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Die Gespenster – Vierter Teil – 22. Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil

Zweiundzwanzigste Erzählung

Von den am hellen Tag gesehenen Gespenstern eines Gelehrten, dessen Glaubwürdig­keit auch nicht dem kleinsten Zweifel unter­worfen ist

Ein der Welt allgemein bekannter, beachtungswürdiger Gelehrter, der seit einer langen Reihe von Jahren den Wahnglauben und das Vorurteil sowohl kräftig als auch glücklich bestritt und namentlich auch über die zu ihrer Zeit halb Deutschland betörenden Gespenster und Teufeleien Gaßners, das hellste Licht mit verbreiten half – Herr Friedrich Nikolai zu Berlin –, hatte im Februar des Jahres 1791 oft wiederkehrende Gespenstererscheinun­gen, die in jeder Hinsicht zu merkwürdig und für Gläubige und Ungläubige zu lehrreich sind, als dass ich nicht ihre Geschichte, möglichst mit den eigenen Worten des Geistersehers, dieser Sammlung einverleiben sollte. Ich tue dies nach der gewiss streng überdachten Erzählung, die er zur Berichtigung und Ergänzung dessen, was über diese Wundergeschichte im Hufelandischen Journal der praktischen Arzneikunde steht, am 28. Februar 1799, in der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen und in der neuen Berliner Monatsschrift bekanntgemacht hat.

Ich befand mich, so erzählt Herr N., am 24. Februar 1791 vormittags um zehn Uhr in Gesellschaft meiner Frau und noch einer Person, in einer heftigen Gemütsbewegung auf meinem Zimmer, als plötzlich in einer Entfernung von zehn Schritten eine Gestalt – die Gestalt eines Verstorbenen – vor mir stand. Ich wies darauf hin und fragte meine Frau, ob sie die Gestalt dort sähe. Sie sah nichts, nahm mich äußerst er­schrocken in ihre Arme, versuchte mich zu besänftigen und schickte nach dem Arzt. Die Gestalt blieb wohl eine halbe Viertelstunde. Ich kam endlich etwas zur Ruhe, und, da ich äußerst erschöpft war, fiel ich nach einiger Zeit in einen unruhigen Schlummer, der eine halbe Stunde anhielt.

Man schrieb das Gesicht der starken Gemütsbewegung zu und hoffte, es werde auf immer verschwunden sein. Aber nachmittags nach vier Uhr erschien mir die nämliche Gestalt wieder. Ich war nun allein; und da mir dieser Umstand, wie leicht zu begreifen ist, sehr unangenehm war, ging ich zu meiner Frau, der ich es erzählte. Aber auch hier erschien die Gestalt; bald war sie da, bald wieder weg. Ungefähr nach sechs Uhr erschienen auch verschiedene einzelne wandelnde Gestalten, die mit der stehenden Figur nichts gemein hatten.

Obwohl von dem Geheimrat Herrn Selle, meinem Arzt, dienliche Arzneien genommen wur­den und ich mich sonst ganz wohl befand, so ver­minderten sich doch die erscheinenden Gestalten nicht; im Gegenteil, sie vermehrten und veränderten sich auf die sonderbarste Weise.

Da mich, nachdem das erste Entsetzen vorüber war, diese Erscheinungen nicht sonderlich erschüt­terten, und ich sie für das hielt, was sie waren, für merkwürdige Folgen einer Krankheit, so suchte ich umso mehr Besonnenheit zu behalten, um in einem recht deutlichen Bewusstsein dessen, was in mir vorging, zu bleiben. Ich beobachtete diese Phantasmen sehr genau und dachte oft nach über meine eigenen vorherigen Gedanken, um irgendein Gesetz der Anschließung der Vorstellungen zu finden, nach welchem etwa gerade diese oder jene Gestalten sich der Einbildungskraft darstellen möchten. Zu­weilen glaubte ich etwas zu finden, sonderlich in der letztem Zeit; aber im Ganzen war zwischen meinem Gemütszustand, zwischen meinen Beschäftigungen und übrigen Gedanken, und zwischen den mannigfaltigen mir vorkommenden und wieder ver­schwindenden Gestalten, gar kein Zusammenhang zu entdecken.

