Nick Carter – Band 16 – Haken-Max – Kapitel 1
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Haken-Max
Ein Detektivroman
Ein kühner Straßenraub
Es war genau 26 Minuten nach zwölf Uhr mittags, als der erste Zahlclerk der Midland–National–Bank in Chicago die Leute der Armour’schen Fleischkonservenfabrik durch den Privateingang das Kassenzimmer betreten sah. Es waren der Vormann und sieben seiner Arbeiter, lauter kraftstrotzende, wohlgenährte Gestalten. Wie jeden Samstagmittag waren sie auch heute erschienen, um die zur Auszahlung der Wochenlöhne benötigten Gelder in Empfang zu nehmen.
Sieben gewichtige Leinenbeutel warteten bereits auf die Empfänger; jeder der Ersteren enthielt 4000 Dollar in genau bestimmten Banknotensorten sowie eine Anzahl Scheidemünzen, deren Betrag gleichfalls vorgeschrieben war.
»Wie geht es?«, wendete sich der Vormann, ein blonder Hüne mit resoluten Zügen, zwischen den bartlosen Lippen eine halbzerkaute Zigarre, die er kalt rauchte, mit vertraulichem Nicken an den Bankbeamten. »Alles in Ordnung?«
»Wie immer«, erklärte der Hauptclerk, indem er die Tür des Kassengitters öffnete, das den gewaltigen Bankraum in zwei Längshälften schied, »es sind die üblichen sieben Beutel.«
»All right, dann wollen wir uns sputen – wir sind ohnehin heute um fünf Minuten zu spät!«, meinte der Vormann mit einem Blick auf die laut tickende große Wanduhr.
Seine Leute, welche bis dahin abwartend neben der großen Eingangstür gestanden hatten, traten nun durch die Gittertür in den Kassenraum und nahmen von dem Hauptclerk einer nach dem anderen je einen der Leinenbeutel in Empfang.
»Hätte nichts dagegen, gehörte mir der Bettel!«, meinte der Vorderste, seinen Beutel lüftend.
»Well, ein paar vergnügte Tage könnte man sich damit machen«, scherzte der Beamte, während er schon dem Nächsten seinen Beutel aushändigte.
»Fertig!«, erklärte gleich darauf der Vormann, als der Letzte seiner Arbeiter den Beutel in Empfang genommen hatte und nun hinter seinen Kameraden her zur Tür hinausmarschierte. »Also bis zum nächsten Zahltag!«
»Good bye!«, entgegnete der Hauptclerk, schloss die Gittertür wieder und wendete sich dem inzwischen geschlossen gewesenen Schalter zu, um die vor diesem harrenden Kunden abzufertigen.
Großspurig, nach wie vor die Zigarre zwischen den Zähnen quetschend, die Hände in den Hosentaschen, verließ auch der Vormann das Banklokal. Dicht am Rinnstein hielt ein überdachtes Break, eine Art kleinen Kremsers. Vier der Männer hatten sich bereits auf die beiden Längsbänke gesetzt und die Beutel zwischen den Füßen auf den Wagenboden niedergestellt. Eben schickte sich der Fünfte an, quer über das Trottoir zum Wagen zu eilen, während die letzten beiden Arbeiter sich durch die neugierig gaffende Großstadtmenge, die sich beim geringsten Anlass zusammenzuscharen pflegt und gerade während der Mittagsstunde die Michigan–Avenue dicht bevölkerte, einen Weg bahnten.
Weder der Vormann noch die drei Arbeiter konnten es wahrnehmen, wie die Avenue herauf vier oder fünf Burschen, die sich schon an der letzten Straßenecke in Bewegung gesetzt hatten, mit einer Schnelligkeit herangesaust kamen, als handelte es sich um die Veranstaltung eines Wettrennens. Als sie die vor dem Bankhaus spalierbildende Menge erreicht hatten, stießen die Kerle die ihnen den Rücken Wendenden mit einer Gewalt zur Seite, dass die Misshandelten in die Knie brachen oder auf die Erde stürzten; dann, noch ehe einer wusste, was sich eigentlich ereignet hatte, hatten die Schnellläufer den noch nicht im Wagen befindlichen drei Arbeitern auch schon ihre Beutel aus den Händen gerissen, den Männern selbst einen derben Stoß versetzt, der sie taumelnd machte, und jagten nun wie besessen weiter.
