Das Franklin-Mysterium
Am 19. Mai 1845 startete mit der Franklin-Expedition ein Unternehmen, das auch heute noch viele führende Wissenschaftler beschäftigt.
Das Ziel damals war einen Seeweg durch die Nordwestpassage zu finden. Als Ergebnis verbuchte man zwei versunkene Schiffe und 140 tote Männer.
Der Tod von Sir John Franklin und der Untergang seiner beiden Schiffe HMS Erebus und HMS Terror zählen heute noch zu den größten kanadischen Mythen. Die im Eiswasser der Nordwestpassage versunkenen Wracks haben inzwischen auf dem nordamerikanischen Kontinent einen Stellenwert bekommen, der nur noch von dem des Wracks der Titanic vor der Küste Neufundlands überboten wird.
In diesem Jahr unternimmt die kanadische Regierung erneut einen Versuch, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts verschollenen Schiffe der Franklin-Expedition zu finden. Die Suche soll, falls es die Wetterverhältnisse und die Mitte September in der Arktis beginnende Eisbildung zulassen, bis Anfang Oktober andauern.
Es ist inzwischen bereits der vierte Versuch kanadischer Unterwasserarchäologen, diese beiden Schiffe zu finden.
»Wir hoffen das Mysterium um Franklin und die beiden Schiffe endgültig zu lösen«, teilte dieser Tage Stephen Harper der versammelten Presse in Cambridge, einer Stadt in der Arktisregion Nunavut, mit.
Für den erzkonservativen kanadischen Premierminister ist die Franklin-Expedition ein wichtiger Teil der Geschichte seines Landes, obwohl es eine britische war. Kanada war damals eine Kolonie des Empires und der kanadische Staat noch nicht gegründet.
Kritiker hingegen sehen das eigentliche Motiv für das Interesse der Harper-Regierung an den Schiffen der Franklin-Expedition allerdings darin, dass Kanada ihrer Meinung nach mit der Suche hauptsächlich seine Souveränitätsansprüche in der Arktis untermauern will.
Für den Geisterspiegel jedenfalls Anlass genug, sich etwas näher mit dem Thema zu beschäftigen.
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»Verdammt!«, fluchte John Torrington.
»Los, wir müssen zu dem Hügel hinüber und uns ein Lager bauen. Es gibt Schneesturm.«
Eine lautlose Stille lag plötzlich über dem Land und die Luft wurde von Minute zu Minute dünner. Die arktische Sonne, die kurz vor ihrem Untergang war, verschwand ohne Übergang hinter einer Dunstwand. Im Norden zog mit Windeseile eine breite Wolkenfront von fast violetter Farbe auf.
Schnell wurde es immer dunkler.
Ohne sich weiter umzusehen, hasteten die Männer ostwärts auf jenen Hügel zu, von welchem Torrington gesprochen hatte. Mit seinen schneebedeckten Felsen und den winterharten Büschen und Bäumen versprach er einen relativ sicheren Unterstand.
Atemlos erreichten sie die schützende Deckung. Der erste Windstoß des herannahenden Wintersturms riss die Männer fast von den Beinen. In rasender Eile hackten sie mit ihren Äxten und Messern auf die schenkelstarken Wurzeln und Stämme der froststarren Pflanzen ein, um mit ihnen in den Kuhlen der Felsbrocken ein Lager zu errichten, das sie vor dem Sturm schützen sollte. Trotz der Kälte waren Torrington und die Männer schon bald schweißgebadet. Vom Erfolg ihrer Bemühungen hing ihr Leben ab.
Inzwischen wurde es immer dunkler und der Sturm fegte heran.
Kreischendes Heulen erfüllte die Luft.
Der Wind fauchte und zischte wie ein Wassertropfen, der auf eine glühende Herdplatte fiel. Eine Mauer von Schnee stürzte über die Männer hinweg und die eisige Kälte schlug ihnen wie eine Peitsche ins Gesicht.
Der Leser ahnt wohl, welches Schicksal Torrington und seine Gefährten ereilte.
Im August 1984 starrte der kanadische Anthropologe Owen Beattie auf dem arktischen Beechey Island auf drei Leichen, die langsam aus dem tauenden Eis des kanadischen Permafrostbodens auftauchten. Das Grab Torringtons und das seiner Kameraden John Hartnell und William Braine zählt auch heute noch zu den letzten Spuren, welche die Teilnehmer dieser unheilvollen Expedition hinterlassen hatten.
