Der Welt-Detektiv – Band 11 – 3. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 11
Johnson, der Boxerkönig
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
3. Kapitel
Das Abenteuer einer Nacht
Inspektor Bird bekam einen Tobsuchtsanfall, als Sherlock Holmes sich entfernt hatte. Dann allerdings sah er ein, dass er mit Flüchen und ähnlichen Dingen der Lösung des Rätsels um keinen Schritt näher kam. Und er machte sich noch einmal daran, das Laboratorium Zoll für Zoll nach Spuren abzusuchen.
Nach drei Stunden wusste er, dass Sherlock Holmes gelogen hatte. Es gab im Laboratorium nichts, dass auch nur annähernd auf eine Spur der Täter hinwies. Diese Erkenntnis gab ihm seine Ruhe restlos zurück.
Er war nunmehr überzeugt, dass ihn der Weltdetektiv nur düpieren wollte. Nun, es würde sich ihm schon einmal Gelegenheit bieten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten! Bird kehrte missmutig zum Polizeibüro zurück. Hier fand er zwölf Briefe vor, die aus Publikumskreisen eingegangen waren. In jedem der Briefe lenkte man die Aufmerksamkeit der Behörde auf Leute, die als Täter für das Verbrechen infrage kommen konnten. Unter den Schreiben war sogar das einer Frau, die ihren eigenen Mann des Raubüberfalls bezichtigte.
Bird studierte Brief für Brief. Er kannte diese Art Briefe. Sie liefen immer in großer Zahl ein, wenn irgendein Kapitalverbrechen begangen worden war. Meistens waren die darin ausgesprochenen Verdächtigungen grundlos, aber dann und wann war es doch schon gelungen, auf Grund solcher Zuschriften die richtige Persönlichkeit aufzuspüren.
Zwölf Briefe waren eingegangen. Zwölf verschiedene Männer wurden des Verbrechens an Wellington bezichtigt! Bird war entschlossen, jede Spur zu verfolgen. Ein solches Vorgehen erschien ihm immer noch aussichtsreicher als die Fantastereien des Weltdetektivs. So stürzte er sich in die Arbeit und hatte nur einen Wunsch: diesem Sherlock Holmes zu beweisen, dass man ihn nicht nötig hatte, wenn es galt, Verbrecher aufzuspüren!
Indessen hatte sich der Weltdetektiv ebenfalls nach Newton zurückbegeben. Er war sehr aufgeräumt und plauderte bald mit diesem, bald mit jenem Bekannten. Fragte man ihn jedoch nach dem Stand der Ereignisse, gab er ausweichende Antworten. Gegen fünf Uhr nachmittags erschien er in der Klinik und ließ sich in das Zimmer James P. Wellington führen. Dieser Raum lag im Erdgeschoss. Vom Fenster aus genoss man einen herrlichen Blick mitten in den Park hinein, in dessen Mitte die Klinik lag. Leider hatte der arme Wellington nichts davon. Er lag noch immer im Fieber und redete in seinen Fantasien wirres Zeug.
Lange Zeit stand Sherlock Holmes schweigend neben dem Bett des Schwerverletzten und ließ seine Augen stumm im Zimmer umherschweifen. Ein ganz bestimmter Gedanke schien ihn zu beherrschen, denn er nickte plötzlich und murmelte ein undeutliches Wort vor sich hin. Dann verabschiedete er sich von der Krankenschwester und suchte Professor Sundlay auf, den Leiter der Klinik. Sundlay äußerte sich über Wellingtons Zustand in durchaus befriedigender Weise. Die Kugeln waren bereits sämtlich auf operativem Wege aus dem verletzten Körper entfernt worden. Sundlay war überzeugt, dass sich Wellington nach zwei, drei Monaten wieder wie ein Gesunder bewegen würde.
»Es besteht für ihn durchaus keine Lebensgefahr mehr!«, schloss er seinen ausführlichen Bericht.
Sherlock Holmes sah den Professor ernst an.
»Ich muss Ihnen widersprechen«, sagte er. »Mr. Wellington ist sogar stark gefährdet. Allerdings aus andere Weise. Man hat nämlich beschlossen, ihn heute Nacht zu töten.«
Professor Sundlay federte wie elektrisiert aus seinem Schreibtisch empor.
