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Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer Band 1 – Teil 6

Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer
Nach seinen Tagebüchern bearbeitet von Robert Kraft
Band 1
Kapitel 2, Teil 1

II. Eine japanische Mysterie

Von dem bleigrauen Himmel, welcher an einem Wintermorgen über London hing, fiel ein feiner, kalter Regen herab, aber er vermochte nicht die Tausende und Abertausende von Menschen zu zerstreuen, welche sich in den engen Straßen der City um ein altes, finsteres Gebäude zusammendrängten.

Dieses, von hohen Mauern umringt, schon mehr eine kleine Stadt für sich, ist das sogenannte Newgate, die uralte Hinrichtungsstätte der englischen Hauptstadt.

»Jetzt wird er gehenkt, Keigo Kiyotaki, der freche Japaner, der den alten Loftus Deacon ermordet hat!«

So geht es murmelnd durch die ungeheure Menge, und aller Augen sind starr auf die Flaggenstange gerichtet, welche, in der Mitte des Häuserkomplexes stehend, über den Mauern noch allen sichtbar ist.

Und plötzlich verstummt in der tausendköpfigen Menge auch das Flüstern und Murmeln, es ist, als ob sich der Flügel des stummen Todes auf die ganze Riesenstadt herabsenke – denn jetzt steigt an der Flaggenstange eine kleine, schwarze Fahne empor, und in demselben Augenblicke, da sie die Spitze erreicht hat, ertönt ein durchdringender Glockenton.

Es ist das Armesünderglöcklein, bei dessen zwölftem Tone das Fallbrett unter den Füßen des am Galgen Stehenden weicht. So war es schon vor hundert, vielleicht vor Hunderten von Jahren, so wird es noch heute in England gehandhabt.

Diesmal ist es ein brauner, schlitzäugiger Sohn aus dem Reiche der aufgehenden Sonne, welcher jetzt unter dem Galgen, den Strick um den Hals, mit festgeschnallten Armen auf dem Fallbrett steht. Fern von seiner schönen Heimat, hier in London ist er zum Mörder geworden. Nicht um sich zu bereichern, nicht aus Rachsucht hat er die wohlüberlegte Tat begangen, sondern aus einem für uns Europäer schier unbegreiflichen Grunde, aus Aberglauben, aus treuer Anhänglichkeit an eine ihm heilige Sitte seiner Väter.

Aber die englischen Richter konnten auf die religiösen Ansichten eines heidnischen Volkes im fernen Osten keine Rücksicht nehmen – jetzt läutet das Armesünderglöcklein für diesen jungen, vornehmen Japaner, für den letzten Spross eines edlen Geschlechtes.

»Bim!«, erschallt es zum zweiten Male, und es ist, als ob das Sterbeglöcklein für jeden einzelnen dieser zahllosen Menschen bestimmt sei, so zucken stets alle bei dem durch Mark und Bein gehenden Tone zusammen.

Drei Sekunden liegen zwischen jedem Glockenschlage. Für die atemlos Wartenden erscheinen sie stets eine Ewigkeit.

Tatsächlich, dieses Warten innerhalb der 36 Sekunden auf die 12 Glockenschläge, das muss für den zum Tode Verurteilten die furchtbarste Strafe sein!

Da endlich, endlich zum dritten Male: »Bim!«

Und wieder bricht eine neue Ewigkeit an.

Jetzt, jetzt …aber jetzt muss doch der vierte Schlag kommen …

Nein, immer noch nicht.

Aber jetzt …

Jetzt wird wahrhaftig eine Ewigkeit daraus!

»Es muss doch schon eine halbe Minute vergangen sein?«

»Die Glocke wird nicht funktionieren.«

Dieses Warten auf den vierten Glockenschlag ist so grässlich, dass in der zusammengepressten Menge schon überall Ohnmachtsanfälle vorkommen.

Und da plötzlich schrickt alles tödlich zusammen, denn mit einem Male erfüllt ein gellendes Geheul die Luft, die ganze Hölle scheint entfesselt zu sein, und wirklich sind es kleine Teufel, welche sich rücksichtslos mit den Ellenbogen zwischen den Menschen Bahn zu machen wissen, unter dem einen Arm hat jeder einen großen Pack Papier, in der anderen Hand schwingt er ein einzelnes Blatt Papier, und dabei heult diese kleine Teufelsbande abwechselnd in allen Tonarten: »Worlds Magazine, drei Pence die Nummer! – Keigo Kiyotaki ist unschuldig! – Worlds Magazine, sechs Pence die Nummer! – Der amerikanische Detektiv Nobody hat den wahren Mörder von Loftus Deacon gefasst! – Worlds Magazine, einen Schilling die Nummer!«

Wie? Was? Hört man denn recht? Ist das nicht nur ein Trug der Hölle? Wie soll denn eine schon gedruckte Zeitung, noch dazu diese amerikanische Schwindelzeitung …

»Die weiße Flagge! Die weiße Flagge!«, erschallt da der Ruf, und aller Blicke wenden sich wieder der Flaggenstange zu.

Und da klettert an dieser schnell ein weißes Tuch empor, und wie die Flagge der Unschuld die Spitze erreicht hat, wird die schwarze der Schuld und des Todes herabgerissen – und da brach der Tumult los!

Wollte man sagen, die Nummern dieser amerikanischen Zeitschrift wären wie warme Semmeln abgegangen, so würde das noch gar nichts andeuten. Man balgte sich darum, und glücklich der, welcher für solch ein Blättchen Papier nur einen Schilling zu bezahlen brauchte, der las es und konnte es eine Viertelstunde später für ein Goldstück weiterverkaufen.