***
Begonnen hatte alles vor etwas mehr als anderthalb Jahrhunderten, genauer gesagt 1845.
Damals entschloss sich die Admiralität des britischen Empires, die größte Arktisexpedition ihrer Zeit auf die Beine zu stellen.
Alle Kontinente waren erschlossen, die Meere befahren und die Wüsten durchquert.
Was blieb, war das Rätsel um die Nordwestpassage, dem seit fast 350 Jahren gesuchten Seeweg zwischen dem Atlantik und dem Stillen Ozean.
Nach dem Willen der Admiralität war niemand anderes als Sir John Franklin dafür geeignet, die Leitung über jene Expedition zu übernehmen, die an Grönland vorbei durch die Baffin Bay segeln sollte, um danach in Richtung Westen die Durchfahrt zur Beringstraße zu finden.
Obwohl Franklin zu diesem Zeitpunkt bereits 59 Jahre alt war, schien das Vertrauen, welches das britische Königreich in ihn setzte, scheinbar grenzenlos zu sein.
Selbst der Präsident der Royal Geographical Society schwärmte über ihn, dass alleine schon sein Name eine nationale Garantie für das Gelingen des Unternehmens war.
Franklin war als der Mann bekannt, der seine Stiefel aß.
Diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung hatte er seiner Teilnahme an einer Expedition zu verdanken, die ihn in die arktische Wildnis von Kanada geführt hatte. 1818 segelte er noch unter dem Kommando von David Buchanan bis nach Spitzbergen, wo er sich als ausgezeichneter Kapitän erwies.
Deshalb erhielt er bereits ein Jahr später das Kommando über eine weitere Arktisexpedition, bei der er vom Coppermine River ausgehend die Nordküste Kanadas erforschen und kartografieren sollte. Er vermaß dabei annähernd 600 Seemeilen unbekanntes Land und schaffte so den Grundstein für die weitere Erforschung der scheinbar unendlichen Wildnis. Aber sein Rückweg wurde zum Todesmarsch. Der arktische Winter forderte unerbittlich seinen Tribut. Von den ursprünglich 20 Mitgliedern der Expedition überlebten außer ihm nur noch acht andere Männer. Auf ihrem Weg zurück in die Zivilisation ernährten sie sich dabei von Flechten, Moos und Astrinde. Und die Legende besagt, dass die Männer sogar versucht hatten, das Leder ihrer Stiefel und Gürtel weich zu kochen, um nicht zu verhungern.
1825 stieß er bei seiner dritten Erkundung bis ins heutige Alaska vor und kartografierte weitere 2000 Seemeilen bislang unentdecktes Land.
Zum Dank dafür adelte ihn die Krone.
Heute weiß man, dass John Franklin zwar ein ausgezeichneter Seemann und Kartograf war, aber vom wirklichen Leben soviel Ahnung hatte wie eine Kuh vom Sonntag.
Dennoch sollte er zwanzig Jahre später für das Empire den Seeweg durch die Nordwestpassage finden.
Die Verantwortlichen bei der Admiralität standen ihm in Sachen Unvermögen und Arroganz in nichts nach und waren genauso weltfremd und uneinsichtig wie Franklin.
Nur so lässt sich die Ausrüstung der Expedition erklären, die statt einem größeren Vorrat an Schusswaffen und Dingen des täglichen Lebens mehrheitlich aus parfümierten Taschentüchern, einer 3000 Bücher umfassenden Bibliothek, Gardinen aus Samt und Seide, Schreibtischen und anderen Möbeln aus Mahagoni, einer Drehorgel mit fünfzig verschiedenen Melodien und Dutzenden von weiteren Musikinstrumenten bestand.
Mit einer an Ignoranz grenzenden Einstellung wurden lebensnotwendige Dinge wie Brillen gegen Schneeblindheit, Gewehre für die Jagd oder Schlitten, um schnell über das Packeis zu kommen, völlig ignoriert.
Voller Tatendrang und Zuversicht segelte Franklin Mitte Mai 1845 unter großer öffentlicher Anteilnahme von Großbritannien aus mit 139 Freiwilligen auf die westliche Küste von Grönland. Die Voraussetzungen für die Expedition in die kanadische Arktis waren für damalige Verhältnisse geradezu luxuriös. Die Admiralität, respektive die Krone, hatten sich wahrlich nicht lumpen lassen, als es um die Ausrüstung des Unternehmens ging.