Nach dem ersten erschütternden Tag kehrte die Gestalt des Verstorbenen zurück; hingegen ka­men sehr deutlich viele andere Gestalten zum Vorschein: zuweilen Bekannte, aber meistens Unbekannte. Unter den Bekannten waren Lebende und Verstorbene, am meisten die Erstgenannten. Bemerkenswert schien es mir, dass Personen, mit denen ich täglich umging, mir nie als Phantasmen erschie­nen; es waren jederzeit entfernte. Auch versuchte ich, nachdem diese Erscheinungen einige Wo­chen gedauert hatten, und ich mich dabei ganz ruhig befand, Phantasmen von mir bekannten Personen selbst hervorzubringen, welche ich mir deshalb sehr lebhaft vorstellte; aber vergeblich. So bestimmt ich mir auch die Bilder solcher Personen in meiner sehr lebhaften Einbildungskraft dachte, so gelang es mir doch nie, sie auf mein Verlangen außer mir zu sehen; ob ich sie gleich schon vor einiger Zeit, unverlangt, als Phantasmen gesehen hatte, und sie sich auch wohl nachher unvermutet mir wieder auf diese Art darstellten. Die Phantasmen erschienen mir einfach unwillkürlich, als würden sie mir von außen dargestellt, gleich den Phänomenen in der Natur. Dabei konnte ich, so wie ich überhaupt in der größten Ruhe und Besonnenheit war, diese Naturerscheinungen jederzeit von Phantasmen genau unterscheiden, wobei ich mich nicht ein einziges Mal geirrt habe. Ich wusste genau, wenn es mir bloß schien, dass die Tür sich öffne und ein Phantom hereintrete, und wann die Tür wirklich geöffnet wurde und jemand wirklich zu mir kam.

Übrigens erschienen mir diese Gestalten zu jeder Zeit und unter den verschiedensten Umständen, gleich deutlich und bestimmt: Wenn ich allein und in Gesellschaft war, bei Tag und in dunkler Nacht, in meinem Haus und in fremden Häusern; doch waren sie in fremden Häusern nicht so häufig, und wenn ich auf offener Straße ging, sehr selten. Wenn ich die Augen zumachte, so waren zuweilen die Gestalten weg, zuweilen waren sie auch bei geschlossenen Augen da. Blieben sie aber alsdann weg, so erschienen nach Öffnung der Augen, wieder ungefähr die vorher gesehenen Figuren.

Ich sprach zuweilen mit meinem Arzt und mit meiner Frau über die Phantasmen, welche eben um mich herumwandelten; denn überhaupt erschienen diese Bilder mehr wandelnd als in Ruhe. Immer waren sie nicht da. Oft blieben sie ganz weg und kamen wieder, auf kurze Zeit oder auf längere, einzeln oder mehrere zugleich, doch gewöhnlich er­schienen mehrere zusammen. Meist sah ich mensch­liche Gestalten beiderlei Geschlechts: Sie gingen ge­wöhnlich durcheinander, als hätten sie nichts unter sich zu verkehren, so wie etwa auf einem Markt, wo sich alles nur fortdrängt; zuweilen schienen sie Ge­schäfte miteinander zu haben. Einige Male sah ich unter ihnen auch Personen zu Pferde, desgleichen Hunde und Vögel. Diese Gestalten alle erschienen mir in Lebensgröße, so deutlich wie man Personen im wirklichen Leben sieht; mit der verschiedenen Fleischfarbe der unbekleideten Teile des Körpers und mit allen verschiedenen Arten und Farben der Kleidungen; doch dünkte mich, als wären die Far­ben etwas blasser als in der Natur. Keine der Figuren hatte etwas besonders Ausgezeichnetes, sie waren weder schrecklich noch komisch noch widrig; die meisten waren gleichgültig, einige auch angenehm.

