John Strobbins – Eine mysteriöse Flucht
José Moselli
John Strobbins Folge 1
Eine mysteriöse Flucht
Kapitel 1
Ein rätselhafter Vorfall
Mr. James Mollescott, Polizeichef von San Francisco, drehte sich eine dünne Zigarette aus Opiattabak, zündete sie an und nahm einen Zug. Dann legte er sie in einen eleganten Metallaschenbecher, lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und drückte mit ausgestreckter Hand den Knopf einer elektrischen Klingel. Der Abend brach an, das violette Licht der Straßenlaternen der Kentucky Avenue drang bereits durch das angelehnte Fenster. James Mollescott betätigte einen Schalter, der die in grünes Porzellan gehüllte Glühbirne über dem breiten Mahagonischreibtisch zum Leuchten brachte. Im selben Moment klopfte es.
»Herein!«
Leise öffnete sich die schwere Ledertür und der Sekretär des Polizeichefs trat ein.
»Keine Neuigkeiten, Morsith?«
»Nein, Chef! Abgesehen davon, dass die Diebstähle bei den Juwelieren weitergehen, so mysteriös wie zuvor.«
»Ja … seltsam … Aber …«
Ein rasselndes Geräusch unterbrach den Polizisten, der nervös die Stirn runzelte und sich hastig den Hörer eines neben ihm hängenden Telefons ans Ohr hielt. Fast augenblicklich nahm sein Gesichtsausdruck einen Ausdruck des Erstaunens an, der sich allmählich in Wut verwandelte… Worte wie Teufel … unfähig … natürlich … Das war zu erwarten … entglitten seinen Lippen, die sich zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Nachdem sein Gegenüber anscheinend aufgehört hatte zu sprechen, antwortete er: »Gut. Das Nötige wird veranlasst. Halten Sie mich auf dem Laufenden! Guten Abend.«
Mit einer heftigen Bewegung legte der Polizist den Hörer auf. Morsith wartete mit fragendem Blick.
»Sagen Sie Peter Craingsby, er soll zu mir kommen … Gehen Sie!«
Der Sekretär musste gehorchen; trotz seines Wunsches, informiert zu werden, antwortete er: »Ja, Chef.« Und verschwand.
Einige Augenblicke vergingen, während Mollescox nervös auf seinem Schreibtisch trommelte. Schließlich klopfte es leise an die Tür, und auf Einladung des Sicherheitschefs trat Peter Craingsby ein.
Peter Craingsby galt als der scharfsinnigste Ermittler des Staates Kalifornien. Zunächst Matrose, dann Bahnhofsvorsteher und schließlich Ingenieur in einem metallurgischen Betrieb, entbrannte in ihm eine Leidenschaft für den Polizeiberuf. Dank seiner Hilfe konnten mehrere Kriminelle gefasst werden. Trotz seines Alters wurde er daher umgehend in die Polizei von San Francisco aufgenommen. Mit vierzig Jahren sah er zehn Jahre jünger aus, was er seinen schwarzen Haaren zu verdanken hatte, deren Strähne ständig seine hohe und gewölbte Stirn streifte, sowie dem lebhaften Blick seiner schwarzen Augen.
Mit drei großen Schritten erreichte er den Schreibtisch seines Chefs. Er neigte den Kopf und wartete.
»Guten Tag, Craingsby!«, murmelte Mollcscott. »John Strobbins ist aus dem Gefängnis in Sacramento ausgebrochen … Keine Einzelheiten. Mittags war er noch da, als der Wärter ihm das Essen in die Zelle brachte. Und heute Abend ist er nicht mehr da. Das hat mir gerade der Gefängnisdirektor telefonisch mitgeteilt, der das Gebäude vom Keller bis zum Dach durchsuchen ließ, ohne eine Spur von unserem Mann zu finden. Ich hatte ihm gesagt, er solle aufpassen! Tja! Fahren Sie nach Sacramento und versuchen Sie, unseren Mann zu fassen!«
»Ich breche sofort auf! Auch wenn Strobbins ein schlaues Kerlchen ist.«
»Und der Direktor von Sacramento ein Naivling! Auf Wiedersehen, Craingsby!«
»Auf Wiedersehen, Chef!«
Wenige Minuten später saß Peter Craingsby in einem Abteil der ersten Klasse und raste nach Sacramento. Innerhalb einer Stunde war er dort.