Die beiden Expeditionsschiffe HMS Erebus und HMS Terror entsprachen dem neuesten Stand der damaligen Technik.
Die Grundkonstruktion der beiden Schiffe basierte auf einem speziell gepanzerten Kriegsschiffstyp, dessen Aufgabe es war, mit Mörsern Sprengladungen an Land zu schießen. Um ein Zerquetschen durch das Packeis zu verhindern, wurden die Schiffe noch zusätzlich am Bug und den Rumpfplanken mit Stahl verstärkt. Um die Erebus und Terror auch bei Flaute manövrierfähig zu halten, wurde in jedem der Schiffe eine 15 Tonnen schwere Dampfmaschine eingebaut, die einen speziellen zwei Meter großen Propeller antrieb. Ergänzt wurde die Ausstattung durch eine kohlebetriebene Heißwasserheizung und eine Entsalzungsanlage zur Gewinnung von Trinkwasser aus dem Meer.
Die Bevorratung von Proviant und Heizmaterial wurde auf eine Vollversorgung der 140 Expeditionsteilnehmer für drei Jahre ausgelegt.
Neben Konserven mit Fleisch und Gemüse zählten auch 4000 Liter Zitronensaft zur Ladung. Dieser war als Vitamin-C-Versorgung gedacht, um dadurch einer drohenden Skorbuterkrankung zu begegnen.
Als die Schiffe den Wellingtonkanal nordwärts bis zum 77. Breitengrad hinaufsegelten und dort vor Beechey Island 1845/46 überwinterten, waren alle Teilnehmer der Expedition noch voller Euphorie und Tatendrang.
Im Sommer 46 stieß man im Südwesten bis zur heutigen King Williams Insel vor, wo durch antreibendes Packeis aber bereits im September jede weitere Schiffsbewegung zum Erliegen kam. Dank der immensen Menge an Lebensmittel, Tabak, Alkohol, Tee und Schokolade, die man an Bord genommen hatte, stellte auch eine zweite Überwinterung im Packeis kein Problem dar.
Aber dann dämmerte das Jahr 1847 herauf, ein Jahr, in dem die Natur dem Menschen nicht nur in den nördlichen Gefilden die Grenzen aufzeigte. Es war eines der Kältesten, seit es Aufzeichnungen über das Wetter in der Antarktis gibt. Man spricht heute sogar von einer sogenannten kleinen Eiszeit, die damals selbst bis in das Herz des zivilisierten Europas hinein schmerzhaft zu spüren war.
Der Sommer wurde so kalt, dass sich das Eis nicht lockerte und die Schiffe vor der Insel eingefroren blieben.
Franklin verstarb unter geheimnisvollen Umständen am 11. Juni 1847, danach gaben die 105 noch lebenden Mitglieder der Expedition die Schiffe auf.
Verzweifelt versuchten die Männer zu Fuß einen Posten der Hudson Bay Company im Süden des Landes zu erreichen. Vergeblich, keiner von ihnen überlebte und auch die Schiffe wurden bis heute nicht gefunden.
***
Hier beginnt das eigentliche Mysterium um die Franklin-Expedition.
Bis heute wurden hierzu die wildesten Theorien aufgestellt, um gleich darauf wieder verworfen zu werden.
Tatsache jedoch ist, dass bei Torrington und anderen aufgefundenen Expeditionsmitgliedern nicht nur Lungenentzündung, Skorbut, Unterkühlung und Erschöpfung als Todesursache festgestellt wurden, sondern auch eine akute Bleivergiftung. Sowohl die britische als auch die kanadische Regierung bagatellisiert das Ganze noch heute, indem man darauf hinweist, dass die Menschen jener Zeit im Allgemeinen durch das Verzehren ihrer Speisen von Zinntellern und dem Trinken aus Zinnbechern einen höheren Bleigehalt im Blut besessen hatten als heutige Zeitgenossen. Mit der gleichen Energie spielt man auch die Wunden, die an manchen der Toten entdeckt wurden, bis zur Lächerlichkeit herab.