Und dabei konnte sich noch kein einziger erklären, wie dieses Blatt, welches doch in New-York erschien und gedruckt wurde, plötzlich hierherkam.

Und die Nummer trug doch das heutige Datum! … und überhaupt, das war ja gerade, als ob dieses Blatt allwissend sei! … hier las man schon klipp und klar, wer der Mörder und dass er festgenommen sei! … und dort oben auf dem Galgenbrett stand noch der wegen dieses Mordes Verurteilte …

Kurz und gut, hier lag ein so großes Rätsel vor, dass sie alle im Augenblick gar kein Rätsel sahen, ungefähr so, wie mancher vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.

Dann, als man darüber nachdachte und die Lösung des Rätsels erfuhr, da brummte mancher John Bull mit neidischer Bewunderung:

»Diese verdammten Yankees! Das war wieder so ein echt amerikanischer Trick! Ja, so etwas können wir ihnen doch nicht nachmachen!«

*

Ehe wir uns hinter die Mauern in das Innere von Newgate versetzen, um zu sehen, weshalb die Hinrichtung unterbrochen wurde, und was sich dort sonst noch zutrug, müssen wir erst den Kriminalfall und seine Vorgeschichte kennenlernen.

Loftus Deacon war schon mit jungen Jahren als Vertreter des väterlichen Geschäftes nach Japan gegangen, er verbrachte fast ein Menschenalter dort. Wohl kam er ab und zu einmal nach England, aber erst nach dem Tode seines Vaters kehrte er, selbst schon vorgerückten Alters, für immer zurück, ließ sich in London nieder.

Das väterliche Geschäft verkaufte er. Er hatte aus dem fernen Osten eine große Sammlung von indischen und japanischen Raritäten mitgebracht, und nun war sein ganzes Leben ausschließlich dem Zwecke gewidmet, diese Sammlung ständig zu vermehren. Er war ein schwerreicher Mann, was am besten daraus erhellt, dass er für solche Antiquitäten im Durchschnitt jährlich 15 000 Pfund Sterling, das sind 300 000 Mark, ausgab.

Loftus Deacon war Junggeselle geblieben. Er bewohnte im Westend ein sehr großes, vierstöckiges Haus, richtiger gleich drei – Bedford Mansions, Nummer 1, 2 und 3, das Gebäude steht noch heute, ist aber jetzt ein Lagerhaus – in diesem hauste er ganz allein mit nur fünf männlichen Dienern.

Er war, wenn nicht ein ängstlicher, so doch ein sehr vorsichtiger und sogar misstrauischer Mensch, und man konnte ihm auch nicht verdenken, wenn er sich gegen einen Einbruch möglichst zu schützen suchte. Denn in seinem Hause waren Millionen angehäuft, und zwar nicht nur an wissenschaftlichem und Liebhaberwert, sondern auch an direktem, an Gold und an Juwelen, nicht zum mindesten auch an kostbarem Porzellan und asiatischen Seidenstoffen. Sämtliche Fenster waren stark vergittert, alle Türen von Eisen oder doch eisenbeschlagen und mit den besten Sicherheitsschlössern versehen, Tag und Nacht musste in der Hausflur ein Portier sitzen.

Deacon allein hatte in der Tasche einen Schlüssel von kompliziertester Konstruktion, welcher von den Korridoren aus sämtliche Türen der Schatzkammern öffnete. Außerdem gab es noch einen zweiten ebensolchen Schlüssel, welcher an einem Orte hing, der nur den Dienern bekannt war, und zwar in einem Glaskasten, und um ihn vom Nagel zu nehmen, musste die Glasscheibe eingeschlagen und eine Plombe entfernt werden.

So ging das ganze Leben des alten Herrn in diesen Raritäten auf. Da gab es immer zu putzen, Staub zu wischen, auszuklopfen und wieder zu ordnen, wobei ihm besonders ein Diener, namens Jensy behilflich war, der Katalog war zu führen, Loftus Deacon hatte auch eine große Korrespondenz mit den Agenten, welche er zum Ankauf von solchen ethnographischen Gegenständen in aller Welt unterhielt.

Gern empfing er Besuch, Gelehrte und Sammler, denen er mit stolzer Freude seine Schätze zeigte und erklärte. Außerdem ging er manchmal auch selbst auf Entdeckungen von Antiquitäten aus, schnüffelte in dem großen London bei den Raritätenhändlern und Trödlern herum und hatte auf diese Weise schon manche Seltenheit billig erstanden.

Auf einer solchen Entdeckungsreise sollte Loftus Deacon etwas finden, was ihn zum glücklichsten Menschen machte und … ihm das Leben kostete.

Im Fenster eines kleinen Trödlerladens sieht er ein altes, unscheinbares Schwert liegen. Der Waffenkenner stutzt sofort, tritt ein, lässt sich das Schwert zeigen, der Trödler schwatzt ihm, der seine Aufregung zu bemeistern weiß, etwas von einer arabischen Klinge vor, sie werden handelseinig, und während der Trödler glaubt, er habe den Mann mit einem wertlosen Stahl angeschmiert, hat Deacon für zwei Goldstücke ein echtes japanisches Katana von dem berühmten Schwertfeger Masamune erstanden!

Hier muss eine Erläuterung eingeschaltet werden, wie sie auch in Nobodys Tagebuch enthalten ist.