Überhaupt nahm die Zahl der Phantasmen und ihrer Erscheinungen in eben dem Verhältnis zu, je länger es währte. Nach etwa vier Wochen fing ich sogar an, sie reden zu hören. Zuweilen sprachen die Phantasmen unter sich; meistenteils aber wurde ich angeredet. Ihre Rede war abgebro­chen und hatte für mich etwas Unangenehmes. Nun erschienen mir auch verehrte Freunde und Freundinnen, deren Reden mich über Gegenstände meines Kummers, der natürlich noch nicht ganz verschwunden sein konnte, trösteten. Gewöhnlich war ich allein, wenn ich diese reden hörte; zuweilen aber auch mitten unter wirklichen redenden Personen; oft vernahm ich von jenen nur einzelne Phrasen, zuweilen zusammenhängende Reden.

Obgleich während dieser Zeit beides, mein kör­perlicher und mein Gemütszustand, erträglich war; ob ich gleich mit diesen Phantasmen so bekannt wurde, dass sie mir zuletzt nicht die geringste unangenehme Empfindung mehr verursachten, dass ich nicht selten sogar mir Vergnügen Betrachtungen über sie anstellte und mit meiner Frau und mei­nem Arzt darüber scherzte: So wurden doch, besonders da dieser Zustand merklich zunahm und die Gestalten oft ganze Tage lang und auch zur Nachtzeit, so oft ich aufwachte, mich nicht verließen, verschiedene Arzneien gebraucht und endlich wurde beliebt, wieder Blutegel an den After zu sehen.

Dies geschah am 20. April, vormittags um elf Uhr. Ich war mit dem Wundarzt allein; aber während der Operation wimmelte das Zimmer von menschlichen Gestalten aller Art, die sich durcheinanderdrängten. Dieses dauerte ununterbrochen fort, bis um halb fünf Uhr ungefähr; also gerade bis zur Zeit der anfangenden Verdauung. Nun bemerkte ich, dass die Gestalten anfingen, sich nur langsam zu bewegen. Kurz darauf fingen ihre Farben an, nach und nach blasser zu werden. Ihre Anzahl nahm mit jeder halben Viertelstunde mehr ab, ohne dass jedoch die bestimmte Figur der Gestalten verändert worden wäre. Etwa um halb sieben waren die Gestalten ganz weiß und bewegten sich nur sehr wenig, doch waren die Umrisse noch sehr bestimmt. Nach und nach wurden sie merklich unbestimmter, ohne dass ihre Anzahl abgenommen hatte, wie es sonst oft der Fall gewesen war. Die Gestalten gingen nicht weg, sie verschwanden auch nicht, welches sonst gleichfalls oft geschehen war. Nun zerflossen sie gleichsam in der Luft. Von einigen waren eine Zeitlang sogar einzelne Stücke zu sehen, die nach und nach auch vergingen. Ungefähr um acht Uhr war von den Gestalten gar nichts mehr da. Nie habe ich wieder dergleichen gesehen.«

So weit Herrn Nikolais treue Erzählung, von seiner merkwürdigen Erfahrung, sofern sie das Ansehen haben könnte, als dürfte sie wie ein Beweis für die Wirklichkeit der Geistererscheinungen an­gesehen werden. Nun auch die, jedem denkenden Kopf völlig genügende und überzeugende Erklärung, dieses anscheinenden Wunders.

Herr Nikolai hält die eben beschriebenen Er­scheinungen, aus unwidersprechlichen Gründen, für Täuschungen der Einbildungskraft oder für eine Folge zu sehr angespannter, widernatürlich gereizter Nerven und einer unrichtigen Zirkulation des Blu­tes.

