Nick Carter – Band 16 – Haken-Max – Kapitel 5
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Haken-Max
Ein Detektivroman
Was Chick erlebte
Um einige Stunden früher, als Nick Carter noch in einem anderen Stadtteil fischte, trafen sich an der Clark Street zwei Gentlemen, welche der Polizei gut bekannt waren.
Diese beiden vortrefflichen Bürger der windigen Stadt nannten sich Mr. Sam Bulger und Mr. Plug McCann.
Auch nach dem dreisten Raub der Geldbeutel waren die Sicherheitswächter grob genug gewesen, den beiden Gentlemen nicht nur ein freies Quartier anzuweisen, sondern sie auch mit einer Reihe recht zudringlicher Fragen zu behelligen. Immerhin war es für sie ein Trost gewesen, dass die Polizei ihnen nichts zu beweisen vermochte, sondern sich gezwungen gesehen hatte, sie nach Ablauf von 24 Stunden wieder auf freien Fuß zu setzen.
Dennoch waren die beiden Gentlemen, als sie sich nun um Mitternacht auf der Clark Street trafen, noch mächtig verschnupft über die Willkürherrschaft der Polizeibehörden und mehr als je entschlossen, sich deren zudringlicher Neugierde nach Möglichkeit zu entziehen.
»Der verd… Schnüffler ist nach New York zurückgegondelt«, erklärte Sam, nachdem die ersten üblichen Grußworte und ein kräftiger Händedruck ausgetauscht worden waren.
»Blech!«, erklärte Plug lakonisch.
»Nein, ich sah ihn selbst abreisen.«
»Blödsinn!«
»Es ist Tatsache; ich stand hinter ihm, als er sein Billett kaufte. Er nahm den durchgehenden Zug nach New York.«
»Unsinn!«, unterbrach ihn Plug ungläubig. »Hast du ihn nicht nach Chicago zurückkehren sehen?«
»Nicht die Bohne – etwa du?«
»Ich habe ihn bisher nicht gesehen, aber mir sagt es mein kleiner Finger. Doch lass uns zu Petey gehen!«
Wenige Minuten später befanden sich die beiden Gentlemen in Peteys Saloon und hatten sich mit einem Bekannten von dunkler Gesichtsfarbe, den sie mit Joe anredeten, am selben Tisch zu einem herzhaften Trunk vereinigt.
Peteys Saloon erfreute sich des Vorzugs in der windigen Stadt, für den allerberüchtigtsten und gefährlichsten Sammelort der Ritter vom Messer und Brecheisen gehalten zu werden.
Der letzte Stuhl in der Spelunke war besetzt, als Sam und Plug sich mit ihrem Freund Joe niederließen. Ein unerträglicher Tabakqualm lagerte über den Tischen und verdüsterte die brennenden Gasflammen. Dabei ging es aber so leise wie in einer Kirche zu. Es war eine sehr schweigsame Trinkergemeinde, die sich da zusammengefunden hatte, und was die Gruppen an den einzelnen Tischen sich zu erzählen hatten, geschah in scheuem Flüsterton, als ob es sich um lauter wichtige Geschäftsgeheimnisse handelte, in welche man keinem unbefugten Dritten Einblick gewähren wollte.
Auch Sam, Plug und Joe folgten der Lokalregel, steckten die Köpfe zusammen und waren sogleich in eine derart angeregte Unterhaltung vertieft, dass sie es gar nicht wahrnahmen, wie allgemach sich der Schaum von ihren Biergläsern verflüchtigte.
»Sam ist so dumm wie ein Policeman«, knurrte Plug in unterdrücktem Flüsterton. »Er sah ihn nach New York abreisen und glaubt, er sei nun auch wirklich dorthin unterwegs. So ein Kamel!«
Dabei spuckte er verächtlich zur Seite.
»Well«, erklärte Sam gekränkt, »ich kann nur berichten, was ich gesehen habe!«
»Sag es noch einmal, denn ich habe es noch nicht gehört«, brummte Joe.
Von Neuem erzählte Sam, wie er den Bewussten gemeinschaftlich mit dem Polizeichef zum Bahnhof habe gehen sehen. Dort habe der von ihm beobachtete Mann ein Durchgangsticket nach New York gelöst und bald darauf den Schnellzug zur Hudson-Metropole bestiegen.
