetterlinge entwickeln – kurz, es blieb alles beim alten, die neue Lage auf dem Äquator änderte daran nichts. Nie würde ein Tiger den Wald, eine riesige Giftschlange das Feld, ein Krokodil das Wasser unsicher machen.

Alles das, was der Mensch zu seiner Bequemlichkeit bedarf, war noch für viele Jahre aufgespeichert, und ehe alles vom Witterungseinfluss zerstört worden war, hatte man sicher gelernt, sich zu behelfen. Musste man sich dann zum Beispiel mit einem aus Pflanzenfasern selbstgewebtem Hemd begnügen, das Feuer mit dem Zündstahl anschlagen, die Tauben mit Pfeil und Bogen erlegen, so schadete dies alles nichts, schließlich würde man auch das wieder erfinden, was man verlernte.

Selbst der Schuster und seine Frau würden sich schon in ihre Lage besser schicken, wenn ihr Rausch erst verraucht war.

Das heißt, so dachte Richard. Wir werden bald sehen, dass er sich in allem vollkommen geirrt hatte.

Eingeregnet

Das Erwägen der Lebensmittelfrage hatte ihm Appetit gemacht. Außerdem brannte nun die Sonne mit einer fürchterlichen Glut herab, und die im Winter erkaltete Erde sog ihre Strahlen nicht mehr auf.

Schweißgebadet lenkte Richard einen Nebenweg ein und stieg vor einem alleinstehenden, jedoch von Schuppen umgebenen, massiven Gebäude ab, das ihm als eine am Fluss liegende Mühle bekannt war.

Kein Hund begrüßte ihn, er sah auch keine Leiche. Die Haustür war verschlossen. Er rückte einen Holzbock an die Mauer, kletterte hinauf, zerschlug ein Fenster und stieg ein.

Wie ein schneller Gang durch alle Räume ergab, hatte sich zur Zeit, als der Tod seine Sichel geschwungen hatte, niemand im Haus befunden. Desto besser, so brauchte Richard keine Leichen zu beseitigen. Es war ein wohlhabendes Haus, in der schönen, großen Küche fand er alles, was er bedurfte, er machte also ein Feuer an, und da eine angeschnittene Rehkeule noch ganz frisch roch, und man, um ein Stück Fleisch zu braten und Kartoffeln zu kochen, keine hohe Küchenschule durchgemacht zu haben braucht, so konnte Richard bald seinen Hunger an einem delikaten Mittagessen stillen, zu dem sich auch eine von der Hitze erwachte Winterfliege einstellte.

Die Hitze war wirklich außerordentlich. Richard öffnete daher die Fenster des Schlafzimmers in der ersten Etage, wobei er bemerkte, dass sich der Horizont verdunkelte; dann legte er sich auf ein Bett und war bald sanft entschlummert.

Ein Donnern und Rauschen weckte ihn. Es war ein heftiger Gewitterregen. Zuerst dachte er an sein draußen gebliebenes Fahrrad. Aber er konnte die Haustür nicht öffnen, er hätte erst wieder durch das Fenster steigen müssen, und nun war es doch schon einmal nass, nun mochte es noch so lange draußen bleiben, bis es aufgehört hatte zu regnen.

Aber dies sollte nicht so bald der Fall sein. Die Nacht brach schon an, und es goss noch immer in Strömen. Als Richard in die Küche ging, um sich ein Abendbrot zu bereiten, prallte er entsetzt vor der heißen, pestilenzialisch riechenden Luft zurück, die ihm hier entgegenschlug. Er wusste, woher das kam, bezwang sich aber, stürzte hinein, riss ein Fenster auf und warf die Rehkeule hinaus. Aber auch noch manches andere musste er nachfolgen lassen: den Inhalt der ganzen Speisekammer, Würste, Schinken und alles, was mit Fleisch zusammenhing. Mochten die geräucherten Sachen auch noch gut sein, er hätte nun doch keinen Bissen Fleisch mehr über die Lippen bringen können.

So blieb für heute sein Abendbrot auf Kaffee und trockenes, sehr trockenes Brot beschränkt, nachdem er vergebens nach Butter gesucht hatte – er fand nur ein flüssiges, auch sehr ranzig riechendes Fett.