»Die Möglichkeit, dass die Einbil­dungskraft auf diese Art uns selbst täuschen könne«, sagt er, »wird kein Vernünftiger leugnen, der nur einigermaßen ihre Wirkungen kennt. Indessen geben diejenigen, welche das Wunderbare lieben, ihre Einbildungen lieber für Wirk­lichkeit aus. Man kann deshalb nicht ge­nug genaue Erfahrungen sammeln und bewahrheiten, welche zeigen, wie leicht die Einbildungs­kraft uns auf falsche Begriffe führt, wie leicht sie nicht etwa bloß Verrückten, sondern auch Personen bei völlig richtigem Bewusstsein, solche Gestalten vorgaukelt, die kaum von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind.«

Herr Nikolai erzählt nun mit einer in solchen Fällen rühmlichen Genauigkeit verschiedene, mit sei­nen Erscheinungen verknüpfte Vorfälle, und zwar mit einer Zuverlässigkeit, die umso schätzbarer ist, je seltener die Fälle sein möchten, wo man imstande ist, sich selbst zu beobachten. Auch hatte er das Wichtigste sogleich niedergeschrieben, es auch danach vielen erzählt; überdies halte ihm sein treues Gedächtnis jeden auch den geringsten Umstand aufbewahrt. Dazu kam endlich auch noch, dass Herr Geheimrat Selle, auf welchen Hr. N. wenn es nötig wäre, wie auf einen unverwerflichen Zeugen der Wahrheit dieser Geschichte hinweisen kann – als Arzt täglich wahrnahm, was vorging.

»Kurz vorher, ehe mir die Phantasmen erschienen«, erzählt Herr N., »scheint mir Folgendes einen bemerkenswerten Einfluss auf meinen dama­ligen körperlichen und Gemütszustand gehabt zu haben. Ich hatte in den zehn letzten Monaten des Jahres 1790 verschiedene betrübte Vorfälle erlebt, die mich sehr erschütterten; besonders folgten vom September an, fast ununterbrochen Begebenheiten mancherlei Art aufeinander, die mir bitteren Kummer verursachten. Ich war ferner gewöhnt, jährlich zweimal Ader zu lassen. Dies war am 9. Juli 1790 einmal geschehen, aber zu Ende des Jahres unterlassen worden. Im Jahr 1783 hatte mich plötzlich ein heftiger Schwindel überfallen. Der Arzt schrieb ihn den Verstopfungen der feinen Gefäße des Unterleibes zu, die eine Folge der sitzenden Lebensart und anhaltender Geistesanstrengungen zu sein pflegen. Diese Beschwerden wichen damals durch eine länger als drei Jahre fortgesetzte Kur und verbesserte sehr strenge Diät. Besonders wirksam war dabei gleich anfänglich die Ansetzung der Blutegel am After gewesen, welche seitdem jährlich zwei-, auch dreimal wiederholt wurde, wenn ich starke Kongestionen nach dem Kopf verspürte. Zum letzten Mal waren am 1. März 1790 Blutegel angelegt worden. Es war also sowohl der Aderlass als auch die Entladung der feinen Blutgefäße mittelst der Egel, im Jahr 1790 weniger oft geschahen als sonst. Dazu kam, dass ich vom September an, außer der oben gedachten kummervollen Lage, beständig mit sehr anstrengenden Arbeiten, die durch oftmalige Unterbrechungen noch beschwerlicher wurden, beschäftigt war.

In den beiden ersten Monaten des Jahres 1791 wurde ich noch durch verschiedene, mir höchst unan­genehme Vorfälle sehr gekränkt. Mit denselben war am 24. Februar ein äußerst heftiger Verdruss verknüpft. Und an eben diesem Tag war es, als ich in der allzu heftigen Gemütsbewegung über eine Reihe von Vorfällen, die mein ganzes morali­sches Gefühl empört hatten und woraus ich keinen vernünftigen Ausgang sah, zum ersten Mal plötzlich die Gestalt eines Verstorbenen vor mir erblickte.«

Die Erfahrung lehrt aber, dass wir uns auf vielerlei Arten einbilden können, Gestalten, die außer uns nicht wirklich vorhanden sind, zu sehen, oder auch wohl gar zu hören. Dies geschieht

1) Im gewöhnlichen Traume. Die Art des Träumens ist bei jedem Menschen verschieden und scheint in der Mischung seiner Verstandes- und sinnlichen Kräfte, sofern sie durch den je­desmaligen körperlichen Zustand modifiziert wer­den, zu beruhen.

