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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 7 – 9. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 7
Die Spürnase des Oberkellners
9. Kapitel

Die letzten Maschen

»Such, such, mein guter Hund!«, sprach draußen der Detektiv zu dem Tierchen, das mit glänzenden Augen zu ihm aufsah. »Wo ist Peter, Dick? Such Peter!«

Bellend sprang der Hund voran – er begriff, um was es sich handelte, zudem kam gerade Betsy die Treppe herunter, mit der der Detektiv einen Augenblick sprach.

»Hat Dick den Peter besonders gerngehabt?«, fragte er sie.

»O ja, die beiden waren enge Freunde, Peter be­schäftigte sich mehr mit dem Hund als die Lady. Und Sie glauben nicht, Mr. Holmes, wie das Tier heute stundenlang an Peters Tür gestanden und geheult hat, bis ihn der Herr in sein Zimmer nahm.«

»Wo war denn Dick an dem verhängnisvollen Abend?«

»Er wurde gegen Abend immer in den grünen Salon gebracht, weil der auf die Terrasse geht und Dick dort so eine Art Wache halten sollte. Er hat nichts gemerkt, der arme Kerl – freilich, über die Terrasse wird ja auch niemand gekommen sein.«

Der Detektiv nickte und fuhr fort, dem Hund zuzureden, dass er Peter suchen solle. Selbstverständlich rannte das Tier zunächst zu der hochgelegenen Stube des Dieners. Sherlock Holmes öffnete die Tür für ihn, aber das hatten wohl auch schon vorher die Dienstmädchen getan, denn Dick lief nur ein paarmal in dem wohlbekannten Raum umher und jagte dann zur Tür hinaus.

Sonderbarerweise blieb er an dem verschlossenen Aufgang zum Hausboden stehen.

»Dick«, sagte Sherlock Holmes, »auf dem Hausboden haben wir bereits gesucht! Ich weiß, dass dein Peter dort nicht ist – ich habe selbst gesucht, weil ich dachte, er habe sich dort vielleicht aufgehängt …«

Dick fuhr fort zu wedeln und zu bellen. Endlich ließ sich sein Begleiter den Bodenschlüssel geben und stieg hinauf.

Der Hund stürzte zu der Leiter, die noch weiter bis auf das Dach hinaufführte. Betroffen sah der De­tektiv seine Aufregung, zögerte aber nicht, auch diese Leiter noch hinaufzusteigen – den Hund hielt er dabei im Arm. Welch entsetzlicher Anblick bot sich ihm, als er die Dachluke aufgestoßen hatte und auf das flache Dach hinaustrat: Peter lag hier, von Blut überströmt und leblos.

Mit Stentorstimme rief Sherlock Holmes in das Haus hinab nach den Dienern. Bis diese kamen, eilte er auf der nur kleinen Plattform des Daches umher und suchte nach Spuren. Er fand nichts, bis auf einige festgetretene Stückchen von demselben Häcksel, der ihn schon auf die erste Spur des Mörders gelenkt hatte.

Drüben an dem niedrigen Geländer, welches das Dach abschloss, war eine Stange ein wenig verbogen.

Sherlock Holmes half den erschrockenen, zu Hilfe geeilten Dienern, den schweren leblosen Körper die Leiter und die Treppen hinunterbringen.

Der Hund heulte ununterbrochen, und die Dienstmädchen brachen beim Anblick des neuen, schauerlichen Fundes in ein furchtbares Wehgeschrei aus.

Lord Malcolm eilte in die Halle und stand regungs­los vor Entsetzen, als er dieses zweite Opfer des Verbrechens erblickte.

»Ist er tot?«, stieß er heraus.

»Wahrscheinlich – lassen Sie auf alle Fälle sofort den Arzt kommen. Ich habe nur noch eines zu tun – den Mörder zur Strecke zu bringen!«

Sherlock Holmes stürzte fort, warf sich in einen Wagen und fuhr zum Haus in der Regentstraße. In der Hand hielt er einen kleinen Gegenstand, den er unbemerkt aus den starren Händen Peters herausgenommen hatte. Es war nichts weiter als ein Knopf. Aber ein Knopf von eigentümlicher Farbe – schwarz und grau gesprenkelt, wie sie an Lodenjoppen getragen werden.

Jede Fiber an seinem Körper war gespannt, als er in jenem Haus mit dem Doppeleingang die Treppen hinaufeilte und die Wohnung betrat, in welcher der Baron Ballières Zuflucht gesucht hatte.