»Wie?«, rief er erblassend. »Man wagt es …?«
»Lassen Sie mich erzählen«, erwiderte der Weltdetektiv. »Ich schicke aber voraus, dass das, was Sie nun erfahren werden, für keinen anderen bestimmt ist. Niemand, auch nicht Ihre vertrautesten Freunde oder Mitarbeiter dürfen wissen, was in dieser Nacht geschehen soll.«
Voller Erregung gab Sundlay sein Schweigeversprechen ab, um dann fassungslos den Worten des berühmten Kriminalisten zu lauschen.
»Mein Gott!«, rief er, als Sherlock Holmes geendet hatte. »Das ist ja entsetzlich!«
»Nun«, erwiderte der gefürchtete Detektiv, »es wird nicht dazu kommen, wenn Sie meinen Wünschen Rechnung tragen.«
»Was soll ich tun, Mr. Holmes?«
»Hören Sie gut zu«, antwortete Sherlock Holmes und begann, dem Professor im Flüsterton seinen Plan auseinanderzusetzen.
Als er eine halbe Stunde darauf die Klinik verließ, beherrschte ein zufriedener Ausdruck sein Antlitz. Er durchschritt den Park, durchkreuzte einige Straßen und betrat schließlich das Geschäft eines Glasermeisters.
»Was macht die Arbeit?«, erkundigte er sich bei dem respektvoll dienernden Mann.
»Es ist alles fertig. Mr. Holmes.«
»Famos. Dann kommen Sie also.«
Schon ein Viertelstündchen später näherte sich Sherlock Holmes mit dem Glaser dem etwas vor der Stadt liegenden Wellington’schen Laboratorium. Der Mann trug einen nagelneuen Fensterrahmen, in dem auch schon die Scheiben eingesetzt waren. Der Weltdetektiv schloss das Laboratorium auf und führte seinen Begleiter in den Raum, in dem man James P. Wellington niedergeschossen hatte.
Scheu blickte sich der Mann um und schauderte zusammen, als er auf dem Fußboden Blutflecke erblickte.
»Welches … welches Fenster soll ich auswechseln?«, murmelte er.
»Dieses hier«, erwiderte der Detektiv und deutete auf den linken Flügel des Zimmerfensters, durch das man auf die Straße blicken konnte.
Der Mann ging sofort an die nur wenige Minuten beanspruchende Arbeit, nahm den Flügel heraus und setzte an seine Stelle denjenigen, den er voller Eile im Auftrag des Weltdetektivs hatte nach genauer Maßangabe anfertigen müssen.
Sherlock Holmes betrachtete das herausgenommene Fenster eine Weile und nickte dann.
»Sie werden mir noch den Gefallen erweisen und diesen Fensterrahmen sorgfältig und sachgemäß verpacken«, wandte er sich an den Glaser. »Sie müssen dabei sehr umsichtig vorgehen, denn der Rahmen soll nach London geschickt werden. Alle Arbeit wäre aber umsonst, wenn auf dem Transport die Scheiben entzweigingen.«
Es geschah, wie Sherlock Holmes es verlangte. Wieder in seine Werkstatt zurückgekehrt, machte sich der Mann sofort daran. Aufmerksam überwachte der Weltdetektiv sein Tun.
Seine Mienen hellten sich auf, als er sah, dass der Rahmen die denkbar beste Verpackung erhielt und unterwegs selbst geworfen werden konnte, ohne dass dadurch den Scheiben Schaden zugefügt werden konnte. Mit zwei Pfund Sterling belohnte er den überglücklichen Mann und trug dann das Paket selbst zur Post, um es per Eilboten an seine eigene Londoner Adresse aufzugeben. Gleichzeitig ging ein Telegramm an Jonny Buston ab. das den Wortlaut hatte:
J. nicht aus den Augen lassen. Pläne dürfen nicht verschwinden. Drahte sofort, wenn irgendwelche Zwischenfälle.
Sherlock Holmes
Mittlerweile war es Abend geworden. Die Dunkelheit breitete ihre Schatten über die Stadt und hüllte alles ringsum in ihre schwarze, undurchdringliche Finsternis. Auf Schleichwegen begab sich der Weltdetektiv in die Klinik. Statt das Parkportal zu durchschreiten, schwang er sich über die Mauer und schlich geräuschlos an das Gebäude heran. In fast allen Krankenzimmern brannte Licht. Auch hier vermied er den Haupteingang und schlüpfte zu einer Seitentür hinein. Nicht viel später erreichte er das Zimmer Professor Sundlays, der bei dem plötzlichen Erscheinen des unangemeldeten Besuchers jäh erschrak, sich aber sofort beruhigte, als er die bekannten Gesichtszüge des Meisterkriminalisten erkannte.
