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Adventskalender 2024 – 8. Türchen

Die verheiratete Meermaid

Ein Märchen der Shetland-Inseln

An einem schönen Sommerabend ging ein Einwoh­ner von Unst auf dem sandigen Rand einer Voe spa­zieren. Der Mond hatte sich erhoben, und er sah bei dessen Licht eine Menge Unterirdischer, die eifrig auf dem weichen Sand tanzten. Neben ihnen lagen mehrere Seehundfelle auf der Erde.

Als der Mann sich den Tänzern näherte, hörten sie alle plötzlich auf und eilten schnell wie der Blitz, ihre Gewänder in Sicherheit zu bringen; dann sich anklei­dend, sprangen sie als Seehunde in die See. Da nun der Shetländer die Stelle betrat, wo sie gewesen waren, und die Augen auf den Boden richtete, bemerkte er, dass sie eins von den Fellen, das gerade vor seinen Füßen lag, zurückgelassen hatten. Er ergriff es, trug es schnell fort und brachte es in Sicherheit.

Als er ans Ufer zurückkehrte, sah er das schönste Mädchen von der Welt. Es ging auf und nieder und beklagte in den traurigsten Tönen den Verlust seines Seehundgewandes, ohne welches es nie hoffen konnte, wieder zu seinen Verwandten und Freunden unter dem Wasser zurückzukehren, sondern wider Willen auf der Oberwelt bleiben musste.

Der Mann näherte sich der Jungfrau und versuchte sie zu trösten; umsonst, sie wollte nicht getröstet sein. Sie bat ihn in den rührendsten Ausdrücken, ihr das Gewand zurückzugeben; aber der Anblick ihres hold­seligen Gesichtes, das die Tränen noch verschönten, hatte sein Herz verhärtet. Er stellte ihr die Un­möglichkeit ihrer Rückkehr vor, dass ihre Freunde und Verwandten sie endlich aufgeben würden, und schloss damit, dass er ihr sein Herz und seine Hand antrug.

Da sie fand, dass ihr nichts anderes übrig blieb, willigte sie zuletzt ein, seine Frau zu werden. Sie wurden verehelicht und lebten manches Jahr miteinander, während welcher Zeit sie mehrere Kinder zeugten, die außer einer dünnen Haut zwischen den Fingern und ei­ner Beugung der Hand, wodurch diese Ähnlichkeit mit der Vorderpfote eines Seehundes bekam, keine weiteren Spuren ihrer seeischen Abkunft an sich trugen. Jene Merkmale charakterisieren aber noch heutigen Tages die Abkömmlinge dieser Familie.

Des Shetländers Liebe zu seiner schönen Frau war unbegrenzt; sie erwiderte hingegen seine Neigung nur sehr kalt. Oft schlich sie sich allein fort und eilte zum einsamen Strand, wo auf ein gegebenes Zeichen ein sehr großer Seehund erschien, mit dem sie sich ganze Stunden in einer unbekannten Sprache unterhielt. Ge­wöhnlich kehrte sie dann nachdenkend und traurig nach Hause zurück.

Jahre verstrichen, und ihre Hoffnung die Oberwelt verlassen zu können, war fast gänzlich verloschen, als die Kinder zufällig eines Tages ein Seehundfell hinter einem Haufen Getreide fanden. Erfreut über diese Beute, liefen sie eifrig zu ihrer Mutter, ihr dasselbe zu zeigen. Mit Entzücken betrachtete jene das Fell; denn sie erkannte ihr Gewand, dessen Verlust sie so betrübt hatte. Nun glaubte sie sich von allen Banden befreit und war in Gedanken schon bei ihren Freunden unter den Wellen. Eins nur gab es, das ihrer Wonne Fesseln anlegte. Sie liebte ihre Kinder zärtlich und sollte sie nun für immer verlassen. Doch wogen diese die Lust, die ihrer wartete, nicht auf. Deshalb umarmte und küsste sie sie, ergriff das Fell und eilte an den Strand.

Gleich danach kam ihr Gatte heim und die Kinder erzählten ihm, was sich zugetragen hatte. Er erriet augenblicklich das Wahre und eilte, von Angst und Liebe getrieben, ihr nach. Doch kam er nur an, um zu sehen, wie sie in der Ge­stalt eines Seehundes herab vom Felsen in die Flut sprang.

Der große Seehund, mit dem sie sich gewöhnlich zu unterhalten pflegte, gesellte sich alsbald zu ihr, wünschte ihr Glück zu ihrer Flucht, und beide verließen zusammen das Ufer. Ehe sie aber schied, wandte sie sich zu ihrem Gatten, der in stummer Verzweiflung auf dem Felsen stand, und dessen Trauer ihr Mitleid er­regte.

»Lebe wohl!«, rief sie ihm zu, »alles Glück mit dir. Ich habe dich wahrhaft geliebt, solange ich bei dir war, aber meinen ersten Gatten liebte ich stärker.«