»Begab sich der Chef zum Hauptquartier zurück?«, erkundigte sich Joe.
Sam bejahte.
»Ich wette hundert Plungs gegen einen abgerissenen Hosenknopf«, ließ sich nun Plug vernehmen, »dass der New Yorker Geheime schon in Michigan City ausgestiegen und mit dem nächsten Lokalzug hierher nach Chicago zurückgekehrt ist!«
»Das hat er nicht nötig – er brauchte sich nur dem Kondukteur zu erkennen zu geben, dann wurde der Zug angehalten, wann und wo immer es ihm beliebte!«, bemerkte Joe.
»Du bist ein Schafskopf, Sam«, stellte Plug unter missbilligendem Kopfschütteln fest. »Warum folgtest du dem Kerl nicht auf den Zug nach und fuhrst mit ihm nach New York?«
»Du redest wie eine Katze, die in den Milchtopf gefallen ist«, höhnte der gekränkte Sam. »Kunststück, wenn man kein Geld im Sack hat, ein Ticket nach New York zu kaufen.«
»Mensch, so tief steckst du doch nicht im Dalles?«
»Nein, ungefähr einen Dollar trage ich noch in der Tasche«, bemerkte Sam, indem er eine Handvoll Scheidemünzen sehen und schleunigst wieder verschwinden ließ. »Wollt Ihr mir gefälligst sagen, wie ich dafür nach New York kommen und dort standesgemäß leben soll, eh?«
»Allerdings!«, brummte Plug, nach kurzem Stillschweigen. »Ich denke, es ist Zeit, dass der Bettel endlich geteilt wird!«
»Habt nur keine Bange, wir werden schon teilen!«, beschwichtigte Joe augenzwinkernd.
»Darum handelt es sich nicht, aber …«
»Well, wohl oder übel müsst Ihr warten! Das wäre gerade das richtige, jetzt die Plungs sehen zu lassen, wo alle Spürhunde hinter uns her sind. Solange wir nicht wissen, ob der New Yorker Schnüffler wirklich die Rückreise angetreten hat, kann von einer Teilung keine Rede sein!«
»Vielleicht ist er gar nicht wegen unserer kleinen Arbeit hergekommen«, warf Sam ein.
Plug begnügte sich mit einem verächtlichen Lächeln.
»Well, ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll«, brummte Joe. »Das Schlimme ist, dass ich den Schnüffler noch nie gesehen habe und ihn darum auch nicht kennen würde, liefe er mir über den Weg!«
»Pah, das ist das Geringste«, unterbrach ihn Plug achselzuckend. »Du magst ihm hundertmal begegnet sein und kennst ihn doch nicht wieder – der Kerl ist viel zu gerissen, und verkleiden kann er sich besser als ein Schauspieler!«
»Maul halten!«, wisperte Joe, denn im gleichen Augenblick näherten sich ihnen auch schon zwei Bekannte und nahmen am gleichen Tisch Platz.
Augenblicklich wurde das Gespräch beendet, und man begann nun, über das in der Stadt gerade stattfindende Pferderennen zu schwatzen.
Wie das bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, verging kaum eine Minute, und dann war man auch schon mitten in einem freundschaftlichen Meinungsstreit. Plug behauptete, dass ein gewisses Pferd bei einem gewissen Rennen in New Orleans Gewinner geblieben sei, während der eine neu angekommene Mann vom Gegenteil überzeugt war.
»Ich wette, dass ich recht habe«, erklärte Plug hitzig. »Ich habe nur keinen Zimmet bei mir, sonst legte ich gleich einen Dollarschein auf den Tisch!«
»Well, ich bin derselben Meinung!«, äußerte nun Joe. »Willst du wetten, dann trete ich für Plug ein!«
»Gewiss«, erklärte der Fremde. »Doch da du so siegesgewiss bist, wirst du mir was vorgeben, eh?«
»Vier gegen eins!«, vermaß sich Joe. »Hier liegt mein Zwanziger – heraus mit deinem Fünfer!«
Damit hatte Joe auch schon eine dicke Banknotenrolle aus der Tasche geholt und aus ihr einen Zwanziger hervorgeschoben.
Er hielt die Hand darauf und war gerade im Begriff, den Bartender als Unparteiischen heranzurufen, als ein verkommen ausschauender junger Mensch, welcher langsam durch das enge Lokal schritt, vor dem Tisch stehenblieb.