Sherlock Holmes ging ohne viel Umstände auf sein Ziel los.
»Wann werden die Krankenzimmer verdunkelt?«, fragte er.
»Jeden Abend um neun Uhr«, erwiderte der Professor, »so schreibt es die Hausordnung vor.«
Sherlock Holmes warf einen Blick auf das Ziffernblatt der großen Standuhr. Noch zwanzig Minuten fehlten an der angegeben Zeit.
»All right«, sprach er. »Und wie steht es mit der Umbettung?«
»Es ist alles so geschehen, wie Sie es vorschrieben. Mr. Holmes«, gab Sundlay zurück. »Mr. Wellington, der bisher im Zimmer Nr. 39 lag, ist nach Nr.40 verlegt worden, das direkt danebenliegt.
Die Umbettung haben zwei Wärter vorgenommen, auf deren Schweigsamkeit ich mich verlassen kann. Nur die Nachtschwester habe ich noch ins Vertrauen ziehen müssen. Aber auch auf sie kann ich mich restlos verlassen. Das Zimmer Nr. 39 steht Ihnen also ganz zur Verfügung!«
Sherlock Holmes reicht dem Professor dankend die Rechte.
»Seien Sie ohne Sorge um ihre Patienten«, sagte er. »Es wird sich alles, hoffe ich, in Stille vollziehen. Ich hatte anfangs die Absicht, die Verhaftung des Burschen außerhalb der Klinik vorzunehmen. Dann aber hätte ich ihn nicht in flagranti erwischt, was die Beweisführung nur erschweren würde.«
»Sie sind also felsenfest überzeugt, dass man in dieser Nacht Mr. Wellington ermorden will?«
»Ja. Wellington muss tot sein, wenn die Dunkelmänner Vorteil aus den geraubten Konstruktionsplänen ziehen wollen. Durch einen lächerlichen Zufall, über den ich vorläufig noch schweigen möchte, kam ich hinter die Persönlichkeit des einen der Täter. Ich schickte meinen Mitarbeiter Jonny sofort nach London, und es gelang ihm wirklich, den Betreffenden aufzuspüren. Es handelt sich im Übrigen um einen Mann, der noch vor zehn Jahren in der ganzen Welt bekannt war. Aber das nur nebenbei. Jonny beschattete ihn und bekam so heraus, wer der zweite Täter – der Kleinere – war. Er brachte das Kunststück fertig, die beiden zu belauschen: Sie beratschlagten, auf welche Weise man Wellington gänzlich stumm machen könnte. Jonny spitzte gut die Ohren – und der Erfolg war, dass er mir depeschierte, was heute Nacht geschehen soll. Keinen Augenblick zweifle ich daran, dass der Bursche heute auf der Bildfläche erscheinen wird, um nachzuholen, was im Laboratorium versäumt wurde!«
Der Professor hatte mit steigender Erregung gelauscht.
»Es handelt sich bei dem Täter um einen Mann, der früher sehr bekannt war?«, murmelte er. »Bekannt als Verbrecher?«
Sherlock Holmes schüttelte den Kopf.
»Nein, als Sportsmann. Er war ein großer Boxer. Ein Mann von Klasse. Er gewann die größte Börsen. Man nannte ihn den Boxerkönig.«
Da dämmerte es in Professor Sundlay auf.
»Sprechen Sie … von … Dick Johnson?«, stieß er hervor.
»Erraten!«, antwortete der Weltdetektiv. »Dann werden Sie wohl auch wissen, wie Johnson sich selbst seinen guten Ruf verdarb. Er ließ sich in böse Schiebungen ein, nach deren Aufdeckung er derart blamiert war, dass man ihn auspfiff, wo er sich auch noch im Boxring zwischen den Seilen zeigte. Seit der Zeit ging es mit ihm rapide bergab. Er kehrte nach London zurück und verjubelte dort das Letzte, was er noch aus seiner besseren Zeit mit herüber gerettet hatte. Heute ist er zum Verbrecher herabgesunken und … aber was haben Sie, Herr Professor?«, unterbrach sich Sherlock Holmes plötzlich, als er bemerkte, dass sich Sundlay kaum noch vor Erregung beherrschen konnte.
