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Adventskalender 2024 – 11. Türchen

Das Heiligtum

Zwei Gevatter betrieben dasselbe Handelsgeschäft, aber mit sehr ungleichem Erfolg, denn der eine wurde reicher, der andere ärmer. Der eine arbeitete unermüdlich, der andere gab sich dem Vergnügen hin und ließ seine Leute schalten und walten. Aber er glaubte nicht, dass die Dinge natürlich sein könnten.

Da sprach er eines Tages zu seinem Gönner: »Sage mir nur, wie ihr in euren Geschäften reich werdet, während ich im Krebsgang gehe. Wir haben doch ein Geschäft und eine Ware; aber Ihr gewinnt dabei und ich verliere. Ich bin weder ein Spieler noch ein Trinker. Ich dachte schon, Ihr hättet einen Kobold oder Hausgeist, der Euch Glück und Segen bringt, dass Euch alles zufällt und einfällt. Oder kennt Ihr eine geheime Kunst oder habt ein köstliches Reliquiar, denn sonst kann ich es nicht deuten.«

Der Gevatter wollte ihn nicht beschämen und sprach: »Ich habe kein Heinzelmännchen und weiß auch keine geheime Kunst; aber ein köstliches Reliquienstück hat mir mein Vater hinterlassen, das vom Heiligen Grab kommt. Das hänge ich mir um den Hals und trage es täglich durchs ganze Haus, in den Keller und auf den Boden, und davon kommt mir Segen.«

»Ach, lieber Gevatter«, sagte der andere, »tut mir doch Gutes und leiht mir Euer kostbares Heiligtum, nur auf kurze Zeit. Möge es mir dann bald besser gehen, denn es steht wirklich schlecht um mich.«

Der Gevatter sprach: »Kommt morgen zu mir, so sollt Ihr es haben.«

Da ging er nach Hause und zog eine wurmstichige Seidenschnur durch eine Haselnuss und gab sie dem Gevattersmann, als er morgens zu ihm kam, als Heiligtum um den Hals zu tragen.

Der dankte ihm und tat, wie er ihm gesagt hatte, und trug das Heiligtum täglich durch das ganze Haus, in Küche und Keller, Stall und Scheuer, auf Heu- und Kornböden und in alle Vorratskammern. Da sah er, wie alles verwahrlost war, wie im Keller mit Wein, Bier und Öl, in Küche und Speisekammer mit Brot, Fleisch und Gemüse, im Stall mit dem Vieh, in den Speichern mit den Waren, auf dem Boden mit Früchten und Samen nachlässig und verschwenderisch umgegangen wurde. Und als er in seine Schreibstube kam und seine Bücher aufschlug, fand er die Briefe nicht eingetragen, die Rechnungen nicht geschrieben, die bezahlten Posten nicht gelöscht, die unbezahlten nicht eingetrieben.

Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er verstand nun, warum er zurückwirtschaftete, und verstand seines Vaters Meinung mit dem Heiligtum, das er durchs ganze Haus tragen sollte, und nahm sich vor, ein anderer Mensch zu werden und täglich selbst auf sein Geschäft zu achten. Er hielt sich daran und wurde ein reicher Mann. Das Heiligtum aber brachte er dem Gevatter zurück und dankte ihm doppelt, einmal für den guten Rat und dann für die sanfte Art, mit der er ihn den Rat gelehrt hatte.

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