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Gebt mir etwas Zeit

Hape Kerkeling
Gebt mir etwas Zeit
Meine Chronik der Ereignisse

Sachbuch, Hardcover mit Schutzumschlag, Piper, München, 25. September 2024, 368 Seiten, 24,00 EUR, ISBN 9783492058001, auch als E-Book und Hörbuch

»Das Schönste kommt erst noch, wobei das Beste gerade erst begonnen hat.« Woher kommen wir? Was prägt uns, und wohin geht unsere Reise? Berührend und mit unvergleichlichem Sinn für Komik setzt Hape Kerkeling seine Lebensgeschichte fort und taucht dabei tief in die bewegte Vergangenheit seiner Vorfahren ein. Anschaulich schildert er, wie er als kleiner Junge seine Neugier auf die Welt entdeckte. Er erzählt von seinen Anfängen als TV-Entertainer, von Liebe, Toleranz und Vorsehung. Er folgt den Spuren der Kerkelings zurück bis ins Goldene Zeitalter der Niederlande. Und entschlüsselt schließlich das Geheimnis, das seine geliebte Oma Bertha ihr Leben lang umgab.

Zeit. Wenn etwas zu Beginn der Corona-Pandemie im Überfluss vorhanden war, dann dies; einerlei, wie viele konspirativ veranlagte und/oder falsch abgebogene Menschen weiterhin das Gegenteil behaupten mögen. Zeit. Zum Innehalten, zur Selbstreflexion, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wohin wollen wir? Fragen, die das Multitalent Hape Kerkeling seinerzeit umtrieben und in ihm den Beschluss reifen ließen, sich intensiv mit der eigenen Historie auseinanderzusetzen. Mit den gelbstichigen Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Schuhkarton war es damit allerdings nicht getan. Nein, Kerkeling wollte es richtig machen – mittels Ahnenforschung. Ein DNA-Test und man erfährt durchaus Verblüffendes. Oder erhält eine Bestätigung. In Kerkelings Fall beides. Der 60jährige Recklinghäuser ist ein Schmelztiegel der Nationen und Völker. Wie wir alle. Der Begriff reinrassig ist nämlich ebenso überholt wie die braune Gesinnung mancher Ewiggestriger falsch ist. Trotz allem: Ein Kern, eine wiederkehrende Anlaufstelle, einen Ort, eine Bestätigung, etwas stach hervor.

Amsterdam

Das Kerkeling von jeher mehr verband als eine bloße Affinität zur niederländischen Hauptstadt, spürte er bereits zu Kindheitstagen, als er sich in die Hafenstadt mit ihren Grachten verliebte. Hier setzt sein nunmehr fünftes Buch an: in den bonbonbunten frühen 1970ern, zwischen in Mandarinensaft getränkten Erdnüssen und pakistanischen Halsbandsittichen. Im Grunde die Wiege von Hape Kerkelings Lebenspfad, der nicht ausnahmslos fröhlich und unbeschwert war. Ähnlich dem Lebens- und Leidensweg der eigenen Vorfahren. Und was für Vorfahren das waren! Adlige, Seefahrer, Intriganten, als Hutmacher getarnte Bordellbetreiber und Händler. Der übliche Wahnsinn. »Aus der Vergangenheit lernen, die Gegenwart erkennen« – im Falle Hape Kerkelings alles andere als ein weichgekochter Begriff. Anschaulich, empathisch und ungemein anschaulich entführt er in mehreren Episoden ins 17. Jahrhundert; einer Ära, in der die Niederlande sowohl zur stolzen als auch vordergründig progressiven Seefahrernation aufstiegen, während die eigenen Kirchenhäuser Andersdenkende, -glaubende und -lebende wie Aussätzige behandelt, prächtig gewandete Handelsleute und Adlige die hygienische Muße unter teuren Gewändern verstecken und mit Puder und Duftwässerchen übertünchen, während die hart buckelnde Arbeiterklasse Reinlichkeit als oberstes Gebot erachtet.  Scheinheiligtum, das bis heute geblieben ist, wie Kerkeling darlegt. Etwa im Kleinen, wie bei den Vorurteilen britischer Bürger gegenüber einem schüchternen Recklinghäuser Buben, der auf die Gasteltern wartet oder falscher Herzlichkeit im Fernsehbetrieb der 1980er, welche die Homophobie der Verantwortlichen verbirgt; treffsicher und gar nicht mal so überspitzt karikiert im Spielfilm Kein Pardon (1993), zu dem Kerkeling das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm. Das Große indes – eine bewegende Tragödie. Die zweite in Hape Kerkelings Leben nach dem Freitod der eigenen Mutter. Ihr Name: Duncan. In ihn verliebt sich der junge Kerkeling, der regelmäßig und heimlich ins bedeutend tolerantere Amsterdam fährt, um dort die eigene Homosexualität offen auszuleben. Mit Gleichgesinnten, auf Partys – und mehr? Ausgeschlossen. Nicht wenn jene grässliche Krankheit, Mitte der 80er noch unerforschte Krankheit namens AIDS wie das Damoklesschwert lauert. Dementsprechend verhalten, gestaltet sich das Leben der beiden. Vorsicht statt Nachsicht. Doch das Unaussprechliche geschieht: Duncan wird HIV-positiv. Das sorgenfreie Leben – es ist geplatzt. Rührend pflegt Kerkeling den Partner, bis dieser 1989 stirbt. »Es hat mich Mut gekostet, darüber zu schreiben, weil das natürlich sehr privat ist«, verrät er. Und schmerzhaft. Was deutlich zu spüren ist. Nichts bleibt hinter dem Berg. Kerkeling lädt eine Bürde ab, die ihn drei Jahrzehnte belastete. Für so viel Offenheit braucht es Mut, eine ganze Wagenladung davon. Doch niemals kippt die Stimmung dabei ins Reißerische, dafür ist Kerkeling zu sehr Mensch und menschlich. Es ist Aufruf zu Toleranz, verfasst von einem unbelehrbaren Optimisten und Philanthropen – mag es auch schwerfallen. Eine Lehre seiner geliebten Oma Bertha? Kerkelings Mutterersatz, der zeitlebens ein wahrlich königliches Geheimnis für sich behielt, was aus ihm schlussendlich sogar einen entfernten Verwandten der englischen Royals machte?

Gebt mir etwas Zeit ist ein anrührendes und kurzweiliges Buch; wortgewandt, fesselnd und stets mit der feinen Nadel des geistreichen Humoristen gestickt, für die man Hape Kerkeling schätzt und liebt. Sorgsam recherchiert und narrativ so dreidimensional, dass man sich fragt, wieso sich Kerkeling – dessen Stimme man unweigerlich beim Lesen hört – bislang an noch keinen richtigen Roman gewagt hat. Das Zeug dazu hat er auf alle Fälle.

(tsch)