Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 1 – Der letzte Höhlenmensch – 6. Kapitel
Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 1
Der letzte Höhlenmensch
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901
Im Leichentempel
Beim ersten Schritt prallte Richard entsetzt zurück. Der Mondschein drang durch ein offenes Fenster und fiel hell auf ein menschliches Gesicht – ein schreckliches Gesicht, wachsgelb und mumienartig eingetrocknet, aus dem ein zahnloser Mund ihm entgegengrinste und gläserne Augen ihn anstierten.
»Fürchte dich nicht, wir sind im Leichentempel der Farken«, flüsterte Maka, seine Hand wieder ergreifend, »es sind nur die ausgetrockneten Leichen großer Häuptlinge.«
Auch von selbst hätte sich der unerschrockene Knabe schnell wieder gefasst. Ja, dieses mumienartige Gesicht da vor ihm gehörte allerdings einer einbalsamierten oder trocken geräucherten Mumie an.
Nun betrachtete er sie näher. Die Leiche kauerte mit untergeschlagenen Beinen auf einem mit Decken bekleideten Brett, trug ein Gewand von feinem Gewebe, war mit Bronzeschmuck überladen, hielt in der einen Hand eine Streitaxt, in der anderen ein zusammengerolltes Stück Leder, das auch auf der Außenseite kleine Bildchen in roter Farbe zeigte, und in ihrem Schoß lagen Bogen, Pfeile, Dolche und zierlicher Schmuck. Richard gewöhnte sich bald an die Dunkelheit und gewahrte nun, dass er sich in einer großen Gesellschaft solcher seligen Häuptlinge befand.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Höhlenmädchen zu, das vorsichtig zum Fenster hinauslugte, dabei aber nicht vermeiden konnte, dass es vom Mondschein getroffen wurde.
Es war eine eben zur Jungfrau gereifte Gestalt, mit angenehmen Gesichtszügen, braunen Augen und solchen graubraunen Haaren, wie sie Richard schon an Karak beobachtet hatte. Es trug ein ärmelloses Gewand aus einem sehr feinen Gewebe und war, wo sich solcher nur anbringen ließ, mit Bronzeschmuck bedeckt, sodass die Vermutung wohl richtig war, dass man es bereits als Opferlamm festlich geschmückt hatte.
Das Wolfsgeheul verlor sich in der Ferne, und über das Feld eilten nur noch wenige bewaffnete Männer hin und her. War Karak die Flucht gelungen?
»Dir verdanke ich mein Leben, nur dir allein«, wandte sich da Maka an Richard mit sanfter Stimme, »denn wäre ich bei meinem Vater gewesen, so wäre ich den Wölfen nicht entgangen. Wir würden in Stücke gerissen worden sein, was allerdings noch besser gewesen wäre, als wenn ich übermorgen auf dem Opferaltar unter dem Messer der Priesterinnen lebendig verblutete. Mein Vater flüsterte mir zu, wer du seiest, und dass ich dir vertrauen sollte. Ich danke dir, Fremdling, du hast die Tochter des letzten Höhlenmenschen gerettet.«
»Was sagte dir Karak, wer ich sei?«, fragte Richard erwartungsvoll.
»Der Erste der Fremden, von denen unsere klugen Frauen geweissagt haben. Vom Aufgang der Sonne werden sie über die Berge kommen, mit ihren Häuptlingen, die auf Tieren sitzen, wie wir sie hier nicht kennen, deren Augen wie der blaue Himmel strahlen und deren Haare so rot wie die Bronze der Farken ist, während die Haut ihrer Frauen der weißen Blüte des Kirschbaumes gleicht. Diese werden das ganze Land erobern, und die Farken müssen wieder vor ihnen weichen, denn jene sind viel tapferer, stärker und viel klüger als sie, und sie werden auch die Tiere des Waldes bezwingen und diesen selbst dann ausrotten. Aber«, setzte Maka in traurigem Ton hinzu, »die einstigen Herren dieses Landes, die Bewohner der Höhlen, werden sie nicht mehr vorfinden, du, der erste ihres Stammes, siehst den Letzten.«
Maka hatte von den Germanen gesprochen.
Dann sagte sie, dass sie hier in diesem Leichentempel sicher aufgehoben seien, bis Karak sie morgen Nacht abholte. Wenn er aber nicht käme, so müssten sie ihre Flucht allein fortsetzen.