Er war zu Hause und – bereits gefasst auf alles; denn er hatte vorhin ausgehen wollen und war von den ausgestellten Wachen festgehalten worden.

Ohne ein Wort mit ihm zu sprechen, trat Sherlock Holmes vor den Mann hin, betrachtete den Rock, welchen er trug, und winkte einem seiner Leute, den Koffer zu öffnen, der auf einem Stuhl stand.

Er durchsuchte seinen Inhalt und förderte eine Lodenjoppe zutage, an der ein Knopf fehlte.

»Sehr unvorsichtig von Ihnen!«, sagte er sarkastisch. »Ich an Ihrer Stelle hätte mir mindestens einen neuen Knopf angenäht. Es hätte zwar nicht viel genutzt, denn ich würde doch gemerkt haben, dass er frisch angenäht wäre – aber so haben Sie uns ja jeder Mühe überlassen.«

»Mas wollen Sie damit sagen!«, rief der blasse, schlotternde Mensch, der heute, ohne Perücke und Farbe sich als ein noch junger, bartloser Mann von unge­wöhnlich kleinem Körperbau entpuppte.

Sherlock Holmes antwortete nicht. Er legte dem Verbrecher schwere Handschellen an, wobei der Detektiv vergleichend die beiden spitzfingerigen Hände nebeneinanderhielt. »Ich wusste es ja!«, murmelte er. »Die linke Hand ist kleiner als die rechte. Was sind Sie zu gewöhnlichen Zeiten? Was für ein Artist, meine ich!«

»Ich bin Handkünstler!«, stotterte Ballières. »Ich habe Athletenkunststücke nur mit den Händen gemacht …«

»Ja!«, donnerte Sherlock Holmes. »Und vielleicht betrachtest du es auch als ein Athletenkunststück, du Schurke, dass du Lady Malcolm ermordet und ihren Diener er­stochen hast! Vorwärts, Leute – in den Wagen mit ihm!«

In der Halle des Palais Malcolm fand wenige Stunden später eine kurze Sitzung statt, der nur wenige Teilnehmer beiwohnten.

Lord Malcolm, Sherlock Holmes, Harry Taxon und der Mörder.

Der Diener Peter war nicht tot.

Vernehmungsfähig war er nicht, er hatte aber so viel Blut verloren und war durch die fast dreitägige Verlassenheit und Bewusstlosigkeit auf dem Dach des Hauses so nahe an den Rand des Grabes gebracht worden, dass er nur wie durch ein Wunder am Leben geblieben war.

Doch Sherlock Holmes hatte, gleich nachdem Peter das Bewusstsein wiedererlangte, einige Worte mit ihm gesprochen, und diese Worte hatten genügt, um das Netz, das er so heimlich gesponnen hatte, vollends zu schließen.

Der sogenannte Baron Ballières saß, leichenblass und kaum imstande, sich aufrecht zu erhalten, auf einem Stuhl, vor dem Sherlock Holmes stand.

»Mylord«, sprach dieser Letztere, indem er sein ebenfalls blasses, teilnahmsvolles Gesicht dem Witwer zuwandte, »ich will Ihnen, Ihrem Wunsch entsprechend, kurz mitteilen, was sich an jenem Abend – und auch was sich lange vorher abgespielt hatte – welche furcht­bare Berechnung die Ursache des Todes Ihrer Gattin war.«

»Sagen Sie mir das nachher, wenn wir allein sind«, antwortete mit leiser, wie verlöschender Stimme Lord Malcolm. »Haben Sie den Beweis, dass dieser Mann hier meine Frau erdrosselt hat?«

»Ich werde Ihnen sagen, wie sich das Trauerspiel entwickelte – der Mörder wird nicht leugnen.

Zunächst stelle ich fest, dass es eine ganze Verschwörer­bande gab, die es darauf abgesehen hatte, ihre frühere Kollegin, Mary Tamanio, zu schröpfen. Es dachte niemand an Mord – selbst dieser Elende hier hatte nicht die Absicht, die Lady zu töten.«

Tief senkte Ballières den Kopf. Sein bartloses Gesicht sah abstoßend in seiner fahlen Leichenfarbe aus.