Unauffällig inmitten der Menschenmenge, die sich fieberhaft durch die dunklen Straßen bewegte, ging Peter Craingsby auf das Gefängnis zu und dachte über seine Mission nach. Er kannte John Strobbins und war sich der Schwierigkeiten bewusst, die ihn bei der Ergreifung erwarten würden.
Ohne es selbst zu bemerken, so sehr war er in Gedanken versunken, erreichte er das eiserne Tor des kalifornischen Staatsgefängnisses. Er klingelte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und der Wärter, der den Polizisten erkannte, ließ ihn eintreten.
»Stellen Sie mich Mr. Smithson vor!«, befahl Craingsby.
Der Wärter pfiff. Ein Wärter erschien und bedeutete dem Polizisten, ihm zu folgen.
Direktor Smithson war, wie man umgangssprachlich sagt, in Aufruhr. John Strobbins, verurteilt wegen Urkundenfälschung, schweren Betrugs und Einbruchdiebstahls, war ihm zur Verbüßung einer zwanzigjährigen Haftstrafe anvertraut worden. Doch John Strobbins, Anführer einer gut organisierten Bande aus San Francisco, war ein professioneller Ausbrecher. Schon einmal war ihm die Flucht aus dem Gefängnis von Tumb bei New York gelungen, ein anderes Mal verschwand er aus dem Gefangenentransporter, der ihn zurück zum Gericht bringen sollte. Und nun, nachdem er dank der Geschicklichkeit von Peter Craingsby gefasst worden war, war es ihm trotz aller Vorsichtsmaßnahmen von Smithson, dessen Verantwortung dadurch beträchtlich erschien, erneut gelungen zu entkommen.
»Lassen Sie ihn herein!«, sagte er dem Wächter, nachdem dieser Craingsby gemeldet hatte.
Unbeeindruckt trat der Polizist vor und verbeugte sich vor Smithson, während sich der Wächter auf ein Zeichen des Direktors zurückzog und die Tür hinter sich schloss.
»Nehmen Sie Platz, Mr. Craingsby!«, sprach Smithson und deutete auf einen Stuhl.
Craingsby gehorchte und wartete.
»Sie wollen zu John Strobbins? Ja? … Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen! Wie ich Mr. Mollescott telefonisch mitgeteilt habe, sind alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. Strobbins war heute Mittag hier. Und heute Abend ist er nicht mehr da!«
»Ah! … Würden Sie bitte den Wärter rufen, der für die Zelle des Gefangenen zuständig ist?«
»Der weiß von nichts!«
»Egal, ich will ihn sprechen!«
»Wie Sie wünschen!«
Der Direktor griff zum Telefon und rief: »Holen Sie den Wärter Clemm!«
Stille trat ein. Die beiden Männer überlegten.
Nachdem sich der Wärter Clemm durch zweimaliges Klopfen an die Tür angekündigt hatte, trat er ein. Er war ein kräftiger, rothaariger Mann mit einem gutmütigen Gesicht.
»Sind Sie der Wärter Clemm?«, fragte Craingsby sofort, ohne ihm Zeit zu geben, sich zu sammeln. »Sie waren für die Bewachung von John Strobbins verantwortlich. Was glauben Sie, wohin er geflohen ist?«
»Ich … Ich weiß es nicht.«
»Das ist keine Antwort! Ich bin Mr. Craingsby, Detektiv in San Francisco. Sie kennen mich, nicht wahr? Nun, ich sage Ihnen, dieser Fall verheißt nichts Gutes für Sie! Seien Sie ehrlich, haben Sie den Gefangenen um die Mittagszeit gesehen?«
»Oh! Mr. Craingsby!«, versicherte Clemm mit dem Ton tiefster Aufrichtigkeit, »ich bin sicher, dass ich ihn gesehen habe, ich habe sogar mit ihm gesprochen!«
»Was haben Sie ihm gesagt? Es ist Ihnen verboten, mit den Gefangenen zu sprechen!«
»Ich … weiß … Ich wollte ihm sagen, dass seine Zelle schmutzig ist!«
»Und was hat er geantwortet?«
»Nichts. Er hat seinen Teller durch die Luke geschoben und das war’s!«
»Und wann haben Sie Ihren Dienst beendet?«
»Um zwei Uhr, um sechs zurück … Madison hat mich abgelöst!«
»Und wo ist Madison?«
»Zu Hause«, unterbrach der Direktor. »Ich habe ihn befragt: Er weiß nichts, der arme Mann. Er ist ein alter Bediensteter, über jeden Verdacht erhaben.«
»Und er ist während seiner Wache nicht hinausgegangen?«, fragte Craingsby.