Das japanische Volk ist in Kasten eingeteilt. Die erste Kaste wird von den Prinzen gebildet, von den Daimios, die zweite von den Adligen, den Sio-Mios, die dritte von den Samurais, das sind diejenigen, welche aus den ersten beiden Kasten stammen, aber ihr Leben speziell dem Kriegshandwerke gewidmet haben, also die Offiziere.

Von den Mitgliedern der acht existierenden Kasten haben nur die von jenen drei genannten das Recht, jederzeit Waffen tragen zu dürfen, und zwar besteht das Ehrenzeichen in dem großen Schwert links, welches Katana heißt, in einem viel kleineren, dem Wakizashi, rechts.

So wenigstens war es früher, als die japanischen Soldaten noch in langen Schlafröcken und Strohsandalen herumliefen. So ist es aber auch noch heute bei jeder nationalen und religiösen Festlichkeit. Da hat jeder Samurai seine beiden Schwerter im Gürtel stecken.

Samurai heißt wörtlich übersetzt ›Fechter‹, und wenn man den Berichten derer Glauben schenkt, welche das asiatische Inselreich kennen, so müssen die Japaner und speziell die Offiziere ausgezeichnete Fechter sein, sie betreiben den Fechtsport mit Leidenschaft und mit den dazu nötigen Waffen selbst einen wahren Religionskultus, so wie sie ihren alten, berühmten Waffenschmieden eine fast göttliche Verehrung zollen.

Yukiyasu, Monikono, Masamune – das sind die Namen der drei berühmtesten Schwertfeger aus alter Zeit, welche jedes japanische Kind kennt – und unzertrennlich von diesen dreien ist der Kriegsgott Hachiman. Der Inder ist Buddhist, der Tibetaner ist Buddhist, der Japaner ist ebenfalls Buddhist – und schließlich wird doch jeder nach seiner eigenen Fasson selig.

Der Inder hat in den Buddhismus seine alten, brahmanischen Götter mit hinübergenommen, der Tibetaner seine schamanischen, und der Japaner hat noch immer nicht seine ursprüngliche Religion vergessen, den Sinsyn, in welcher Tensis Dai Dsin, Kami und Hachiman die Hauptgötter sind, und wenn diese auch nicht mehr in den buddhistischen Tempeln oder Pagoden stehen, ihre Bildnisse existieren noch, und zwar nicht nur im Herzen des Japaners, und sie werden noch immer verehrt.

Und die alten japanischen Waffenschmiede fertigten nicht nur Schwerter, dazu bestimmt, des Feindes Leben zu nehmen, sondern sie hämmerten in das Schwert selbst eine lebendige Seele hinein.

Wenn das Katana seiner Vollendung nahe ging, so wurde der Amboss vor das riesige Standbild des vierarmigen Kriegsgottes getragen, hier tat der Schmied unter feierlichen Zeremonien seine letzten Schläge, und Hachiman stieß durch Nase und Mund Feuer aus und hatte so dem Schwerte eine lebendige Seele eingeblasen, eng verknüpft mit der seines Besitzers, oder vielmehr mit der der ganzen Generation.

Denn solch ein Schwert vererbt sich natürlich vom Vater auf den Sohn, und eine Veräußerung desselben ist ganz und gar undenkbar, selbst in der tiefsten Armut! Und wehe dem, der solch ein geheiligtes Schwert entwendet! Einem Japaner, welcher weiß, dass er es mit solch einem Katana zu tun hat, fällt so ein Frevel überhaupt gar nicht ein. Aber vielleicht stiehlt er ein Schwert, ohne zu wissen, dass es ein Katana ist. Dann wird ihm das bald klargemacht werden. Das Unglück heftet sich an seine Fersen und schlägt auch seine Familie, und Hachiman flüstert ihm im Traume zu, dass er ein Katana gestohlen hat, und wehe ihm, wenn er es nicht sofort dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringt! Dasselbe gilt auch vom Feinde, der dem im Kampfe gefallenen Samurai die Waffen abgenommen hat. Auch er wird durch Unglück und durch Hachiman zahm gemacht, bis er die Beute den Erben des Getöteten ausliefert – selbst wenn der Mann bisher noch gar nichts von einem Katana, einem Wakizashi und einem Hachiman gehört hat. Der Kriegsgott macht es ihm schon begreiflich, um was es sich handelt, und zur Aufklärung schickt er dem Betreffenden erst sieben Plagen über den Hals.

Hat aber der Samurai durch eigene Unachtsamkeit sein Katana verloren, so muss er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, es wiederzubekommen, das ist er nicht nur sich selbst und seinen Brüdern schuldig, sondern auch vor allen Dingen seinem toten Vater, denn jetzt ist es dieser, welcher dem leichtsinnigen Sohne im Traume die Ohren vollwimmert, das heilige Erbstück wieder herbeizuschaffen.

Und stirbt das männliche Geschlecht einer Samurai-Familie aus, dann stirbt auch das Katana, seine Seele kehrt zu Hachiman zurück, und sein toter Leib, jetzt nur noch eine Stahlklinge wie jede andere, wird dem letzten Besitzer mit ins Grab gelegt.

Dem Mr. Loftus Deacon, der so lange in Japan gewesen, war dies alles natürlich wohlbekannt. Und nun hatte er für so billiges Geld ein echtes Masamune-Schwert erstanden, wie ein solches nur noch in einem einzigen Exemplar in Europa vorhanden war, nämlich im Museum zu Petersburg!