Ein wildes Durcheinander entstand. Man schrie und schimpfte, zerrte und stieß sich, denn ein Teil der Gaffer versuchte zu flüchten und versperrte dadurch den sich rasch von ihrer ersten Verblüffung erholenden Arbeitern sowie deren Vormann, der mit einem wütenden Fluch, ohne darum aber die zerkaute Zigarre aus dem Mundwinkel fallen zu lassen, einen Revolver gezogen hatte und den frechen Straßenräubern nacheilen wollte, den Weg. Es dauerte eine Minute oder mehr, bis der Knäuel sich lichtete und man nun die wie gehetzte Hasen die Avenue hinunterjagenden Burschen so deutlich sehen konnte, dass man sich ihre Gestalten genau einzuprägen vermochte. Indessen war die Straße zu menschenerfüllt, als dass der Vormann von seinem Revolver Gebrauch zu machen gewagt hätte. Er rief den Arbeitern im Wagen nur kurz noch zu, sich mit ihren Beuteln wieder zum Banklokal zurückzubegeben, und dann machte er sich mit seinen drei beraubten Untergebenen an die Verfolgung der Banditen. Ein Policeman war inzwischen aufgetaucht und schloss sich den Verfolgern an; von diesen waren er und der Vormann die Beleibtesten und blieben darum etwas zurück, während die inzwischen in einen Zustand gelinder Wut versetzten Arbeiter hinter den Räubern und womöglich noch mit weiteren und geschwinderen Sätzen als diese selbst, dahinjagten.
Die Hetzjagd war nur von geringer Dauer.
Unterhalb der nächsten Straßenecke befand sich ein geschlossener Wagen, dessen Kutscher Peitsche und Zügel zur Abfahrt bereithielt, über die Schulter schaute und in offenbarer Ungeduld die Herankunft der Straßenräuber erwartete.
Als der Vorderste von diesen die Kutsche erreicht hatte, riss er deren Schlag auf, sprang hinein, und seine sich dicht hinter ihm haltenden Kumpane folgten seinem Beispiel.
Das war mit unvermeidlichem Aufenthalt verbunden, welchen die Verfolger weidlich ausnutzten. Gerade als der Letzte der Räuber in den Wagen springen wollte, hatte der Vorderste der Verfolger ihn erreicht und versuchte ihn nun mit festem Griff zu packen.
Doch im selben Moment krachte aus dem Wagen ein Revolverschuss, und mit einem schrillen Aufschrei ließ der bärtige Arbeiter seinen Halt fahren und stürzte vom Wagentritt kopfüber auf den Bürgersteig, wo er regungslos liegenblieb.
Bald waren seine beiden Kameraden zur Stelle und waren viel zu erbittert und begierig, den frechen Räubern die wertvolle Beute wieder abzujagen, als dass sie sich erst lange um ihren verwundeten oder getöteten Genossen gekümmert hätten.
Ein zweiter Schuss blitzte auf, ohne dass die Kugel jedoch jemanden traf. Dann kam es zu einem erbitterten Handgemenge, das vielleicht mit der Niederlage der schon im Wagen befindlichen Räuber geendet hätte, wäre nicht im selben Moment einer der geraubten Beutel dem vordersten Bedränger wuchtig gegen den Kopf geflogen. Sich nach ihm bücken und ihn aufheben, war das Werk eines Augenblicks, und nicht anders handelte der zweite Arbeiter, als ihm noch in derselben Sekunde ein Gleiches geschah.
Die beiden nach dem geraubten Gut sich Bückenden versperrten den Wagenschlag und hinderten den Kutscher des Fabrikwagens, der sich ihnen inzwischen angeschlossen hatte, an einer Beteiligung. Doch da ihm im selben Moment gleichfalls der letzte geraubte Beutel zuflog, so kümmerte er sich nicht weiter um die Insassen des Wagens, sondern raffte begierig den ersteren auf.
Das gab dem Kutscher auf dem Bock die erwünschte Gelegenheit, auf seine Pferde loszupeitschen und davonzufahren. In toller Flucht sauste der Wagen die Michigan–Avenue hinunter; schreiend und fluchend flüchteten die zahlreichen Personen, welche eben beim Kreuzen des Straßendammes begriffen waren, zu beiden Seiten.
Inzwischen waren der Vormann und der nicht minder beleibte Policeman zu den drei Arbeitern gestoßen, welche krampfhaft die wiedererlangten Beutel festhielten und sich mit den Rockärmeln den Schweiß aus den erhitzten Gesichtern wischten. Der Vormann blieb stehen, denn ihm war das Laufen nicht gut bekommen, und er schnappte nach Atem, um seinen Leuten anzubefehlen, sich einstweilen zur Bank zurückzubegeben, während er bis zum Eintreffen einer Ambulanz bei dem Niedergeschossenen verweilen wollte.