»Deshalb habe ich den Hausmeister gefragt.«
»Sehr gut! Mr. Smithson, dann bitte ich um Erlaubnis, die Zelle von John Strobbins zu inspizieren!«
»Selbstverständlich! Kommen Sie mit«, erwiderte der Direktor und erhob sich.
Gefolgt von Clemm und Craingsby betrat er den Häftlingsbereich. Strobbins’ Zelle befand sich in der Mitte einer Gruppe von sechzehn Zellen, deren Türen zu einem symmetrischen Raum führten, in dessen Mitte der Wärter stand. Dieser war mit der Außenwelt durch eine eiserne Treppe verbunden, die zu einer Galerie im oberen Stockwerk führte, von der aus alle Zellen eingesehen werden konnten. Eine Flucht war unmöglich, ohne gesehen zu werden!
Die drei Männer betraten die Zelle, in der Strobbins einsaß. Nichts deutete auf einen Ausbruch hin. Die zwei Meter fünfzig hohen Eisenwände waren weiß gestrichen, ohne Kratzer. Der gepflasterte Boden wies keine Unebenheiten auf.
Vergeblich suchte Craingsby mit der Taschenlampe in der Hand jeden Winkel ab … Er fand nichts.
Enttäuscht machte er eine wütende und zugleich hilflose Geste.
»Ich verstehe überhaupt nichts!«, sagte er zwischen seinen Verneinungen. »Das wird schwierig! Wenn Sie erlauben, Herr Direktor, komme ich morgen wieder!«
»Wie Sie wünschen!«
»Eine letzte Frage: Ist heute ein Gefangener freigelassen worden?«
»Nein, niemand!«
»Vielen Dank, Herr Direktor, bis morgen!«
Mit diesen Worten verabschiedete sich Craingsby, und nachdem ihn ein Wächter bis zum Tor begleitet hatte, suchte er sich eine Unterkunft für die Nacht.
Doch am nächsten Tag wartete Direktor Smithson vergeblich auf ihn. Auch am übernächsten Tag nicht.
Dafür sah Mr. James Mollescott vierundzwanzig Stunden nach Craingsbys Abreise seinen Gerichtsdiener kommen, der ihm den Detektiv ankündigte.
Craingsby erschien. Er war heiser und trug einen Schal.
»Nun, Craingsby?«, fragte Mollescott? Haben Sie etwas?«
Ja, John Strobbins ist entkommen, ich weiß nicht wie … Aber ich werde es herausfinden … Ich weiß nur, dass er das Schiff genommen hat, das heute Morgen nach Japan ausgelaufen ist, die MATSU-MARU oder CANU-MARU … Ich bin mir nicht mehr sicher. Kurz gesagt, ich habe eine Spur … Ich bin gekommen, um Sie um einige Mittel zu bitten, damit ich mich sofort auf die Suche machen kann!«
»Natürlich! John Strobbins! Und wenn Sie ihn mir bringen, haben Sie Anspruch auf eine schöne Belohnung. Hier sind tausend Dollar. Machen Sie sich sofort auf den Weg!«, schloss der Polizeichef und reichte seinem Untergebenen zehn Hundert-Dollar-Scheine.
Craingsby steckte sie sorgfältig ein, schüttelte seinem Vorgesetzten die Hand und verabschiedete sich.
Doch wer kann die Überraschung und den Ärger des ehrenwerten James Mollescott beschreiben, als er zwölf Stunden nach Craingsbys Abreise den folgenden getippten Brief erhielt:
Sehr geehrter Mr.,
vielen Dank für Ihre tausend Dollar. Ich werde doch nicht nach Japan gehen! Ich habe Freunde in Santa Barbara, die mich gerade eingeladen haben. Ich werde dorthin reisen. Nochmals vielen Dank.
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