2) Im Wahnsinn und in allen Graden des­selben, bis zur gänzlichen Verrücktheit des Verstandes.

3) In hitzigen Fiebern, welche eine kurze Zeit hindurch oder in gewissen wiederkehren­den Perioden den Verstand verwirren.

4) In der bloßen Einbildungskraft, ohne hitzige Krankheit, bei gesundem Verstand. Hier ist die Wahrheit am schwersten zu erfahren; es wäre denn, dass genauer Beobachtungsgeist mit reiner Wahrheitsliebe verbunden wäre.

Die Fälle sind sehr häufig, wo man sich nicht durch Einbildungskraft, sondern, ich möchte sagen, auch durch den irregeführten Verstand betrügen lässt. Sehr viele Leute lieben das Wunderbare und dünken sich besonders dann etwas, wenn sie von sich selbst recht viel Wunderbares erzählen können. Wenige versuchen sich von Vorurteilen zu befreien und ihre Einbildungskraft zu zähmen; noch seltener sind diejenigen, welche sich und andere genau beobachten; und noch seltener hat man dabei Entäußerung genug, um streng bei der Wahrheit zu bleiben. Also, wenn jemand einen fremdscheinenden Vorfall erzählen will, nimmt er ab und setzt hinzu; ja man bildet sich wohl ein, etwas wahrgenommen zu haben, das man doch in dem Augenblick des Erzählens erst erfindet. Dies Letzte entsteht aus dem Eigensinn, vermöge dessen viele Menschen nicht unrecht haben wollen; daher erzählen sie, um nur zu unterstützen, was sie einmal behaup­tet haben, oft mehr, als sie verantworten können Bei Swebenborgs Visionen zum Beispiel scheinen alle vorher erwähnte Umstände zusammengekommen zu sein. Er hatte Lust an Spekulationen und an mystischer Theologie; er hatte ein System, zu dessen Unterstützung er Geister brauchte, und er ging darauf aus, dieses wunderbare System geltend zu machen. Es kann sein, dass er Phantasmen gesehen hat, zumal da er viel studierte und starke Mahlzeiten liebte. Aber er stutzte seine Visionen, worüber er dicke Bücher schrieb, um als ein Wunder­mann zu scheinen, durch Einbildungen auf, wie sein System sie erheischte.

Es ist nicht ganz ungewöhnlich, dass durch irgendein Missverhältnis der körperlichen Kräfte auch ohne Wahnsinn und hitzige Krankheit dem Auge Erscheinungen von außen vorkommen, welche bloß in uns mittelst der Einbildung erzeugt wer­den. Diese Erfahrung kann uns lehren, dass es hart und lieblos sein würde, wenn wir gutmütige Leute, welche glauben, diese oder jene Erscheinungen gesehen zu haben, geradezu für Betrüger halten wollten.

Aber, indem mehrere Erfahrungen zeigen, wie weit die menschliche Einbildungskraft gehen kann, in Vorstellungen von Bildern außer uns: Mögen diese gutmütigen Leute auch ihrerseits lernen, ihren Einbildungen keine Art von Wirklichkeit zuzuschreiben, noch weniger die Wirkungen verstimmter Nerven für Beweise zu haben, dass Geister um uns herum spuken.

Der berühmte Justus Möser glaubte oft, Blumen zu sehen, die nicht da waren; ebenso sieht ein anderer mir gut bekannter Mann zuweilen mathematische Figuren – Zirkellinien, Vierecke etc. – in verschiedenen Farben.