»Das ist ja entsetzlich!«, rief der Professor. »Johnson – der Mörder Wellingtons! O, Sie ahnen ja nicht … Sie ahnen ja nicht …«
»Was denn?«
Professor Sundlay tupfte sich den perlenden Schweiß von der Stirn. »Aber Mr. Wellington ist selbst Sportsmann mit Leib und Seele«, stieß er hervor. »Und ich weiß, wie begeistert er einst von Johnson war. Ja – seine Verehrung für den Boxerkönig ging so weit, dass er ihn hierher nach Newton einlud. Und nun … und nun kommt derselbe Johnson hierher, um den Mann, der ihm einst freundschaftlich nahe stand, zu töten!«
Sherlock Holmes nickte.
»Das habe ich mir beinahe gedacht!«, sage er.
Und als ihn Sundlay fragend anblickte, fügte er erläuternd hinzu, dass Mr. Wellington den ehemaligen Boxer gut kennen musste.
»Wieso?«, murmelte der Professor. »Wie soll ich das verstehen?«
Sherlock Holmes überlegte kurz. Dann sagte er leise: »Nun gut. Sie sollen es wissen, wie ich auf Johnsons Spur kam. Sie erinnern sich, dass ich vorhin von einem Zufall sprach, der mir gute Dienste leistete? All right. So hören Sie: Bei der Durchsuchung des Laboratoriums entdeckte ich Blutspuren, die zum Fenster und wieder zurück führten. Der schwerverletzte Wellington hatte sich wahrscheinlich, nachdem die Täter das Weite gesucht hatten, zum Fenster geschleppt, um Hilfe herbeizurufen. So nahm auch Inspektor Bird an. Dann untersuchte ich jedoch die Spur ein zweites Mal – und da endlich entdeckte ich ein Wort, das – fraglos mithilfe eines Brillantringes – in die Scheibe hineingeritzt worden war. Dieses Wort hieß – Johnson«! Verstehen Sie nun, was in jenem Augenblick, als ich diese Feststellung machte, in mir vorging? Jäh kam mir die Erkenntnis. Niemand anders als Wellington selbst konnte diesen Namen in die Scheibe eingeritzt haben. Er glaubte, dass er sterben müsse und hinterließ auf diese Weise noch den Namen des einen seiner Mörder, den er also erkannt hatte! Johnson! Sofort fiel mir der Boxer ein, von dem ich wusste, dass er seit einiger Zeit zu den Verbrechern zählte. Aber ich war von seiner schurkischen Tätigkeit noch nicht restlos überzeugt, denn schließlich laufen auf der Welt noch ein paar Leute mehr herum, die Johnson heißen. Da entdeckte Jonny aber im Schreibtisch des unglücklichen Wellington eine Fotografie. Sie stellte Jonson auf der Höhe seines Ruhmes dar und trug die Widmung: Mr. James P. Wellington in Freundschaft zu eigen. Dick Johnson.
Da wusste ich, dass es doch der Boxer Johnson war, der hier seine Hand im Spiel gehabt hatte! Nun erfahre ich von Ihnen, wie die beiden Männer früher einmal zueinander standen! Die Kette ist also geschlossen!«
Bewundernd sah Professor Sundlay zu dem scharfsinnigen Kriminalisten auf.
»So führte Sie also eine harmlose Fensterscheibe auf die rechte Spur!«, konstatierte er. »Wie seltsam doch das Leben spielt!«
Dann fragte er rasch: »Und nun glauben Sie, dass Johnson die Konstruktionspläne Mr. Wellingtons ausbeuten will?«
»Nein, das nehme ich nicht an. Wahrscheinlich wurde Johnson nur beauftragt, die Pläne herbeizuschaffen. Wer diese Auftraggeber sind, weiß ich noch nicht, aber auch sie hoffe ich, entlarven zu können.«
Mit dumpfen Schlägen verkündete in diesem Augenblick die Standuhr die neunte Abendstunde.
»Nun genug der Worte«, murmelte Sherlock Holmes, »die Stunde des Handelns ist gekommen. Ich werde mich jetzt in das Zimmer Nr. 39 begeben, wo bis vorhin Mr. Wellington lag. Dort will ich den Mann empfangen, der heute Nacht kommen wird, um den Erfinder endgültig zu töten.«
Noch ein letzter Händedruck. Dann verließ der Weltdetektiv mit leisen Schritten das Zimmer. Der Fall Wellington war in ein neues Stadium getreten!