»Donnerwetter!«, rief er mit rauer Stimme, als er der Zwanzig-Dollar-Note ansichtig geworden war. »Wenn das meinen entzündeten Augen nicht gut tut, will ich mein Lebtag Wasser trinken! Lass mich das Ding einmal anfühlen, nur damit ich weiß, dass ich nicht träume!«
Damit lehnte er sich auch schon dreist über den Tisch und betastete die Banknote.
»Wahrhaftig, das ist ein Zwanziger!«, rief er dann überrascht. »Mensch, du bist ein ganz Dufter!«
Joe war so überrascht über die Frechheit des Strolches, dass er diesen mit offenem Mund anstarrte. Übrigens war keine Gefahr vorhanden, dass der Ankömmling sich etwa der Banknote zu bemächtigen versuchen wollte, denn bei Peteys herrschte strengste Spitzbubenehrlichkeit. Verirrte sich in diesen Biertunnel ein Grüner, so durfte er mit Todsicherheit annehmen, dass ihm ein Schlaftrunk ins Getränk gemischt und ihm bis auf die Kleider alles geraubt wurde, was er bei sich trug.
»Zieh Leine, zieh Leine, du Linkmichel!«, gebot Joe grob.
»Sag, Pard«, wisperte der Bursch grinsend, »ich habe seit drei Tagen keinen warmen Löffel im Magen gehabt – du hast so klotzig viel Zimmet, willst du nicht etwas zum Besten geben – was für den Hunger meine ich, also einen großen Whiskey!«
»Nun mach aber, dass du weiterkommst, oder ich gebe dir eins auf dein vorlautes Maul!«, knurrte Joe, die Faust ballend.
Der junge Strolch blickte enttäuscht drein und schlenderte achselzuckend weiter bis an das Ende der Bar, wo er noch einen leeren Platz fand.
»Das ist aber ein frecher Kerl!«, brummte Sam Bulger.
»Hat sich was, frech zu sein«, entgegnete Plug, dem Strolch nachschauend. Er nahm wahr, wie dieser seine Taschen der Reihe nach mit schmerzlicher Enttäuschung durchsuchte. Endlich musste er aber doch fünf Kupfercent gefunden haben, denn er warf sie auf den Bartisch und ließ sich ein Glas Bier einschenken.
Wenige Minuten darauf hatte Joe seine Wette gewonnen und strich vergnügt den mühelos ergatterten Fünfer ein, während die beiden Bekannten ihr Bier austranken und sich ärgerlich entfernten.
»Schau dir den Burschen dort am Barende näher an«, wisperte Plug, als er sich mit seinen beiden ursprünglichen Genossen wieder allein sah.
»Wen meinst du«, gab Joe flüsternd zurück, »den frechen jungen Kerl von vorhin?«
»Well, ich habe so eine Ahnung, als ob etwas hinter ihm steckt – er ist nicht seiner Gesundheit halber hier im Lokal. Weißt du, wer es ist? Ich lasse mir den Kopf abhacken, ist es nicht Nick Carter!«
Die letzten Worte flüsterte er so leise, dass die beiden anderen am Tisch ihn kaum verstehen konnten.
Welchen Eindruck seine Mitteilung auf Joe auch immer hervorrufen mochte, so ließ sich dieser dennoch äußerlich nichts anmerken. Er saß gelassen da und beobachtete den verdächtigen Burschen ganz unmerklich, doch umso schärfer.
»Meinst du wirklich?«, flüsterte er schließlich ungläubig.
»Gewiss, ich habe nur zu oft mit ihm zu tun gehabt, um mich täuschen zu können. Wie er sich heute gibt, so habe ich ihn noch nie zuvor gesehen – doch sein Benehmen vorhin hier am Tisch gefiel mir nicht.«
»Er kümmert sich aber gar nicht um uns!«
»Der Kerl hat hinten Augen – er kann um die Ecke schauen!«, brummte Plug vielsagend.
Das Kleeblatt flüsterte aufgeregt mehrere Minuten lang miteinander. Schließlich nickte Sam, welcher von Joe Verhaltensmaßregeln erhalten hatte, erhob sich und verließ das Lokal. Die beiden anderen gaben Petey, dem Spelunkenwirt, der nahebei an einem Tisch saß, einen Wink, der diesen veranlasste, sich ihnen zuzugesellen.