»Mary Tamanio war sehr reich, seitdem sie Lady Malcolm war, und dies benutzte eine frühere Kollegin von ihr, Miss Elvira, zu wiederholten Betteleien, die stets von der großmütigen Lady genährt wurden. Da Elvira schwatzhaft und nichts weniger als klug war, beschlossen bald noch andere, sich an diesen Schröpfungen zu beteiligen; zu diesen anderen gehörte ein gewisser Lovell und der sogenannte Graf, der weiter nichts war als ein ehemaliger Geliebter der schönen Ellen Brewer.«

Bei Nennung dieses Namens zuckte der Lord zu­sammen, ohne dass es Sherlock Holmes zu beachten schien.

»Ellen Brewer«, fuhr er fort, »hasste aus beson­deren Gründen die Lady glühend. Sie spielte daher dem Lord Briefe in die Hände, von denen die Lady glauben musste, sie seien von … von einem ihr einstmals sehr nahestehenden Mann geschrieben.

Diese

Briefe aber schrieb kein anderer als dieser Mensch hier. Denn Baron Ballières betreibt eine Spezialität, die ihm schon einmal die nähere Bekanntschaft mit dem Zuchthaus verschafft hat – er ist der geschick­teste Handschriftenfälscher von ganz England. Hier, Lord Malcolm, sehen Sie sich diese drei Zeilen an, die er heute an Elvira schrieb. Kennen Sie diese Handschrift?«

»Großer Gott«, stöhnte der Lord, »woher wissen Sie – was soll das bedeuten?«

»Sie werden es nachher hören. Zunächst erzähle ich jetzt: Die eben erwähnten Verschwörer brauch­ten wieder einmal Geld, und Elvira übernahm es, eine große Summe von der Lady zu erpressen – mit der Be­gründung, dass jener längst verstorbene Mann, der einst der Lady nahegestanden, das Geld benötige. Vorgestern Abend holte Elvira selbst das Geld hier ab.

An diesem Abend aber folgte ihr dieser Mann hier, der mir die Absicht aussprach, noch ein kleines Geschäft mit der Lady abzuwickeln.

Lady Malcolm hatte ihre Dienstmädchen fortgeschickt, weil sie es nicht liebte, wenn ihre Leute jene Kollegen aus früherer Zeit sahen. Nur Peter war im Haus, und ihm sagte sie, nachdem schon Elvira mit dem Geld fort war, es werde noch ein Besuch kommen.

Gegen halb elf Uhr fuhr in einer Droschke Ballières vor. Peter ließ ihn ins Hans, und die Lady empfing ihren Gast. Sie ahnte nicht, dass er derselbe Mann war, welcher ihr all die beängstigenden Briefe ge­schrieben hatte!

Nachdem sie ihrem Gast einen Imbiss vorgesetzt hatte, wo­bei er aß und trank, die Lady aber nichts zu sich nahm, stand er auf. Er hatte am Stiefel ein kleines Stück Häcksel mit hereingebracht, das ihm zum Verräter wurde. Beide begaben sich in das Zimmer der Lady. Hier setzte ihr Ballières auseinander, dass er nicht nur Geld von ihr wolle, sondern dass ihre Schönheit, die er bisher immer nur von fern bewunderte, ihn so entflammt habe, dass sie die seine werden müsse …«

Lady Malcolm, außer sich vor Angst und Empörung, wies ihm die Tür, und da er nicht gehen wollte, telefonierte sie an mich um Hilfe.

Noch am Telefon umfasste sie der Freche, und vielleicht hätte er seinen verbrecherischen Zweck erreicht, wenn nicht die Lady sich verzweifelt gewehrt und die Flucht vor ihm ergriffen hätte. Dabei rief sie nach Hilfe. Er drückte ihr die Kehle zu und unter seinem Griff hauchte sie ihr Leben aus.«

Tiefe Stille lagerte über der kleinen Versammlung, nur unterbrochen durch das leise Stöhnen des Lords.

Sherlock Holmes fuhr ruhig fort: »Peter hörte – leider zu spät – die Hilferufe seiner Herrin. Als er das Boudoir betrat, flüchtete der Mörder blindlings durch das Haus – die Treppen hinauf irgendwohin. Aber Peter folgte ihm, und auf dem Dach des Hauses in der Dämmerung, die nur schwach durch das von der Straße heraufdringende Licht erhellt wurde, packte er den Mörder. Dieser hatte sein Messer gezogen und stieß zu. Er traf sein Opfer so unglücklich, dass Peter, ohne einen Laut von sich zu geben, umsank, nachdem er im Kampf diesen Knopf hier dem Mörder abgerissen hatte.