Mit dem Revolver in der Hand, doch angesichts der sich drängenden und schiebenden Menschenmenge nicht zu schießen wagend, war der Policeman inzwischen bis an die Ecke von Madisonstreet weitergeeilt, in welche der Wagen mit den Dieben darin eingebogen war. Doch als er die Straßenecke erreichte, fiel sein Blick auf mindestens fünfzig hin und her rollende Gefährte; er sah ein, dass es ganz unmöglich für ihn war, aus diesem bunten Durcheinander den durch kein Kennzeichen hervorgehobenen Wagen herauszufinden. So stand auch er von einer weiteren Verfolgung ab und beeilte sich dafür, durch das nächste Straßentelefon Revier und Krankenhaus gleichzeitig zu benachrichtigen.
Als er zu der Gruppe zurückkehrte, die sich inzwischen um den Verwundeten gebildet hatte, fand er den Vormann eifrig mit diesem beschäftigt. Auch ein Arzt hatte sich inzwischen eingefunden, und es stellte sich heraus, als man den verletzten Mann in den nächsten Torweg getragen hatte, dass er zum Glück nur eine zwar schmerzhafte, aber nicht lebensgefährliche Schulterverwundung erlitten hatte. Die bald darauf eintreffende Ambulanz nahm sich des sein Geschick mit Gelassenheit tragenden Verwundeten an, und der Vormann schärfte dem jungen Hospitalarzt ausdrücklich ein, dass die ganzen Kurkosten selbstredend von der Armour’schen Fabrik getragen würden und seinem Kameraden die denkbar beste Verpflegung zuteilwerden sollte.
Dann, als er sich von dem halb Bewusstlosen durch einen gutgemeinten Händedruck verabschiedete, fiel der Vormann, immer noch die halb zerkaute Zigarre zwischen den Lippen, in einen gelinden Trab und eilte in Begleitung des Policeman zum Bankgebäude zurück.
Vor diesem waren schon eine Anzahl inzwischen herbeigeeilter Schutzleute dabei, die angesammelte Menge in Schach zu halten. Schnell bahnte sich der Vormann einen Weg durch die neugierigen Gaffer und trat in das Banklokal ein, wo er natürlich sämtliche Angestellten und die gerade darin weilenden Kunden gleichfalls in heller Erregung antraf. Seine sechs Männer und der Fabrikkutscher hatten ihre Beutel inzwischen wieder der Obhut des Bankkassierers ausgeliefert.
»Well, diesmal sind wir mit einem blauen Auge davongekommen«, brummte der Vormann beim Eintreten. »Ich denke, wir können losziehen.«
»Warten Sie noch ein wenig, bis sich die Menschenmenge draußen etwas verzogen hat«, schlug der Hauptclerk vor. »Eine zweite Auflage möchten wir doch nicht erleben.«
Auch der Präsident der Bank war, durch den Aufruhr veranlasst, aus seinem Privatoffice herbeigeeilt und beglückwünschte nun den Vormann und dessen Arbeiter zu der entschlossenen Verfolgung der Räuber.
»Schade nur, dass meine Leute die Burschen nicht zu packen gekriegt haben, sie hätten den Strolchen alle Knochen im Leib entzwei geschlagen!«, meinte der Vormann, gleichgültig dabei weiter an seiner Zigarre kauend.
»Well, die Polizei wird die Kerle beim Kragen habe, noch ehe es Abend geworden ist«, gab der gleichfalls hinzugetretene Kassierer seine Meinung ab.
»Das muss unter allen Umständen geschehen!«, erklärte der Präsident. »Hat man je schon solch eine Frechheit erlebt, am helllichten Tage und noch dazu in einer der belebtesten Geschäftsstraßen einen derartig kühnen Raubüberfall zu unternehmen!«
Der Hauptclerk hatte inzwischen die Arbeiter herangewinkt und stand im Begriff, diesen zum zweiten Mal die Geldbeutel auszuliefern, als er plötzlich stutzte, einen der von den Männern zurückeroberten Beutel näher betrachtete, dessen Leinen prüfte und sich dann auch schon schweigend daran machte, ihn aufzubinden und sich von seinem Inhalt zu überzeugten.
Im nächsten Moment entrang sich ihm ein schwacher Bestürzungslaut, der sich von Mund zu Mund fortpflanzte. Betroffen umdrängte man den Zahltisch, auf welchem der Beutel lag, und einem jeden der Anwesenden wurde es offenbar, dass der geöffnete Beutel statt mit den darin vermuteten Banknoten nur mit Zeitungspapier, nach Art der Noten zurechtgeschnitten, gefüllt war.
Natürlich wurden, während dumpfes Murmeln ringsum laut wurde, nun auch der zweite und der dritte der geraubt gewesenen Beutel von dem Hauptclerk mit zitternder Hand geöffnet, und es stellte sich heraus, dass deren Inhalt gleichfalls ausschließlich wertlose Makulatur bildete.
»Allmächtiger!«, entfuhr es dem Bankpräsidenten.
