Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 1. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
1. Kapitel
Ein unlösbares Rätsel
Es war am Morgen nach einem Jubelfest. Der Tag schien grau durch die Fenster eines vornehmen Hauses der City. Die Dienerschaft war es gewohnt, dass die Herrschaft nach einem solchen Abend ganz besonders lange schlief. Heute aber war es fast Mittag, und noch immer war es still in den Schlafzimmern des Lords Sir Dempson und seiner Gemahlin Lady Maud.
»Ich werde einmal vorsichtig nachsehen«, sagte der alte Kammerdiener zu den miteinander unruhig disputierenden Lakaien. »Vom Balkon aus ist es möglich, in das Schlafzimmer des Lords hineinzugucken.«
Der greise Diener, Matthias Elgood, schritt durch einige prunkvoll eingerichtete Gemächer zu dem Balkon, der die Rückwand des Hauses hinunterlief, und schlich dann auf leisen Sohlen an das erste der Schlafzimmerfenster. Die Vorhänge waren niedergelassen, und es schien ein Ding der Unmöglichkeit, in das Gemach hineinspähen zu können.
Plötzlich blieb Matthias Elgood am zweiten Fenster stehen. Ein Zipfel des inneren Vorhangs war zurückgeschlagen. Vorsichtig legte der greise Diener ein Auge an den kleinen Spalt und taumelte dann mit einem Schreckenslaut zurück.
»James! Henry!«, rief er mit keuchendem Atem, den Weg über den Balkon zurückwankend.
»Was hast du denn?«, fragten die Angerufenen, ihm ängstlich entgegeneilend.
»Herr des Himmels! Blut!«, schrie der Alte entsetzt auf.
Die Dienstboten stürmten vorwärts über den Balkon und sahen durch die ihnen von Matthias Elgood gewiesene Spalte.
»Blut!«, riefen auch sie, und ihre Gesichter erstarrten, ihre Wangen färbten sich bleich.
»Das ist Mord!«, sagte der eine, sich ermannend. »Lasst uns die Tür aufbrechen. Vielleicht ist noch Leben in ihnen.«
»Nichts da«, wehrte der Kammerdiener ab. »Rührt nicht an Türen und Fenstern. Wir müssen die Behörde benachrichtigen.« Tränenden Auges traf er Anordnungen, dass einer der Lakaien zum nächsten Konstabler, ein anderer zum Gericht, ein Dritter zum Hausarzt rannte und die Herren in das Haus des Lords berief.
Er selbst blieb zurück und nahm seinen Posten vor dem Eingang zu den Schlafgemächern ein. Er verharrte hier, als wäre er zu Stein erstarrt. Unverwandt blickte er auf die Tür: Er konnte das Geschehene noch immer nicht fassen.
Nun wurden Schritte laut, die sich dem Vorgemach zu den Schlafzimmern näherte. Zitternd öffnete einer der Diener die Tür, Polizisten drangen herein, vor dem Schlafzimmereingang machten sie Halt.
»Von innen verriegelt«, murmelte einer der Polizisten, nachdem er vergeblich versucht hatte, zu öffnen. »Schafft einen Schlosser herbei!«
Mittlerweile trafen Gerichtsherren, der Arzt und einige Herren vom Kriminalgericht ein. Unter ihnen befand sich auch Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv.
Dem herbeigeeilten Schlosser nahm Holmes die Werkzeuge aus der Hand.
»Ich selbst werde mit aller Vorsicht die Tür öffnen«, sagte er in einem Ton, der keinen Einwurf erlaubte.
Nur wenige Sekunden gebrauchte er, um freien Eintritt in das nächstgelegene Schlafzimmer zu erhalten. Hier bot sich ihm und den vor der Schwelle Verharrenden ein entsetzlicher Anblick dar. Halb aus den Betten hängend, lag Lord Dempson in einer großen Blutlache, das Hemd besudelt, die Bettdecke wie in Blut getaucht. Das Gesicht war schrecklich entstellt, der Schädel eingeschlagen, sodass die Hirnmasse herausdrang. Die Betten lagen zerwühlt: Ein einziger Blick sagte dem Detektiv, dass hier ein fürchterlicher Kampf stattgefunden haben musste.
Holmes bedeutete den Polizisten und Gerichtsherren, vor dem Gemach zu bleiben, während er selbst in das angrenzende Zimmer trat. Hier lag auch die Lady tot in ihrem Bett; an ihrem Hals bemerkte der Detektiv eine Schnur, die mittels eines Knebels fest zusammengedreht war.
»Ich bitte die Herren, sich zu gedulden und mir Zeit zur Untersuchung zu lassen, ob ich irgendwelche Spuren des Verbrechens oder der Verbrecher entdecken kann«, sagte der Detektiv, als er zu den anderen zurückkehrte, mit ernster Miene. »Ihr Eindringen könnte eine etwaige Spur verwischen. Lord und Lady Dempson sind tot – von unbekannter Hand ermordet. Diese Tatsache steht fest. Der Arzt vermag nicht mehr zu helfen. Veranlassen Sie, dass niemand das Haus verlässt.«
Man zog sich zurück, und Holmes begann die Untersuchung. Er prüfte Türen und Fenster, suchte den Fußboden nach Spuren ab und spähte nach irgendeinem Zeichen, das der Mörder zurückgelassen haben könnte. Nichts von alledem war zu entdecken. Nicht ein verdächtiger Blutspritzer vermochte ihn auf die Spur des Täters zu lenken. Nochmals und immer wieder betrachtete er alle Einzelheiten – vergebens! Nicht das leiseste Zeichen gab einen Beweis von der Anwesenheit eines Dritten in diesen Gemächern, vergebens sah sich Holmes nach dem Mordinstrument um. Er löste die Schnur vom Hals der Lady: Es war eine gewöhnliche Bindfadenleine, die nichts Besonderes aufwies. Mithilfe eines Vergrößerungsglases suchte er den Teppich vor den Betten des ermordeten Ehepaares ab. Nicht die kleinste Fußspur eines fremden Stiefels zeigte sich.
Der Mörder musste mit ganz besonderer Vorsicht zu Werke gegangen sein. Selbst ob er ein mit den Verhältnissen des Hauses Vertrauter oder ein Fremder gewesen, wie er in die Schlafzimmer und wie er wieder hinausgekommen war, vermochte Holmes nicht festzustellen. Fenster und Türen waren geschlossen, der Kamin so gebaut, dass er eine Person nicht durchlassen konnte. Auch lagen Holz und Kohlen derartig darin aufgeschüttet, dass diese das erste Hindernis zum Entkommen durch den Kamin gebildet hätten. Fußböden und Wände enthielten nichts von verdächtigen Spalten oder Öffnungen, nirgends klang es hohl, was auf einen Nebenraum schließen lassen konnte. Holmes schüttelte, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, den Kopf – das Ganze schien ihm ein unlösbares Rätsel.
Vorläufig überließ er das Weitere der Behörde. Diese nahm den Tatbestand auf, verhörte die Dienerschaft, deren Aussagen ebenfalls absolut keinen Anhalt zur Feststellung des Täters gaben, und der Arzt konstatierte offiziell den Tod des Ehepaares Dempson.
Dann wurden die Leichen von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, die Diener und die sonst im Haus beschäftigt Gewesenen entlassen und ein Siegel vor jede Tür, auch vor die Haustür, gelegt.