Stephen King – Ihr wollt es dunkler
Stephen King
Ihr wollt es dunkler
Originaltitel: You Like It Darker
Anthologie, Hardcover mit Schutzumschlag, Heyne, München, 30. Mai 2024, 736 Seiten, 28,00 EUR ISBN: 9783453274723, Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg, Sven-Eric Wehmeyer
Klappentext:
Nach einer außerweltlichen Begegnung in den Wäldern von Maine machen zwei Freunde urplötzlich große Karriere; ihr Geheimnis nehmen sie mit in den Tod. Danny träumt von einer Leiche, die er dann tatsächlich findet; in den Augen der Polizei kann nur er der Mörder sein. Vic macht Ferien in Florida, wo er eine verschrobene alte Frau kennenlernt; eine Bekanntschaft, die in einem Horrorstrudel endet. Das sind nur drei von zwölf neuen Storys, die Stephen King in Ihr wollt es dunkler versammelt – viele Genres umspannende Geschichten über das gegenwärtige Amerika, über finstere Mächte und existenzielle Fragen. Seine Erzählsammlungen – zuletzt Zwischen Nacht und Dunkel, Basar der bösen Träume und Blutige Nachrichten – stehen regelmäßig weltweit auf den Bestsellerlisten.
Momentchen – nur zwölf Geschichten? Wären dreizehn bei einem Autor wie Stephen King nicht sinniger? Was die meisten nicht wissen: Der Meister des modernen Horrors leidet unter Triskaidekaphobie, einer spezifischen Angst vor jener, allgemein als Unglückszahl verschrienen Zahl. Essig mit dem netten Meta-Gimmick. Was womöglich sowieso des Guten zu viel wäre. Gepasst hätte es, klar. Eine Konfrontation mit dem – vermeintlich – Unerklärlichem; die Widerlegung des Aberglaubens. Will man den roten Faden finden, der Kings allerneueste Geschichtensammlung beieinander hält, so ist es wohl dieser. Nahezu exemplarisch dazu Danny Coughlins böser Traum, mehr Novelle als Kurzerzählung. Beinahe noch exemplarischer der Protagonist, ein sympathischer Schulhausmeister, dem der fleckige Boden der Aula näher steht als Geister, Dämonen und das Leben nach dem Tod, bis ihn ein ungemein plastischer Traum direkt an den Ort eines Verbrechens führt und sich das Blatt gegen ihn wendet. Wer würde auch einem wie Coughlin solch einen Humbug abnehmen? Ihm, dem geläuterten Alkoholiker?
Und wer, bitte schön, glaube einem Schriftsteller von Weltruf, wenn dieser Stein und Bein schwören würde, dass ihm das Talent mitten im Wald begegnet sei? Und dessen Kumpel, der daraufhin eine beispiellose Karriere als bildender Künstler hinlegte? Zwei begnadete Burschen, die Eröffnungsgeschichte, führt tief in die Wälder um Castle Rock und somit ins Herz des King Country, weckt Erinnerungen an Bobbi Andersons unheimliche Begegnung in Das Monstrum – und das alles an einem Ort, den einst ein Geist heimsuchte.
Von der Eröffnungs- zur Abschlussgeschichte: Der Antwortmann spielt mit einem der beliebtesten Sujets der gegenwärtigen dunklen US-Phantastik, der Roadside Attraktion, der Straßenrandattraktion. Was sich bei uns auf das Maislabyrinth beschränkt, kann in den Staaten so ziemlich alles sein, etwa das größte Garnknäuel der Welt, ein Bananenmuseum oder ein unspektakulärer Herr, der für etwas Entgelt Antworten auf die Zukunft bereithält.
Ohnehin, die Zukunft. Die eigene Sterblichkeit. Ein Thema, das King bereits seit Längerem umtreibt; und in dieser Sammlung häufiger als sonst. Viele der King‘schen (Anti-)Helden sind mit ihm gealtert, bekunden ähnliche Leiden und Zipperlein. Etwa Vic Trenton, Rentner und frisch gebackener Witwer einer Frau, die vor über 40 Jahren die Begegnung mit einem tollwütigen Bernhardiner überstand – nicht so der kleine Sohn. Alte und neue Wunden also. Doppelte Verluste. Der neuen Nachbarin im frisch bezogenen Domizil in Florida ergeht es ähnlich. Ein wenig spleenig sei sie, aber harmlos. Fährt einen Kinderbuggy spazieren, auf dem sie Zwillings-Babykleidung ausgelegt hat. Ein Alltagsgegenstand als Manifestation der eigenen Geister inklusive einer Rückblende an die ersten Tage und Monate der Corona-Pandemie, als die Welt stillstand.