Deacon verkehrte viel mit dem Direktor des britischen Museums, durch diesen kam die Sache zuerst an die Öffentlichkeit – und das war ja auch der heiße Wunsch des alten Mannes, der auf seine Schätze so stolz war – er wurde von Gelehrten und Japankennern besucht, sie alle bestätigten aus einem in der Klinge eingravierten Zeichen, dass es ein echtes Katana des berühmten Schwertfegers Masamune sei, welcher im vierten Jahrhundert nach Christi lebte, andere Raritätensammler gratulierten mit neidischem Herzen dem glücklichen Deacon, jetzt kamen auch Journalisten, und in einer großen Zeitung erschien aus berufener Feder ein langer Artikel, in dem die eben geschilderten, mit Aberglauben gepaarten Waffenverhältnisse der Japaner erläutert und auf die Wichtigkeit des neuen Erwerbs, den der einfache Privatmann für seine Sammlung gemacht, hingewiesen wurde.

So interessierten sich einige Zeit die weitesten Kreise für Loftus Deacon und sein Masamune-Katana, die Sache wurde sensationell. Lange konnte das natürlich nicht anhalten. Aber man bekam doch hin und wieder etwas davon zu hören, die Sache war noch nicht zu Ende, und der alte Einsiedler sorgte immer dafür, dass alles an die Öffentlichkeit kam.

Wie war denn nun der Trödler zu der kostbaren Waffe gekommen, wenn diese von dem Japaner wie sein Augapfel behütet wird? Der alte Mann konnte sich selbst kaum noch darauf besinnen. Das unscheinbare Schwert hatte schon lange Zeit in der Rumpelkammer gelegen, ehe er es für würdig fand, es im Schaufenster auszustellen. Er glaubte nur, es sei ein Matrose gewesen, der ihm einst die alte Klinge zum Kauf angeboten, er hatte ihm drei Schillinge dafür gegeben. Jetzt natürlich, da der Trödler den fast unschätzbaren Wert der Waffe erfuhr, hätte er sich am liebsten alle Haare aus dem Kopfe reißen mögen, denn eine nachträgliche Bezahlung gab es bei Loftus Deacon freilich nicht.

Und was das Katana für einen definitiven Wert besaß, nicht nur in den Augen von europäischen Altertumssammlern, das sollte sich bald zeigen.

Eines Tages erschien bei Deacon ein japanischer Diplomat, welcher sich gerade in London aufhielt. Er besichtigte das Schwert, prüfte das Siegel des Waffenschmieds und einige Eingravierungen in dem bronzenen Griff mit der Lupe.

»Wahrhaftig, es ist das Schwert!«, rief er erstaunt. »Dieses Katana gehört dem hochedlen Fürstengeschlechte der Gotos. Vor etwa zwanzig Jahren verlor es der alte Fürst bei einem Ritt, es wurde nicht wiedergefunden. Der Fürst starb vor Gram. Er hinterließ drei Söhne. Als die beiden ersten erwachsen waren, gingen sie auf die Suche nach dem Heiligtum, ein Orakel wies nach der Mandschurei hin. Beide Prinzen verloren dabei ihr Leben. Jetzt lebt von dem Gotogeschlecht nur Keigo Kiyotaki, der letzte Sohn, welcher in einem Kloster zum Priester erzogen wird.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Deacon trocken.

»Keigo wird sich sehr freuen, dass man das Heiligtum seiner Väter endlich gefunden hat.«

»Ja, ich freue mich auch sehr, dass ich diesen Schatz bei einem Trödler entdeckt habe.«

»Dem letzten Spross des Gotogeschlechtes muss sehr viel an dem Familienschwerte gelegen sein, Sie werden doch bereit sein, es ihm zurückzuerstatten? Natürlich gegen …«

»I, fällt mir ja gar nicht ein!«, rief Deacon von vornherein in heller Entrüstung. »Das Schwert ist rechtmäßig in meinen Besitz gekommen, und damit basta!«

Der schon ältliche Sohn des Reiches der aufgehenden Sonne empfahl sich mit japanischer Höflichkeit.

Kaum zwei Monate waren verflossen, als er schon wieder da war.

»Ich komme als Stellvertreter des Keigo Kiyotaki, hier meine Vollmacht.«

Damit präsentierte er ein japanisches Schreiben mit vielen Siegeln, kurios genug aussehend.

»Das ist sehr interessant, das möchte ich Ihnen für meine Sammlung abkaufen.«

»Keigo Kiyotaki bietet Ihnen für Zurückgabe seines Schwertes 1000 Pfund Sterling.«

»Das ist nicht sein Schwert, sondern mein Schwert, und ich verkaufe es nicht.«

»2000 Pfund – – 5000 Pfund – – 10 000 Pfund …«

»Nicht für eine Million Pfund Sterling.«

»Wieviel verlangen Sie sonst?«, fragte der alte Japaner kaltblütig.

»Es ist mir nicht feil, nicht für alle Schätze der Welt!«, rief der leidenschaftliche Sammler.

»Ich empfehle mich Ihrem geneigten Wohlwollen«, sagte der japanische Diplomat und entfernte sich.

Dies alles kam immer in die Zeitungen, dafür sorgte schon der auf sein Katana stolze Loftus Deacon. Dass der Japaner bereit gewesen wäre, für die alte Klinge noch mehr als eine Million Pfund Sterling, das sind zwanzig Millionen Mark, zu bieten, das fand man etwas gar zu sehr übertrieben.

Diesmal verging ein Vierteljahr, bis eines Tages an dem großen Hause ein junger Gentleman im tadellosen Gehrockanzuge die Klingel zog.

