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Der marmorne Schreibtisch

Der marmorne Schreibtisch

I

Jimmy, gerade 25 Jahre alt, hatte sein Studium der Literaturwissenschaft in Boston abgeschlossen und lebte nun in Chicago. Wie viele seiner Kommilitonen träumte er davon, ein berühmter Schriftsteller zu werden und mit dem Schreiben so viel Geld zu verdienen, dass er davon leben konnte.

Wie nur wenige seiner Kommilitonen besaß Jimmy jedoch auch das Talent dazu, diesen Traum zu verwirklichen. Er schrieb zunächst einige Gedichte und Kurzgeschichten und bekam dafür gleich mehrere kleine Literaturpreise.

Endlich wagte er sich an seinen ersten Roman. Er sollte ein Hammer werden, wie beispielsweise Die Buddenbrooks von Thomas Mann, sodass er sich damit gleich an die internationale Spitze katapultierte. Er wollte einen Gesellschaftsroman über die Yale-Absolventen seiner Zeit und deren Familien schreiben, natürlich mit einer tragischen Komponente und durchaus auch zeitkritisch, der sein Jahrhundert darstellte und Ausblicke auf eine neue Zeit und gesellschaftliche Veränderungen innerhalb dieser Zeitenwende bot.

Jimmy schrieb die ersten Kapitel und einer seiner ehemaligen Professoren, der ihn heute noch unterstützte, machte ihm Mut, weil er viel von ihm und seinen Fähigkeiten hielt.

 

II

 

Eines Tages jedoch fand der berühmte amerikanische Dichter Trevor Hawks den Weg in Jimmys Heimatstadt. Er hielt dort mehrere Lesungen aus seinen vielfach prämierten Romanen. Jimmy verehrte ihn natürlich, wie er alle namhaften Schriftsteller der Welt verehrte, und nutzte die Gelegenheit, ihn treffen zu können, indem er ein Ticket für eine seiner Lesungen buchte.

Als er wenige Tage später, genauer gesagt an einem milden Sommerabend um 21 Uhr, die Lesung von Hawks besuchte, kaufte er zum Abschluss dieses Events ein Buch des Dichters, um es sich signieren zu lassen und bei dieser Gelegenheit mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Als Jimmy an der Reihe war und dem großen Zeitgenossen gegenüberstand, versagte ihm zunächst vor lauter Ehrfurcht beinahe die Stimme. Dann aber sprach er Hawks an, erzählte von sich und seinem Schreiben, skizzierte seinen neuen Roman in wenigen Worten und bat den Meister darum, seine Meinung dazu kundzutun.

Trevor Hawks merkte sofort, dass der junge Mann vor im ausgesprochen fähig war, und bot an, sich in einer Stunde mit ihm in einem nahen Pub zu treffen und über seinen Roman zu reden, was Jimmy begeistert annahm.

Als sie sich etwas später in besagtem Pub gegenübersaßen, erzählte Jimmy Hawks dann ausführlich von seinem neuen Werk, den Hintergründen, Recherchen und eigenen Ideen dazu, und Hawks hörte aufmerksam zu. Schließlich ermunterte er den jungen Mann ausdrücklich, weiterzumachen und am Ende bot er sogar an, den fertigen Roman seinem Verleger zu zeigen, was Jimmy endgültig euphorisch werden ließ.

Zum Schluss verließen die beiden angeregt plaudernd den Pub, und während Hawks nun in sein Hotel zurückkehrte, suchte Jimmy noch einen seiner Lieblingsclubs auf, denn an Schlaf war natürlich an einem solch denkwürdigen Abend noch lange nicht zu denken.

 

III

 

Was Jimmy an diesem Abend, den er mit Trevor Hawks verbrachte, nicht hatte ahnen können, war, dass sein berühmtes Gegenüber gerade händeringend nach dem Stoff für einen neuen Roman suchte, da sein Verleger ihn unter Druck setzte. Jimmys Geschichte war genau das, was er suchte, und so setzte er sich am Ende seiner Leserreise an seinen Schreibtisch und schrieb genau die Geschichte auf, die Jimmy ihm detailliert geschildert hatte. Jimmy selbst jedoch begann, zu grübeln, schrieb nicht mehr weiter an seinem Buch und wurde immer mehr von Selbstzweifeln geplagt.

Ein Jahr später hatte Hawks schließlich den Roman fertig und gab ihn seinem Verleger. Dieser war begeistert und machte in großem Umfang Reklame für die Story, die er eine Jahrhundertgeschichte nannte. Auch die Presse lobte den Autor für seinen neuen Roman, als dieser in großer Auflage erschien, und wenige Monate später bekam er dafür den National Book Award, eine hohe Auszeichnung seines Landes für Schriftsteller.