Inzwischen hatte der junge Strolch sein Bier ausgetrunken und setzte sich nun in schläfriger Haltung auf einem Stuhl zurecht. Rings um ihn saßen in ähnlicher Weise etwa ein Dutzend anderer Männer. Sie machten nur von einem verbrieften Rechte Gebrauch, denn wer ein Glas Bier an der Bar gekauft hatte, durfte die ganze Nacht in dem Lokal verbringen.
Natürlich geschah dies nur, wenn Holland in Not war, und Petey konnte sicher darauf zählen, dass seine Schlafgäste, welche auf solche Weise nächtlicher Weise die Stunden totzuschlagen suchten, eine doppelt so große Zeche machten, hatten sie wieder Geld in der Tasche.
Gelassen hörte der Wirt an, was Joe ihm flüsternd berichtete. Dann stand er auf, näherte sich mit wuchtigen Schritten dem jungen Strolch, packte ihn beim Kragen und schüttelte ihn derb.
»Heda, junger Mann«, sagte er grob. »Es ist Zeit für dich, dass du um ein Haus weitergehst!«
»Aber warum«, knurrte der Ermunterte gähnend. »Ich sitze hier ganz gut!«
»Mach voran, dein Stuhl wird gebraucht!«, befahl Petey barsch.
Keiner der Gäste in der Spelunke wagte es, einem Befehl des stämmigen Wirtes Widerstand entgegenzusetzen. Wenn er seine Stimme erhob, so heischte er pünktlichen Gehorsam. Außerdem aber wusste seine Stammkundschaft, dass er seine guten Gründe hatte, warf er einen Gast aus dem Lokal.
In diesem Fall hatte er ungewöhnlich laut gesprochen, sodass seine Stimme im ganzen Tunnel vernehmlich gehört worden war. Nun richteten sich die Blicke aller Anwesenden auf den jungen Burschen, den Petey beim Kragen gepackt hielt. Selbstredend erblickten da auch schon alle Stammkunden in dem unbekannten Strolch einen gemeinsamen Feind – oder, was noch schlimmer war, wohl gar einen verkleideten Detektiv.
Als der junge Vagabund deshalb unter dem Geleit des Wirtes sich durch den langgestreckten Raum der Tür zuschob, trafen ihn gar feindliche Blicke. Wohl hatte er keinem der Anwesenden etwas zuleide getan, doch dies mochte noch geschehen, und schon aus diesem Grund wären die meisten der Rowdies mit Vergnügen bereit gewesen, über ihn herzufallen.
Da und dort versetzte einer der Nächstsitzenden dem gewaltsam nach dem Ausgang Geführten einen Fauststoß, und kurz vor der Tür versuchte einer der Männer, ihm sogar einen Fußtritt zu versetzen. Doch mit der Gewandtheit eines Aales wusste der junge Bursche, der wirklich auch hinten Augen zu besitzen schien, der zugedachten Misshandlung auszuweichen. Blitzschnell hatte er das gefüllte Trinkglas des Rowdies gepackt und warf es diesem ins Gesicht. In der nächsten Sekunde hatte er die Tür erreicht und war aus dem Lokal, noch bevor die in wildem Tumult ihm Nachsetzenden ihn erwischen konnten.
Petey versperrte mit seiner mächtigen Gestalt die Ausgangstür und schleuderte die ihm zunächst in den Handbereich Kommenden ohne Weiteres zurück.
»Setzt euch nieder, ihr Narren!«, gebot er mit dröhnender Bass-Stimme, indem er zur Rechten und Linken seine Gäste nach ihren Tischen zurückbeförderte. »Wollt ihr euch wohl ruhig verhalten? Nicht gemuckst, sage ich euch – lass den Strolch laufen! Wer ihm nachgeht, der betritt meinen Saloon nicht wieder!«
Das genügte, um die Stammkunden zu veranlassen, mit der größten Geschwindigkeit die verlassenen Plätze wieder einzunehmen.
»Wer war es denn?«, erkundigte sich einer, der mit dem gefürchteten Wirt auf gutem Fuße stand.
»Weiß ich es?«, gab Petey grob zurück. »Der Strolch passte nicht ins Lokal, und darum feuerte ich ihn hinaus. Aber ich möchte keine Polizei hier im Saloon habe, verstanden, ihr Dickköpfe?«