Dem jungen Mann konnte man kaum ansehen, dass er ein Japaner war, er hatte wenig Ähnlichkeit mit den sonst so charakteristischen Gestalten. Er hatte nicht solch kurze Beine und einen plumpen Oberkörper, sondern war von vollendetem Ebenmaß, und man musste ihm schon scharf in die nur leicht gebräunten, hübschen, tiefernsten Züge blicken, um dann den malaiisch-japanischen Typus zu erkennen. Derjenige aber, welcher sich lange Zeit in Japan aufgehalten und in den höchsten Kreisen verkehrt hatte, erkannte sofort, mit wem er es hier zu tun hatte: mit einem Samurai aus der ersten Kaste, den man sonst freilich nicht in Europa auf der Straße herumlaufen sieht.

Der alte Jensy öffnete.

»Ist Mr. Deacon zu sprechen? Bitte, hier ist meine Karte, hier ein Empfehlungsschreiben der japanischen Gesandtschaft.«

Er sprach ein perfektes Englisch, der leise Anflug eines fremdländischen Akzentes war kaum zu merken.

Deacon empfing ihn.

»Keigo Kiyotaki ist mein Name.«

»Sehr angenehm. Nicht wahr, Ihr Titel ist … Mylord … oder Durchlaucht?«

»Mein einfacher Name ist Kiyotaki. Ich bin zum geistlichen Stand bestimmt und habe mit dem Austritt aus meiner Kaste alle früheren Titel abgelegt. Ich komme direkt von Tokio … Sie wissen, weshalb.«

»Ja, mein lieber Herr, ist Ihnen aber nicht schon deutlich gesagt worden, dass mir das Katana um keinen Preis feil ist? Sie haben die weite Reise umsonst gemacht.«

»Mr. Deacon«, fängt jetzt der junge, sympathische Mann in bittendem Tone an, »es ist ein uraltes Erbstück meiner Familie, es ist das Heiligste, was ich besitze, ich kann ohne dieses Schwert nicht leben.«

»Ich will Ihnen gern das Schwert nochmals abkaufen, nennen Sie eine Summe, aber aus meiner Sammlung kommt ein Katana des Schwertfegers Masamune nicht.«

»Mr. Deacon, was frage ich nach Geld? Ich bin ein bedürfnisloser Mönch, der das Gelübde der Armut abgelegt hat. Das Schwert meiner Väter muss ich unbedingt haben.«

»Aber wenn Sie ein Priester und aus der Kaste der Samurais getreten sind, so brauchen Sie doch keine Waffe, können Sie doch gar keine mehr tragen, es hat für Sie doch gar keinen Wert mehr.«

»Nicht für mich, aber für meinen Vater. Ich als sein letzter Sohn, der einst kinderlos sterben wird, habe die heilige Verpflichtung, ihm sein Katana, nachdem dasselbe einmal wiedergefunden worden ist, in sein Grab zu legen.«

»Bei mir liegt es genauso sicher, wie in Ihres Vaters Grab«, entgegnete der alte, reiche Junggeselle, der niemandem Rücksichten schuldig ist.

»Mr. Deacon«, fuhr der junge Japaner mit melodischer Stimme fort, und plötzlich treten ihm die Tränen in die Augen, »die Engländer haben ihre Religion, und wir Japaner haben unsere Religion. Und ich kann nicht an etwas anderes glauben, als was meine heilige Überzeugung ist. Seit zwanzig Jahren muss mein armer Vater wandern den dunklen Pfad des Todes, und er kann den Gotoberg des Himmels nicht erreichen, weil ihm sein Katana fehlt, und seitdem ich weiß, wo sich sein Katana befindet, kommt mein armer Vater jede Nacht zu mir im Traume und weint mir in den Ohren. – Mr Deacon, auch Sie haben einen Vater gehabt – ich bitte Sie!«

Der junge, gebildete Japaner wusste in einer Weise zu sprechen, nun noch dazu in einem Tone – schriftlich lässt sich das nicht wiedergeben – dass es einen Stein erweicht hätte, nur nicht den alten Raritätensammler.

Und immer noch einmal versuchte es der gehorsame Sohn, jetzt aber begann er geheimnisvoll zu flüstern: »Noch habe ich nicht die Priesterweihe empfangen, noch gehört mir, was ich besitze, und ich bin der Erbe einer ganzen Reihe von Geschlechtern, und die Gotos zählten sämtlich zu den reichsten Fürsten von Dai Nipon, und … haben Sie, der Sie so lange in Japan gewesen sind, schon von dem Goto-Schatze gehört?«

Mochte Deacon schon von dem fabelhaften Goto-Schatze, der von einem Drachen behütet wird, übrigens ganz unserem Nibelungenhorte entsprechend, gehört haben oder nicht – ihn ließen alle Schatze kalt, sein Masamune-Schwert war ihm lieber.

Schließlich aber verließ auch den Japaner die Geduld, er stand auf, um kurzerhand zu gehen, und er war ein ganz anderer, als er mit drohender Stimme und blitzenden Augen rief: » Well! Die Engländer haben ihre Religion, und wir Japaner haben unsere Religion. Das Katana gehört in das Grab seines letzten Besitzers, es ist zu den Füßen Hachimans geschmiedet worden, und wenn Sie das Katana mir nicht geben wollen, so wird der schreckliche Hachiman selbst kommen, um es von Ihnen zu fordern, und dann … wehe Ihnen!«

Damit ging Keigo Kiyotaki, um nicht wieder zurückzukehren. Der arme Kerl hatte die weite Reise umsonst gemacht.