Als Jimmy von dem neuen Buch von Trevor Hawks erfuhr, kaufte er sich ein Exemplar und stellte sehr schnell fest, dass dieser Hund seine Story geschrieben, ihm quasi den Roman komplett gestohlen hatte. Aber anstatt nun zu versuchen, Hawks anzuklagen und dafür zur Rechenschaft zu ziehen, wurde Jimmy nun erst richtig depressiv und unternahm sogar einen Suizidversuch. Nach einem zweiten Suizidversuch wurde er schließlich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, bekam starke Medikamente, dämmerte nur noch vor sich hin und gab ein nahezu jämmerliches Bild ab.

 

IV

 

»Hi, Charly! Was schaust du so komisch?«, fragte Joe und begrüßte den anderen Wall-Street-Banker, mit dem zusammen er vor kurzer Zeit Millionen gemacht hatte.

»Ich habe gerade erfahren, dass ich Vater bin, und das schon seit fünfundzwanzig Jahren. Außerdem geht es meinem Sohn sehr schlecht und er braucht Hilfe.«

»Erzähl schon!«, forderte Joe.

»Da, lies diese Mail, dann weißt du Bescheid«, sagte Charly und hielt Joe seinen Laptop hin. Dort konnte dieser das Folgende lesen:

»Hallo Charly,

ich würde mich nicht bei dir melden, wenn es nicht wichtig wäre. Wir waren vor etwa 26 Jahren zwei Tage und Nächte in New Orleans zusammen, und unsere Liebesnächte hatten Folgen. Du hast einen Sohn namens Jimmy, der sehr begabt ist, aber im Moment in einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Chicago lebt. Er schrieb erfolgreiche Gedichte und Geschichten, bis ihm der berühmte Schriftsteller Trevor Hawks einem Roman stahl und damit den National Book Award gewann.

Jimmy beging daraufhin zwei Suizidversuche und landete in der Psychiatrie, aus der er bis heute nicht wieder herauskam.

Da ich weiß, dass du sein Vater und ziemlich erfolgreich an der Börse bist, schreibe ich dir diese Mail in der Hoffnung, dass du ihm helfen kannst. Vielleicht hast du ja eine Idee.

Liebe Grüße,

Senta«

»Und, stimmt Sentas Geschichte?«, wollte Joe wissen.

»Sie wird der Wahrheit entsprechen«, antwortete Charly. »Wir hatten damals zwei schöne Tage und Nächte in New Orleans, bevor ich nach New York zurückkehrte und sie mit ihrem VW-Bus nach Philadelphia fuhr. Sie war cool und ich habe sie sehr gemocht. Aber sag mir, wie kann ich Jimmy helfen? Hast du eine Ahnung, was ich tun kann?«

Joe überlegte einen Moment. Dann zog ein Lächeln über sein Gesicht und er sagte: »Benjamin Lotten! Er wird dir helfen. Er ist Pfarrer und im Nebenberuf Magier. Komm! Ich werde dich zu ihm bringen.«

 

V

 

Sie fuhren nach Manhattan. In einer kleinen Wohnung im zweiten Obergeschoss wohnte Pastor Benjamin Lotten, und als Joe und sein Freund Charly klingelten, war er auch zu Hause.

Ein großer, hagerer Mann mit grauen langen Haaren und einem Seitenscheitel öffnete die Tür und ließ die beiden hereinkommen. Joe stellte ihm seinen Freund Charly vor und Lotten schüttelte zur Begrüßung dessen Hand. Dann fragte er: »Was führt euch zu mir?«

Während die Freunde in seinem Wohnzimmer Platz nahmen und Lotten den beiden Kaffee anbot, antwortete Joe: »Mein Freund braucht deine Hilfe, Ben.«

»In welcher Angelegenheit?«, fragte Benjamin Lotten und wandte sein Gesicht Charly zu.

»Die Sache ist so«, antwortete dieser. »Ich habe durch eine ehemalige Freundin, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, erfahren, dass ich der Vater ihres fünfundzwanzigjährigen Sohnes Jimmy bin. Jimmy ist ein begabter Schriftsteller. Ein bekannter Autor namens Trevor Hawks hat ihm jedoch die Idee zu einem Roman gestohlen, diesen selbst geschrieben und damit einen bekannten Preis des Landes abgeräumt. Da ist mein Sohn depressiv geworden, hat zwei Selbstmordversuche unternommen und ist in der Psychiatrie gelandet, wo er bis heute dahindümpelt. Ich möchte ihn gerne dort herausholen und ihm seinen Lebenswillen und seinen Drang zum Schreiben wiedergeben.«

»Und deshalb kommst du zu mir?«

»Joe sagte mir, dass du nicht nur Pfarrer, sondern auch in der Magie bewandert bist und mir vielleicht einen Tipp geben könntest, wie ich meinen Sohn retten kann.«

Ben Lotten überlegte einen Moment. Dann zog ein Lächeln über sein Gesicht und er nickte seinen Gästen zu.