Wer dem Empire dient, die meisten der Expeditionsmitglieder waren Offiziere und Soldaten, ist ein ehrenhafter Mensch und über jeden Zweifel erhaben.
Das ganze Unternehmen war von höchster Stelle aus sorgfältig geplant worden und jede noch so kleine Abweichung berücksichtigt. Alle Teilnehmer waren sorgfältig ausgewählt und in der Lage, selbst in Grenzsituationen einen klaren Kopf zu behalten.
Das ist die eine Seite der Geschichte.
Eigentlich logisch, welche Staatsführung gibt schon zu, selbst nach all diesen Jahren mit der Planung eines solchen Unternehmens, das zur damaligen Zeit vergleichbar etwa jener Herausforderung wie der ersten bemannten Mondlandung entsprach, nur Vollpfosten beauftragt zu haben?
Und welcher Premierminister hat das Rückgrat nationalstolzen Briten oder Kanadier zu erklären, das ihre Helden von damals nichts anderes waren als vom Wahn befallene, menschenfressende Primaten?
Selbst in unserer modernen und aufgeklärten Zeit wohl keiner.
Deshalb zeigt der Geisterspiegel seinen mündigen Lesern an dieser Stelle die andere Seite auf.
Es gibt inzwischen mehrere wissenschaftlich fundierte Theorien über das Ende der Franklin-Expedition. Einige davon sind klar beweisbar, andere bei Weitem nicht so abwegig wie es uns gewisse Regierungsstellen auch heute noch vormachen wollen.
Die vor wenigen Jahren nachgewiesenen Analysen ergaben, dass die akute Bleivergiftung der Crewmitglieder durch die mangelhafte Verlötung der Konservendosen ausgelöst wurde, welche zu Tausenden im Bauch der Schiffe eingelagert wurden. Über die drei Überwinterungen hinweg führte das Verzehren dieser Konserven zu eben jenem Krankheitsbild. Damit lassen sich auch die Wahnvorstellungen erklären, die durch einen ständigen Bleikonsum entstehen.
Welcher vernünftige Mensch schleppt schon durch die Eiswüste der Arktis Gardinen, Bibeln, Silberbestecke und parfümierte Taschentücher in solchen Mengen mit sich, das er in seinen Taschen und Rucksäcken keinen Platz mehr für Lebensmittel, Trinkwasser oder Brennmaterial hat?
Des Weiteren wiesen die Art und Beschaffenheit der Knochenverletzungen an einigen der gefundenen Toten deutlich auf eine bei der Tierschlachtung angewandten Methode der Fleischverwertung hin und nicht wie offiziell erklärt auf die Bisswunden von wilden Tieren. Mehrere Berichte umherstreifender Inuit, den Ureinwohnern der Arktis, bestätigen diesen Verdacht. Welche in dieser Region vorherrschende Tierart sollte dies auch verursacht haben, Robben, Wale oder Karibus?
Wie dem auch sei, man darf auf das Ergebnis der neuerlichen Expedition gespannt sein.
Unabhängig davon, ob die erneute Suche endlich die ganze Wahrheit über John Franklin und seine Männer ans Licht befördert, dient sie noch einem weiteren, viel wichtigerem Zweck.
Der Meeresboden in der Nordwestpassage ist bis heute immer noch unzureichend kartografiert. Angesichts der üblichen Eisbedeckung war das bisher auch nicht nötig.
Aber mit dem Klimawandel und dem damit verbundenen Rückgang des Meereises im Sommer nimmt die kommerzielle Schifffahrt in der Nordwestpassage immer mehr zu. Ob durch Kreuzfahrtschiffe vollgeladen mit sensationsgeilen Touris oder durch den Schiffsverkehr zu abgelegenen Gemeinden oder Rohstofflagern sei dahingestellt. Jedenfalls stellt die mangelhafte Kartografie für die Kreuz- und Handelsschifffahrt ein erhebliches Risiko dar.
Die neuerliche Expedition geht im Oktober 2012 zu Ende, der Geisterspiegel wird über das Ergebnis selbstverständlich berichten.
Quellen:
- Stuttgarter Zeitung vom 27. August 2012, Redaktion Wissenschaft.
- www.nationalgeographic.de
- www.stern.de
- www.welt.de
- Archiv des Autors
- H. J. Stammel: Die Stunde des Cowboys
Copyright © 2012 by Gerold Schulz