Auch dieses Gespräch kam in die Zeitungen und wurde vom Publikum besprochen, überdies waren Jensy und noch ein anderer Diener Zeuge desselben geworden.

Wieder verging ungefähr ein Vierteljahr.

Da erfuhr Loftus Deacon von einem seiner nach Raritäten spähenden Agenten, in einem Lagerhause, gar nicht weit von der Bedfordstreet, stünde ein japanischer Götze, er sei schon vor einigen Tagen von einem aus Rangun kommenden Schiffe dort ausgeladen worden, er gehöre einem Franzosen Delcassé, der ebenfalls mit diesem Schiffe gekommen sei, aber dieser Herr sei verschwunden und lasse nichts mehr von sich hören. Man sage, es sei der vierarmige Kriegsgott Hachiman.

Loftus Deacon ging sofort hin. Das Lagerhaus des Expeditionsgeschäftes Costenoble war ihm sogar sehr gut bekannt, diese Firma besorgte immer seine überseeischen Transporte, er hatte oft große und kleine Gegenstände dort abholen lassen. (Dies ist für später von Wichtigkeit!)

Richtig, da saß der schreckliche Hachiman, genauso, wie er noch heute im japanischen Saale des britischen Museums zu London zu sehen ist, und zwar ist es genau dieselbe Figur, welche in unserer Erzählung die Hauptrolle spielt.

Der ganz aus Bronze gegossene Götze, in zweifach menschlicher Größe ausgeführt, also eine Kolossalstatue, hockt mit untergeschlagenen Beinen auf einem meterhohen, ehernen Gestelle. Dass wir es mit einem Kriegsgott zu tun haben, erkennen wir mehr aus der Bekleidung – aber auch diese ist aus Bronze gegossen – und aus seinen Attributen als aus seinen Gesichtszügen. Denn der japanische Gott der Schlachten schaut gar nicht so furchtbar drein, im Gegenteil, sein schnurrbärtiges Gesicht mit den Schlitzaugen hat einen recht gemütlichen Ausdruck, er schmunzelt sogar recht vergnügt, und es fehlte nur noch, dass er sich vor Lachen den dicken Bauch hält. Aber er ist vom Kopf bis zu den Füßen in einen Panzer gehüllt, und in der einen seiner vier Hände, was sehr an die indischen Gottheiten erinnert, hält er aufrecht ein mächtiges Schwert, in der zweiten eine Keule, in der dritten eine Schlange, in der vierten eine kleine menschliche Figur. Alles ist aus einem Guss, nur das Schwert ist eine wirkliche Stahlklinge, in die eherne Faust eingeschraubt oder eingenietet.

Genauso saß er auch damals in einer Ecke des Lagerschuppens von Costenoble auf seinem Postament und schmunzelte mit etwas geöffnetem Munde den Besucher vergnügt an.

Während der Reise war er in Kokosmatten eingehüllt gewesen, diese waren jetzt abgefallen, nur das Schwert war noch mit einem öligen Lappen umwickelt. Der Franzose hatte die Figur hier untergestellt, sie solle hier stehen bleiben, bis er wiederkomme und sie abhole.

Mr. Deacon zitterte vor Aufregung. Wer war dieser Monsieur Delcassé? Wo befand er sich jetzt? War er ein Sammler? Oder wollte er die Figur verkaufen? An wen? War er jetzt schon in Paris, um sie dem dortigen Museum anzubieten?

Wir wollen es kurz machen, obgleich fast vier Wochen vergingen, ehe Deacon, der sich unterdessen vor Spannung und Angst fast verzehrte, den Franzosen endlich gefunden hatte. Der Mann hatte es nicht eilig gehabt, war verreist gewesen, und über seinen Götzen hatte er auch noch nicht disponiert. Ja, er wollte ihn verkaufen, und Deacon erstand ihn gegen eine enorme Summe. Einen Konkurrenten hätte der reiche Kauz, der für den japanischen Kriegsgott sein halbes Vermögen zu opfern bereit war, auch nur in dem britischen Museum gehabt, aber dieses brauchte er nicht zu fürchten, er hatte dem Museum nach seinem Tode sowieso alle seine Sammlungen vermacht.

Der überglückliche Deacon traf Vorbereitungen, den kostbaren Erwerb in seine Wohnung überzuführen.

War das nicht ein merkwürdiger Zufall? Oder war das nicht bloß ein Zufall? War das nicht vielleicht etwas von … einer höheren Fügung? Wie hatte Keigo Kiyotaki damals drohend gerufen?

»Und wenn Sie das Katana mir nicht geben wollen, so wird der schreckliche Hachiman selbst kommen, um es von Ihnen zu fordern, und dann … wehe Ihnen!«

Wahrhaftig, da kam ja der Hachiman, kam in Deacons eigenes Haus!

Die in London weilenden Japaner wurden mit geheimnisvollen Fragen gequält, wie sie darüber dächten, ob wohl wirklich etwas daran sein könne usw.

Es muss bemerkt werden, dass nämlich der sonst so praktische und nüchterne Engländer, selbst der aus den gebildetsten Kreisen, überaus abergläubisch ist, was sich am besten daraus erkennen lässt, dass gerade in England der Spiritismus die üppigsten Blüten treibt, nicht minder in Amerika unter den noch nüchternen Yankees. Extreme berühren sich eben.