Der Regen milderte die Hitze nicht; Richard konnte die ganze Nacht ihretwegen kaum schlafen, und dazu belästigten ihn noch einige Mücken – im Januar. Doch nein, durch die Drehung der Erdachse befand er sich nun ja schon im August.

Am nächsten Tag regnete es auch noch, am dritten ebenfalls, und so schien es fortgehen zu wollen. Der Fluss war übergetreten, die ganze Umgegend bildete einen See, und schon hatte das Wasser einen Weg ins Haus gefunden.

Bald wusste Richard nicht mehr, was er essen solle, obwohl das einsame Mühlenhaus überreichlich mit Vorräten aller Art versehen war. Die Fleischsachen waren verdorben, das Mehl schmeckte bereits modrig, Kartoffeln, Zwiebeln, Linsen, Erbsen und alle andere Pflanzenkost blühte und keimte lustig.

Wie kam das? In jenen Zonen des Äquatorialregens kann man doch Erbsen und Bohnen lange Zeit aufbewahren! Ja, aber diese Hülsenfrüchte sind auch dort gewachsen, sie haben einen ganz anderen, durch keinen Winter zurückgehaltenen Lebenskeim in sich, sie widerstehen der feuchten Wärme.

Zum Glück fand Richard einige Büchsen mit Konserven, doch – er musste sie roh essen, wollte er nicht Hungers sterben. Kein Streichholz zündete mehr, und obwohl er einen Feuerbohrer konstruierte, fand sich doch kein trockenes Holz, alles war feucht, schimmelte und moderte, es war also unmöglich, ein Feuer zu entzünden, das zum Kochen der Speisen hätte dienen können.

Richard wusste nicht, wie lange er so gefangen gewesen – vielleicht war es eine Woche – als endlich die Sonne wieder von einem wolkenlosen Himmel herabstrahlte. Nach einem Tag schon war sich das Wasser verschwunden, schnell trocknete der Boden, und Richard dachte nun an seine Rückkehr nach der Stadt. Da aber sein Rad ebenso wie seine Waffen zu einer verrosteten Eisenmasse geworden waren, musste er zu Fuß wandern. Doch wo war denn der Weg geblieben? Alles, wohin das Auge auch blickte, bildete nur eine einzige grüne Wiese mit meterhohem Gras. Von einer Landstraße war gar nichts mehr zu sehen. Schließlich unterschied er sie doch an dem kürzeren Grün, das ebenso wie auf den unbestellt gewesenen Feldern mehr aus Unkraut bestand, während die Wintersaat schon meterhoch geschossen war. Das musste eine herrliche Ernte geben! Und alles das hatte der Regen einer einzigen Woche bewirkt! Das immer alles unter Wasser gestanden, hatte nicht geschadet. Ebenso zeigten alle Bäume schon frische Blätter und sogar Blüten. Die Knospenzeit war bereits vorüber.

Richard schritt der Stadt zu. Was ihm sonst noch auffiel, waren die vielen kleinen und großen Raubvögel, die im Äther schwebten. Auch dicht vor ihm stieg, einen Anlauf nehmend, ein Raubvogel von solcher Größe auf, dass er erschrocken stehen blieb. Das konnte nur ein Adler oder Geier gewesen sein. Wie kam ein solcher nach Deutschland? Nun, einem Segler der Lüfte konnte eine Reise von der Schweiz nach hier nur eine Kleinigkeit gewesen sein.

Schon aus der Ferne sah Richard den Schlitten auf der Landstraße stehen. Er machte jedoch einen großen Bogen über die Felder um ihn herum, ein solch übler Geruch ging von dem verwesenden Pferd aus, das vor dem Schlitten verendet war, und als er noch nicht die ersten Häuser der Stadt erreicht hatte, gab er seinen Vorsatz auf, dieselbe zu betreten, denn ein pestartiger Gestank wehte ihm schon hier entgegen. Dieser war es jedenfalls gewesen, der die zahlreichen Raubvögel angelockt hatte.

So kehrte Richard denn zu der Mühle zurück, nicht wissend, was aus dem jungen Ehepaar geworden sei.