Einige ähnliche Beispiele finden sich im Magazin von Moritz, in Krügers Experimental-Seelenlehre, und in Donnets psychologischen Schriften.

Der Fall, dass jemand Töne hört, ist seltener. Mein verewigter Freund, Moses Mendelssohn, hatte sich im Jahr 1772 durch zu starke Anstrengungen des Geistes eine Krankheit zugezogen, welche auch voll sonderbarer psychologischer Erscheinungen war. Über zwei Jahre lang durfte er gar nichts tun: nicht lesen, über nichts nachdenken, keine laute Stimme hören. Wenn jemand im Geringsten lebhaft mit ihm sprach oder er selbst nur ein wenig lebhaft wurde, so fiel er Abende in eine Art von Schlagfluss, worin er alles sah und hörte, was um ihn vorging, ohne jedoch nur ein Glied bewegen zu können. In diesem Zustand rief ihm dann eine Stimme die mit Nachdruck ausgesprochenen Worte und Silben einzeln wieder zu, sodass ihm die Ohren davon gellten.

Nicht weniger selten ist der Fall, dass jemand menschliche Gestalten zu sehen glaubt. Ein Beispiel davon lieferte ein ehemaliges Mitglied der Akademie, wider dessen Wahrheitsliebe und Glaubwürdigkeit niemand etwas einwenden kann – der verstorbene Gleditsch – der hier im akademischen Saal einst das Phantasma des gewesenen Präsidenten Maupertuis erblickte.

Um durch Darlegung der Beschaffenheit meiner Einbildungskraft diejenigen mich selbst betreffenden Erscheinungen, von welchen hier die Rede ist, in einer minder wunderbaren Ansicht zu zeigen, muss ich ferner bemerken, dass meine sehr lebhafte Einbildungskraft alles leicht in Bilder bringt. Ich habe zum Beispiel eine Menge Pläne zu Romanen und zu Schauspielen in der Idee gemacht, aber von den wenigsten etwas aufgeschrieben, weil es mir weniger um das Ausführen, als um das Erfinden derselben zu tun war. Ich kam auf solche Pläne, wenn ich guten Mutes einsam spazierte oder wenn ich auf Reisen im Wagen saß und mich nur mit mir und meiner Einbildungskraft beschäftigen konnte. Jedes Mal und noch bis jetzt, stehen die verschiedenen Personen, die ich zum Behufe eines solchen Planes mir schaffe, ganz lebhaft und deutlich in mei­ner Einbildung nach ihrer Figur, ihren Gesichtszügen, ihrer Bewegung, Kleidung, Farbe usw. Solange ich aber an einen bestimmten Plan denke und ihn nachher ausführe, bleiben mir, selbst wenn ich darin unterbrochen werde und zu ganz verschiede­nen Zeiten wieder darauf komme, alle die handeln­den Personen immer in eben der Gestalt gegenwär­tig, worin sie sich die Einbildungskraft zuerst schuf.