Aber seltsam, es war geradezu, als ob sich die kleinen braunen Burschen mit Keigo Kiyotaki verabredet hätten, denn sie gebrauchten genau dieselbe Redensart, welche jener schon zweimal angewendet hatte, nur dass sie noch etwas hinzusetzten. Sie sagten nämlich nichts weiter als: »Well, die Engländer haben ihre Religion, und wir Japaner haben unsere Religion – und es ist nicht gut, über Religion zu sprechen.«

Wenn man aber die überaus zurückhaltenden Japaner kennt, so findet man dabei gar nichts Merkwürdiges.

Und Loftus Deacon? Mochte dieser über den Zufall denken, wie er wollte, jedenfalls war er über Aberglauben erhaben.

Die Bronzefigur, welche sechs Zentner wog, wurde auf einen Frachtwagen geladen und nach Deacons Hause transportiert, wo schon im Parterre ein Ehrenzimmer für Hachiman eingerichtet worden war. Noch während der Kriegsgott am bezeichneten Platze aufgestellt wurde, ließ Deacon vor der Figur ein Tischchen zu einem Altar drapieren, auf welchem fortan das Katana liegen sollte, also zu Füßen dessen, der dem Schwerte eine unsterbliche Seele eingehaucht hatte.

Es war spät abends geworden, und zwar an einem Wintertage, ehe alles fertig war und die vielen Leute, welche heute die unteren Räume des sonst so einsamen Hauses belebt hatten, entlassen wurden.

Die letzte Stunde verbrachte Deacon in seinem neuesten Heiligtume, sich am Anblicke seines Götzen meidend, immer noch an dem Altar mit dem Schwerte drapierend, bis er als englischer Hausvater Punkt zehn Uhr der Dienerschaft den Befehl gab, schlafen zu gehen. Er selbst zog sich in sein Kabinett zurück.

*

Die tiefste Stille herrschte in dem geräumigen Hause. Nur unten im Portal brannte noch Licht, und Jensy hatte die erste Wache. Lesend saß er in der kleinen Portiersloge.

Doch bald überwältigte den alten Mann ein tiefer Schlaf.

Es war gegen Mitternacht, als Jensy tödlich erschrocken emporfuhr. Ein gellender Schrei hatte sein Ohr getroffen, und gleich darauf erscholl es wie ein dumpfer Fall. Es war unverkennbar Mr. Deacons Stimme gewesen. Dessen Schlafkabinett lag im ersten Stock, der Schrei aber konnte nur im Parterre ausgestoßen worden sein, und nun brachte es auch noch der Gedankengang und die ganze Stimmung mit sich, dass Jensy sofort an das neue japanische Zimmer mit dem Kriegsgott dachte, dass er sofort, wenn auch mit gesträubtem Haar, nach dieser Tür sprang und daran pochte.

»Mr. Deacon, waren Sie das?«

Keine Antwort. Wohl aber vernahm Jensy jetzt ein Röcheln und Stöhnen.

Jetzt fing Jensy zu schreien an, um die anderen Diener herbeizurufen, eilte dorthin, wo der zweite Schlüssel hing, zerschlug mit dem Holzhammer die Scheibe, zerriss die Plombe, und wie er mit dem Schlüssel zurückrannte, kamen auch schon die anderen Diener herbeigestürzt.

Die Tür wurde geöffnet, das Zimmer wurde durch eine auf einem Tischchen stehende Lampe erleuchtet – und da saß der lachende Kriegsgott auf seinem Postament, über und über mit Blut bespritzt, das Schwert in seiner Faust ebenfalls von Blut triefend – und zu seinen Füßen lag der mit einem Schlafrock bekleidete Loftus Deacon in einer großen, rauchenden Blutlache.

Man kann sich denken, wie es den Dienern bei diesem Anblicke zumute war! Bewundernswert ist es, dass sie alle Gespenster- oder Götzenfurcht vergaßen und, ohne sich um Hachimans blutiges Schwert zu kümmern, sofort ihrem Herrn zu Hilfe sprangen, allerdings, um ihn zuerst aus der gefährlichen Nähe dieses japanischen Kriegsgottes zu bringen.

Loftus Deacon lebte noch, aber er lag im Sterben. Sein Kopf wies eine klaffende Wunde auf, ein zweiter Schwerthieb hatte den Hals getroffen, ihm eine Arterie durchschlagen. Waren die Wunden an sich nicht tödlich, so musste er sich doch verbluten, hier gab es keine Rettung mehr.

Noch einmal kamen röchelnde Laute über seine Lippen.

»Hachiman – Hachiman hat mich ermordet!«

Es waren seine letzten Worte gewesen. Der alte Mann war tot. Und dort saß der japanische Kriegsgott mit blutigem Panzer und blutigem Schwerte und lachte.

Die Polizei wurde gerufen, den ersten Konstablern folgten schnell Kriminalbeamte und Detektivs.

Noch stand alles unter dem ersten Eindruck des Geschehenen. Niemand wusste, was hier eigentlich vorlag, wo die Untersuchung zu beginnen sei, als Jensy einen Schrei ausstieß und mit der Hand auf das vor dem Kriegsgott stehende Tischchen deutete: »Das Masamune-Schwert ist weg!«

*

Wir geben kurz wieder, was am anderen Morgen die Zeitungen über diesen mysteriösen Fall berichteten, wie die Untersuchungsbeamten noch in derselben Nacht gearbeitet hatten.

Man muss den englischen Beamten die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass sie sich durch keinen japanischen Götzenaberglauben beirren ließen, sondern dass sie als nüchtern denkende Menschen zunächst nach einem lebendigen, einem menschlichen Mörder suchten.