Ein zweites, durchaus erbittertes Postskriptum dazu hält Willie der Wirrkopf bereit. Die Eltern und auch die eigene Schwester mögen ihn für sonderbar halten, doch sobald der titelgebende Junge neben dem Großvater hockt und dessen mitunter blutigen Erzählungen lauscht, ist er mit der Welt im Reinen; trotz dieser Pandemie und den sonderbaren Gerüchen, die der Opa immer stärker ausströmt. Hinter der Fassade der Hoffnung, verbirgt sich Kings weiterhin ungehaltener Zorn auf die eigene Regierung zu Zeiten einer global grassierenden Pandemie; es ist – wie bereits bei Holly (2023) davor – urpersönliche Konflikttherapie und Trauerbewältigung für schmerzhaft fehlende Freunde.
Altersmilder indes Laurie, Kings indirekte Liebeserklärung an die besten Freunde der Menschen und deren bedingungslose Liebe zu den Herrchen und Frauchen dieser Welt. Richtig, es geht um Hunde. Besser gesagt, einen Hund. Konkret um einen Welpen, den der frisch gebackene Witwer und Rentner Lloyd Sunderland auf Biegen und Brechen nicht in den eigenen vier Wänden will, als ihn die eigene Schwester ungefragt mitbringt. Hundebesitzer ahnen den weiteren Werdegang. Ja, Laurie ist eine berechenbare Geschichte und King weiß es, wie er auch weiß, welche Farben es braucht, um Strahlkraft zu erzeugen. Inklusive eines dramatischen Höhepunkts.
Eine King-Storysammlung ohne klassische Horrorbezüge? Undenkbar. Die Träumenden ist eine erneute Aufwartung Richtung Lovecraft, spielt im Castle Rock der frühen Siebziger. Beruflich steckt der Stenograf und Vietnamveteran William Davis in einer Sackgasse. Die Offerte des exzentrischen Eigenbrötlers und Wissenschaftlers Elgin mutet als Ausweg an und entpuppt sich als Alptraum – in zweifacher Ausführung. Elgins Experimente am lebenden Objekt öffnet Pforten zur Realität jenseits des Traumes und somit zu einer Präsenz, die den Wechsel zwischen den Welten vollziehen will … Lovecraft im Wesentlichen? Etwas Böses drängt in unsere Dimension, während wir mit aller Macht und aufgrund der eigenen Hybris in die andere Realität gelangen wollen. King hat das Wesentliche der Lovecraft-Erzählungen verstanden und setzt es auch in Die Träumenden vorbildlich um. Mehr noch, verschaffte ihm das eigene Werk die eine oder andere schlaflose Nacht. Das will was heißen.
Ein nach Beendigung von Das rote Display unruhig im Bett Umherwälzen ist durchaus verständlich. Ein Mann, der die eigene Frau tötet, weil es nicht die eigene Frau war? Klingt nicht nur nach Frank Finneys Ausgangslage, die er im Roman The Body Snatchers (unter anderem 1978 als Die Körperfresser kommen filmisch adaptiert) schildert. King macht keinen Hehl und formt ein kurzweiliges, fieses Geschichtchen, das ferner auch eine solide Twilight Zone-Episode abgäbe.
Ach ja, die Twilight Zone. Rod Serlings legendäre Anthologie-Serie und ein Begriff, der es ins englische Wörterbuch geschafft hat. Dazu eine von Kings gewichtigsten Inspirationen. Man denke an Die Zehn-Uhr-Leute aus der Sammlung Alpträume (1993). Ein Fachmann für Turbulenzen atmet dieselbe Luft und macht als Quasi-Fortsetzung der legendären Episode Portrait eines ängstlichen Mannes (1963) mit einem jungen und unbekannten William Shatner eine solide Figur, trotz – für den Horrorleser – abermaliger – Vorhersehbarkeit und einem etwas zu zahnlosem, unfertigen Ende.
Unfertig. Wenn die Sammlung ein Manko besitzt, dann dies. Ironischerweise wagt sich King partiell erstaunlich unerschrocken aus der eigenen Komfortzone hinaus aufs Glatteis, schafft es aber teils nicht, die eine oder andere spannende Idee angemessen abzuschließen. Etwa in Auf der Slide Inn Road, einem versandenden Diskurs über das Böse im Menschen in Kings amerikanischer Heimat, dessen Plot man fünf Minuten nach Beendigung fast wieder vergessen hat. Diametral dazu ein zukünftiger Klassiker vom Schlag Danny Coughlins böser Traum, für den sich (fast) alleine die Anschaffung des Buches rentiert. Ungeachtet fabuliert Mister King auch mit fast 80 Jahren und im sechsten Jahrzehnt als Profiautor den anderen davon. Bis aus herzlich wenige Ausnahmen besitzt einzig er dieses Gespür für echte Charaktere, dieses Auge auf die amerikanische Gegenwart und dessen düsterste Geheimnisse und Fehltritte. Bei King ist eben weder der Tod noch unsere Welt das Ende der Fahnenstange. Oder wie er selbst sagen würde: »Ka ist ein Rad.«
(tsch)