Der Schlaf forderte aber seine Rechte, und da Decken, wenn auch nicht für Lebende bestimmt, genug vorhanden waren, so schlummerten die beiden schon in kurzer Zeit friedlich unter den gläsernen Augen der Mumien.
Die Sonne eines neuen Tages hatte sich schon über den Wald erhoben, als Richard von Maka geweckt wurde. Sie stellte einen Becher mit Wasser und einen großen Korb mit getrockneten Früchten, mit Kirschen, Pflaumen, Birnen und Äpfeln vor ihn hin. Richard hatte die Bäume dieser Fruchtarten schon auf der Wasserfahrt wild wachsen sehen, auch in der Pfahlbauhütte hatten Kirsch- und Pflaumenkerne gelegen. Er wunderte sich nur, wie Maka zu diesen Früchten kam.
»Jedes Jahr einmal betritt eine Priesterin dieses Leichenhaus«, erklärte sie, »und bringt dabei den toten Häuptlingen einen Korb mit getrocknetem Obst, denn die Farken glauben, dass deren Leichen des Nachts etwas Speise zu sich nehmen müssten.«
Richard ließ sich das Obst trefflich munden, die Anwesenheit der Mumien störte ihn nicht mehr. Dann gesellte er sich Maka bei, die schon gegessen haben mochte und, entfernt vom Fenster, durch eine Spalte in der Wand, das Farkendorf und die Umgegend beobachtete.
»Auf dem Feld wird nicht gearbeitet, was hat das zu bedeuten?«, murmelte sie dabei gedrückt.
Das Dorf lag zu weit ab, außerdem ja auch oben auf der erhöhten Fläche, sodass man nicht sehen konnte, was darin vorging. Aber etwas Besonderes musste es wohl sein, denn Menschen gingen hastig durch die Tore aus und ein, ohne sich von den Palisaden zu entfernen, und man schien an der Holzwand etwas zu bauen. Niemand aber nahm die gestrige Feldarbeit wieder auf, obwohl, wie Maka erklärte, heute kein Festtag der Farken war.
Endlich kam Ordnung in die vor den Palisaden stehenden und sich durcheinander bewegenden Menschen, sie bildeten einen Zug, und bald schwankte durch das Tor, das zu diesem Zweck jedenfalls abgedeckt worden war, eine hohe Tragbahre mit Thronhimmel. Der Zug kam näher, er bewegte sich gerade auf den See zu, und Richard sah, dass er nur aus Farken bestand, die alle reich geschmückt und mit Schwertern, Dolchen, Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Einige trugen auch Schilde am Arm. Auch der Thronhimmel wurde nicht von nackten Sklaven, sondern von gut gekleideten und festlich geschmückten Farken getragen.
»Meine Ahnung!«, hauchte da Maka. »Vor acht Tagen starb der Bruder des Häuptlings und gerade heute wird er hierhergebracht! Nur bei solch einer neuen Leiche darf der Tempel von allen betreten werden – nun sind wir verloren!«
Richard erkannte die Gefahr, in der sie schwebten.
»Was geschieht, wenn sie uns hier finden?«, fragte er erregt.
»Sie martern uns langsam zu Tode, um die erzürnten Seelen der Verstorbenen zu besänftigen, und diesen Tempel mit allen Leichen verbrennen sie, denn wir haben ihn entweiht! Wir sind verloren, Richard!«
»Noch nicht«, erwiderte er, sein Gewehr untersuchend, »wenn es uns ans Leben geht, haben wir das Recht, dasselbe zu verteidigen. Lebendig fangen sollen sie uns nicht.«
Auch Maka schien von vornherein die Absicht gehabt zu haben, sich nicht ohne Kampf zu ergeben, denn sie nahm bereits den Mumien die zahlreichen Pfeile ab und prüfte zwei Bogen, von denen sie den einen dann ihrem Freund anbot, den dieser jedoch zu ihrem Staunen zurückwies. Sie kannte noch nicht die Bedeutung des langen Gegenstandes, den Richard in der Hand hielt.
Am Ufer waren inzwischen Kähne befestigt worden, auf die der Thronhimmel gesetzt wurde, unter dem, wie Richard erst jetzt bemerkte, sich auch zwei Frauen befanden. Dann bestiegen die übrigen Farken ebenfalls Kähne, und in geordneter Reihe, voran die Krieger mit den Schilden, ging es in langsamen Rudertakt auf die Pfahlhütte zu.