Ich bin ferner sehr oft in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in welchem sich eine Menge Bilder von aller Art, oft die selt­samsten Gestalten, zeigen, sich ändern und verschwinden. Im Jahre 1778 hatte ich ein Gallenfieber, das zuweilen, doch selten, bis zum Phantasieren stieg. Gegen Abend kam täglich der Fieberan­fall. Wenn ich zu der Zeit die Augen geschlossen hatte, so konnte ich den Anfang der Kälte des Fie­bers, selbst ehe die Empfindung des Frostes bemerkbar wurde, daraus spüren, dass farbige Bilder in weniger als halber Lebensgröße, wie in einen Rahm gefasst, sich mir deutlich zeigten. Es waren Arten von Landschaften, mit Bäumen, Felsen usw. vermischt. Behielt ich die Augen geschlossen, so än­derte sich nach einer Minute immer etwas in dieser Vorstellung, einige Figuren verschwanden und andere erschienen. Öffnete ich aber die Augen, so war alles weg; schloss ich sie wieder, so war eine ganz andere Landschaft da. Gerade das Gegenteil hiervon geschah im Jahre 1791, wo durch Öffnen und Schließen der Augen die erscheinenden Gestalten nicht verändert wurden. Ich habe während der Fieberkälte zuweilen, der Beobachtung wegen, in jeder Sekunde die Augen geöffnet und geschlossen; und jederzeit erschien ein anderes Bild voll mannigfaltiger Gegenstände, welche mit denen die vorher erschienen waren, gar nichts gemein hat­ten. Diese zeigten sich ununterbrochen, solange die Kälte des Fiebers dauerte. Sie wurden schwä­cher, sobald die Hitze anfing, und wenn sie völlig eintrat, waren alle Bilder weg. War der Fieberanfall ganz vorüber, so erschienen auch keine Bilder mehr; sah ich hingegen am folgenden Tag mit geschlossenen Augen wieder Bilder, so konnte ich mit Sicherheit darauf rechnen, dass die Kälte des Fiebers heranrücke.

Noch muss ich anmerken, dass mir mitten im Nachdenken oder emsigen Schreiben, besonders wenn ich mich eine Zeitlang etwas angestrengt habe, ein Gedanke, welcher mit der vorliegenden Arbeit gar nicht zusammenhängt, wenn ich so sagen soll, quer durch den Kopf geht, und nicht selten so lebhaft, dass ich glaube, in mir selbst Worte zu hören.

Diese in mir natürlich vorhandene Lebhaftigkeit macht es etwas begreiflicher, dass mir nach einer heftigen Gemütsbewegung mehrere Wochen lang eine Menge Bilder als Blendwerk vorkommen konnten. Dass sie nach angesetzten Blutegeln auf einmal wegblieben, zeigt deutlich, dass eine unordentliche Bewegung des Blutes mit der Erscheinung dieser Phantasmen verbunden gewesen ist, ob es gleich vielleicht allzu schnell geschlossen sein würde, darin ganz allein die Ursache zu suchen.

Merkwürdig ist vielleicht auch der Umstand, dass sowohl der Anfang der Erscheinungen, nachdem die Gemütsbewegung vorbei war, als auch die Veränderung beim gänzlichen Aufhören gerade auf die Zeit der anfangenden Verdauung trafen. Ebenso sonderbar ist es, dass die Blendwerke, ehe sie ganz wegblieben, die bunten Far­ben verloren und weiß erschienen, und dass sie nicht wie vormals verschwanden oder sich veränderten, sondern nach und nach gleichsam zerflossen.

Härte ich die Phantasmen von den Naturerscheinungen gar nicht unterscheiden können, so wäre ich wahnsinnig gewesen. Wäre ich schwär­merisch und abergläubisch, so würde ich mich vor meinen eigenen Phantasmen entsetzt haben und vermutlich ernsthaft krank geworden sein. Liebte ich das Wunderbare, hätte ich versucht, eine Rolle zu spielen, so hätte ich sagen können: Ich habe Geister gesehen! Und wer hätte es mir abstreiten dürfen? Im Jahre 1791 wäre vielleicht die Zeit gewesen, solche Erscheinungen geltend zu machen. Hier zeigte sich aber der Nutzen einer gesunden Philosophie und einer ruhigen Beobachtung. Nur ihnen verdanke ich es, dass ich weder wahnsinnig noch ein Schwärmer wurde – zwei Gefahren, denen ich bei so sehr gereizten Nerven und bei so flüchtigem Blut allerdings ausgesetzt war. Nun aber sah ich die mir vorschwebenden Blendwerke für das an, was sie waren, für eine Krankheit, und benutzte sie zur fruchtbaren Beobachtung, weil ich diese und die darüber anzustellenden Betrachtungen für den Grund aller vernünftigen Philosophie halte.