Der Hauptclerk hatte inzwischen auch die übrigen vier Beutel der Reihe nach geöffnet, doch in diesen fand sich die vorgeschriebene Summe vollständig vor.
»Das ist ein wohlvorbereiteter Anschlag!«, ereiferte sich jetzt der Präsident. »Die Burschen haben diese mit wertlosem Plunder gestopften Beutel schon in Bereitschaft gehalten, um sie aus dem Wagen zu werfen, falls sie aufgehalten werden würden. Natürlich bückten sich die Leute nach den herausgeschleuderten Beuteln und gaben den Banditen auf diese Weise Gelegenheit, sich mit ihrem Raub in Sicherheit zu bringen.«
»Das stimmt so ziemlich«, meinte einer der Arbeiter. »Solche Halunken – hätte ich mich nicht nach dem verwünschten Beutel gebückt, so hätte ich ganz sicher einen der Halunken beim Kragen gepackt!«
»Das ist alles recht schön und gut!«, ließ sich nun der Vormann vernehmen; er war ersichtlich erregt, kaute aber nichtsdestoweniger an seiner Zigarre weiter. »Aber was kümmert mich, was in den Beuteln steckt oder mit ihnen vorgegangen ist. Ich bin einfach von der Verwaltung geschickt worden, um 29 784,56 Dollar in Empfang zu nehmen. Mit den Papierschnitzeln da können keine Löhne ausbezahlt werden.«
Die Bankbeamten sahen sich betroffen an. An diese Wendung der Dinge hatte noch keiner von ihnen gedacht, und jetzt erst dämmerte ihnen die Erkenntnis auf, dass entweder die Bank oder die Armour’sche Fabrik Verlustträgerin sein musste, konnten die wirklichen Beutel mit ihrem Inhalt nicht wiedererlangt werden. Doch der Präsident war ein Mann von Welt und Erfahrung.
»Well, der Mann ist vollständig im Recht«, erklärte er gelassen. »Wir zahlen natürlich die Summe unter Vorbehalt aus, um keine Verzögerung eintreten zu lassen. Alles andere bleibt späterer Vereinbarung vorbehalten.«
Eine Viertelstunde später befanden sich die sechs Arbeiter mit ihrem Vormann und ihren sieben Beuteln wieder im Wagen, und dieser fuhr in schlankem Trab davon, während die Polizisten noch in der Bank zurückblieben, um die nötigen Erhebungen anzustellen.
Die Voraussage des Bankpräsidenten erfüllte sich indessen nicht. Obwohl die Sicherheitsbehörden eine eifrige Tätigkeit entfalteten, konnte weder von den Räubern noch ihrer Beute auch nur das Geringste entdeckt werden. So blieb es auch am nächsten Tag, und eine volle Woche verstrich, ohne dass die ebenso freche wie listig geplante und mit brutaler Gewalt vollführte Straßenräuberei auch nur im Geringsten aufgeklärt worden wäre. Wohl hatte man sämtliche bekannten Verbrecher, die sich in Chicago gerade auf freiem Fuß befanden, aus allgemeinen Verdachtsgründen hin festgenommen, doch man musste sie wohl oder übel einen nach dem anderen wieder laufenlassen, da sie sämtlich einwandfreie Alibis nachzuweisen vermochten.
Wagen und Pferde, welche die Diebe benutzt hatten, waren bereits nach Mitternacht des auf den Raubüberfall folgenden Tages in der La-Salle-Street herrenlos aufgefunden worden. Ebenso hatte man herausbekommen, dass drei Männer etwa fünf Minuten nach vollbrachtem Raub mit Leinenbeuteln in den Händen den Mietwagen verlassen und unmittelbar darauf verschiedene Straßenbahnwagen bestiegen hatten. Wagen und Pferde waren aus einem Leihstall in Michigan-City von unbekannten Männern geliehen worden; sie ließen natürlich die als Sicherheit hinterlegten hundert Dollar im Stich.
Als eine volle Woche verstrichen war, ohne dass trotz aller fieberhafter Tätigkeit der Behörde irgendwelches Licht in die Angelegenheit gebracht werden konnte, beschloss die Bank im Verein mit dem Polizeichef und dem Direktor der Armour’schen Fabrik, sich an den berühmten Detektiv Nick Carter in New York zu wenden und diesen zur Übernahme des immer unerklärlicher werdenden Falles zu veranlassen. Auf eine telegrafisch an ihn gerichtete Anfrage traf bereits zwei Stunden später eine Depesche mit dem kurzen Inhalt ein: Wir reisen unverzüglich ab.
Kein Name war unterzeichnet, doch der Polizeichef wusste, dass die Depesche nur von Nick Carter herrühren konnte.
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