Ballières musste Peter für tot halten. Er flüchtete wieder in das Haus hinab und stürzte durch die Haustür ins Freie – niemand hatte ihn gesehen.«

»Gott, Gott, Gott!«, schrie der Lord auf. »Und wer war es, der diesen Verfluchten verriet?«

»Niemand verriet ihn, Mylord, als seine eigenen Fingerspuren und das winzige Stückchen Häcksel von seinen Schuhen. Und nun führt den Menschen hier ab. Seine Gegenwart soll nicht länger dieses Haus geduldet werden, in welchem er seine scheußliche Tat vollzogen hat.«

Geführt von zwei Polizisten, blass und am ganzen Körper bebend, wankte der Mörder hinaus.

Sherlock Holmes aber wandte sich an den verwitweten Gatten: » Mit Ihnen habe ich noch ein paar Worte zu richten, welche Sie und die Tote betreffen. Ich weiß, Mylord, – fragen Sie nicht, wodurch ich es erfuhr, – ich weiß, dass Sie Ihre edelste und treueste Gattin im Verdacht hatten, sie sei Ihnen untreu …«

»Leider«, stöhnte der Lord, »war es kein bloßer Ver­dacht. Ich hatte die Beweise. Und ich habe auch Mary ihre Untreue ins Gesicht geschleudert – sie leugnete!«

»Sie hatte recht zu leugnen!«, sprach Sherlock Holmes in tiefem Ernst.

»Wie? Angesichts der Briefe, die man mir zeigte?«

»Diese Briefe, Mylord, waren, wie ich Ihnen schon vorhin sagte, gefälscht – bis auf zwei. Und diese beiden, vor langen Jahren geschriebenen, stammten von dem ersten Gatten Ihrer Frau.«

»Unmöglich! Mary hatte mir gesagt, dass er längst verstorben sei. Sie hatte mir die Nachricht in der Zeitung gezeigt, dass das Schiff, auf welchem er nach Australien ausgewandert war, mit Mann und Maus untergegangen war.«

»Sie handelte immer im besten Glauben. Eines Tages reifte der teuflische Plan in den Köpfen von Lovell und seinen Spießgesellen, die arme Lady glauben zu machen, dass ihr erster Mann noch lebe, dass er zurückgekehrt sei, und dass er drohe, vor Sie, Mylord, mit seinen Ansprüchen hinzutreten, wenn sie nicht alle Summen zahlte, welche von ihr verlangt wurden. Sie sehen, wie man die Arme getäuscht hat – all die

Briefe, täuschend nach der Handschrift des wirklich Verstorbenen gefälscht, waren von Ballières geschrieben.«

»Ah! Und ich Elender glaubte mich betrogen – mit Höllenqualen, warf mich jenem intriganten Weib in die Arme, die in Verbindung mit der Verbrecherschar stand.«

»Nicht nur in Verbindung – ich glaube, dass Miss Ellen Brewer zuerst den Wunsch ausgesprochen und hohe Belohnungen dafür ausgesetzt hat, dass Lady Mary stürbe

und den Platz für sie selbst frei mache.«

»Ha, die Verrückte! Sie soll es büßen …«

»Im Gegenteil, Mylord, sie wird die Einzige sein, die frei ausgeht – denn niemand wird ihr etwas beweisen können! Doch nun habe ich meines Amtes gewaltet, der Lord ist aufgeklärt, das Andenken der Lady ist gereinigt. Ich habe hier nichts mehr zu tun. Leben sie wohl, Mylord.

Lord Malcolm hielt seine Hand fest. Vergeblich versuchte er etwas zu sagen, kein Wort drang aus seiner Kehle.

Und endlich machte sich der ungebundene Aufruhr seiner Seele in einem Strom von Tränen Luft.

Er fiel Sherlock Holmes um den Hals und schluchzte wie ein Kind.

»Wie soll ich Ihnen jemals danken!«, presste er endlich hervor.

»Sie haben mir das Kostbarste zurückgegeben, was ich besaß – das ungetrübte Andenken, die unauslöschliche Liebe für Mary!«

Sherlock Holmes drückte ihn tiefbewegt die Hand. »Mein Lohn besteht in dem, was Sie soeben aussprachen, Mylord; es bedarf keines weiteren Dankes.«

Hierauf wandte er sich ab, winkte Harry herbei und verließ mit ihm das Haus.

Sherlock Holmes hatte von diesem Tage an keinen ergebeneren Freund als Lord Henry Malcolm, der von nun an nur noch dem Andenken seiner Gattin lebte.

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