»Zunächst eine Frage«, sagte er dann zu Charly. »Ich weiß, dass Joe reich ist. Wie ist das mit dir? Besitzt du auch genug Geld? Ich vermute, dass ihr euch von der Börse kennt. Zumindest seht ihr beide danach aus.«

»Das ist richtig«, erwiderte Charly und lächelte. »Und ja, ich habe genug Geld und würde auch etwas für Jimmys Rettung springen lassen.«

»Dann habe ich ein Tipp für dich, der deinen Sohn nicht nur rettet, sondern ihn auch für das Unrecht rächt, das er durch Trevor Hawks erfuhr.«

»Und? Was kannst du mir raten?«, fragte Charly, der natürlich bei diesen Aussichten sehr erfreut war.

»In meiner Gemeinde gibt es einen Musiker, der sehr viele bekannte Lieder geschrieben hat«, gab Ben zur Antwort. »Er besitzt einen marmornen Schreibtisch, an welchem er diese Lieder schrieb, und würde ihn sicherlich nur für viel Geld hergeben. Kaufe diesen Schreibtisch! Dann tu damit etwas, was deinen Sohn rächt und diesen Trevor Hawks bestraft.«

»Hm! Was könnte man damit tun?«, fragte sich Charly nachdenklich. »Und würde dein Bekannter den Schreibtisch überhaupt verkaufen, wenn er ihm so viel bedeutet?«

»Ganz bestimmt«, sprach Benjamin Lotten weiter. »Außerdem besitzt der Schreibtisch Zauberkraft und könnte genau das bewirken, was du dir wünschst.«

Charly dachte einen Moment nach. Dann fragte er Ben, was genau er denn mit dem marmornen Schreibtisch tun solle.

»Man könnte Trevor Hawks anbieten, eine Viertelmillion zu zahlen, wenn er an diesem Schreibtisch seinen nächsten Roman schreibt und sich dabei von einem Reporter begleiten lässt, der gleichzeitig eine Story über ihn verfasst. Wenn der Ideenräuber dies tut, wird er für seine Tat gegenüber deinem Sohn bestraft werden. Zudem ist der Musiker, dem der Schreibtisch gehört, inzwischen schon über neunzig Jahre alt und schreibt keine Lieder mehr. Ferner hat er keine Kinder, denen er das gute Stück vermachen könnte. Ich kann mir vorstellen, dass er den Schreibtisch für einen guten Zweck und eine angemessene Summe hergibt. Versuche es einfach! Ich gebe dir seine Adresse.«

Charly ließ sich von Ben den Namen und die Adresse des Besitzers des Zauberschreibtisches geben, verabschiedete sich und suchte dann zusammen mit Joe den alten Mann auf. Als er ihm die Geschichte seines Sohnes erzählte, verkaufte dieser ihm den Schreibtisch für hunderttausend Dollar, und Charly machte sich daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

 

VI

 

Für Charly als Banker war es nicht so schwierig, mit Trevor Hawks ins Gespräch zu kommen und einen Journalisten von der New York Times für seine Sache einzuspannen. So bekam er, was er wollte, und Trevor Hawks sagte zu, für eine Viertelmillion Dollar seinen nächsten Roman an Charlys Schreibtisch in dessen Penthaus in Manhattan zu verfassen. Der angeheuerte Journalist sollte Hawks dabei begleiten und einen Bericht über dessen Aktion schreiben.

Im Winter begann das Experiment und Hawks war guter Dinge. Er schrieb zuerst sehr schnell die ersten Kapitel, aber dann kam es, wie es kommen musste, und seine Ideen verließen ihn. Er schrieb immer langsamer und am Ende gar nicht mehr. Aber damit nicht genug. Die Stimmung des Autors kippte immer mehr und er wurde zusehends depressiv, bis er schließlich von Selbstzweifeln zerfressen nur noch vor sich hin grübelte.

Charlys Sohn Jimmy aber, den sein Vater öfter besuchte, ging es von Tag zu Tag besser, seine Stimmung festigte sich auf einem guten, positiven Niveau, er konnte bald aus der Klinik entlassen werden und hatte wieder Ideen und Lust zum Schreiben.

Am Tag seiner Entlassung in die Freiheit jedoch brachte Trevor Hawks sich um, indem er sich aus dem fünfzehnten Stockwerk stürzte. Charly erfuhr davon nur wenige Stunden später und berichtete Jimmy, dem er sein Penthaus mitsamt dem marmornen Schreibtisch schenkte.

Jimmy fand sehr schnell wieder Erfüllung im Schreiben und seine Ideen sprudelten an dem geheimnisvollen Schreibtisch nur so aus ihm heraus. Er schrieb in drei Jahren drei wundervolle Romane und danach noch eine Reihe weiterer guter Bücher.

Im Alter von sechzig Jahren wurde ihm für die drei ersten Romane der Nobelpreis für Literatur verliehen und sein Vater war stolz auf ihn. Jimmy hatte im Lauf der Jahre eine eigene Familie gegründet und seine zwei Söhne erbten schließlich den marmornen Schreibtisch von ihm. Das Kleinod ist wohl noch heute im Besitz seiner Familie, die noch mehrere große Künstler hervorgebracht hat.

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