Hier aber scheiterten alle aufklärenden Bemühungen. Die Untersuchung ergab, dass alle Fenster innen verriegelt waren, ebenso war ausgeschlossen, dass der Mörder inzwischen aus der Haustür entwischt sein könnte, also musste er sich noch im Hause befinden.

Alle Räume wurden durchsucht, jeder Winkel, alles wurde umgekehrt, allein kein fremder Mensch war zu finden.

Ein Verdacht gegen einen der fünf Diener kam gar nicht auf.

Jetzt musste man seine Aufmerksamkeit wieder dem ehernen Kriegsgott zuwenden.

Wie hatte der Ermordete gelegen, bevor die Diener ihn von dieser Stelle trugen?

Gerade unter dem Schwert – ja, so, wie es die Diener beschrieben, hatte er von dem Schwerte des Götzen an Kopf und Hals getroffen werden können.

Gerichtsärzte und andere anatomische Sachverständige waren zur Stelle, wie z. B. auch Deacons Hausarzt, und aller Urteil lautete dahin: Jawohl, das Schwert, welches der Kriegsgott in seiner Faust hielt, passt in die Wunden des Ermordeten, die Wunden können mit demselben geschlagen sein.

Jetzt folgt der dritte Teil der Untersuchung:

Ist dieses Schwert in der Faust dieses Götzen beweglich? Nein, es ist eingenietet, es lässt sich nicht bewegen, so wenig wie der ganze Arm, so wenig wie irgendetwas an dem ehernen Götzen, alles ist aus einem einzigen Guss.

Trotzdem, wenn das Schwert zugeschlagen haben soll, dann muss es auch beweglich sein. Da ist einfach ein geheimnisvoller Mechanismus in dem hohlen Leibe des Götzen vorhanden.

Die Detektivs machten sich gleich an die Untersuchung, wozu die Figur dann von dem Postament herabgehoben wurde, sie tasteten, und klopften und drückten an dem Götzen herum, es kamen auch Ingenieure, darunter ein ganz ingeniöser, dieser tastete und klopfte und drückte gleichfalls an dem grinsenden Hachiman herum, allein der verriet nicht, was er in seinem Innern barg, da wollte kein geheimes Türchen aufspringen, noch sonst etwas Außergewöhnliches passieren.

Alles war eben aus einem Guss und unverrückbar, nur der Mund etwas geöffnet, etwa so weit, dass man einen Finger hineinzwängen konnte. Man versuchte hineinzuleuchten – es war absolut nichts zu sehen.

Dann müsste morgen der Götze angebohrt, ein Stück aus seinem Leibe geschnitten werden, um in das Innere blicken zu können, wozu man aber erst noch eine besondere Erlaubnis brauchte. Denn der Direktor des britischen Museums war auch schon herbeigeeilt und erklärte den Götzen wie die ganze Sammlung als unverletzliches Eigentum dieses Staatsinstitutes.

So begnügte man sich vorläufig, auf Hachimans feixendes Maul ein großes Amtssiegel zu klatschen.

Jetzt folgte die Kalkulation des Untersuchungsrichters mit logischen Schlussfolgerungen:

Gegen zehn Uhr war Loftus Deacon in sein in der ersten Etage gelegenes Schlafzimmer gegangen und hatte sich tatsächlich ins Bett gelegt, wie der Zustand desselben ergab. Er hatte vor Erregung nicht schlafen können, musste erst noch einmal dem kostbaren Götzen einen Besuch abstatten. Gegen zwölf Uhr stand er wieder auf, zündete eine Lampe an, bekleidete sich mit einem Schlafrock und begab sich noch einmal hinab. Welchen Weg er dabei genommen, konnte man nicht bestimmen, das war auch ganz gleichgültig.

Er betrat das Zimmer des Götzen, setzte die brennende Lampe dort auf den Tisch, ging an die Figur, tastete an ihr herum, mochte sie liebkosend streicheln, wie es der alte Sonderling auch mit seinen anderen Raritäten tat – plötzlich löste sich unter seinen Händen ein Mechanismus aus, er hatte zufällig auf eine verborgene, bis jetzt noch nicht entdeckte Feder gedrückt, das Schwert der Figur sauste zweimal auf ihn herab, der eine Hieb traf den Kopf des Stehenden, der zweite den Hals des Fallenden. Dann hatte der Mechanismus ausgewirkt, das Schwert oder der Arm war wieder unbeweglich.

So war es gewesen, Loftus Deacon hatte es ja überhaupt selbst gesagt: »Hachiman … Hachiman hat mich ermordet!«

Ja, zum Teufel – hieß es aber jetzt – wo ist denn nun das Katana hin?!

Jensy und noch ein anderer Diener sagten aus, dass sie das Schwert kurz vor zehn Uhr durch die offene Tür auf dem neu hergerichteten Altar zu Füßen des Gottes hatten liegen sehen.

Es konnte ja sein, Deacon hatte es beim Fortgehen mitgenommen. Aber dann müsste es doch irgendwo im Hause sein. Und nun herrschte hier eine so peinliche Ordnung, der kleinste Gegenstand war nach dem Katalog so genau nummeriert, und die Diener waren überall so vertraut, dass dieses Schwert, wenn es sich wirklich noch in dem Hause befunden hätte, trotz aller Geräumigkeit des Gebäudes sofort gefunden worden wäre.

Kurz, für diejenigen, welche alle Gewohnheiten Deacons und die ganze Einrichtung dieses Hauses kannten, war das spurlose Verschwinden des Katana ein viel geheimnisvolleres Rätsel als der vermutliche Mechanismus des ehernen Götzen!

Fortsetzung folgt …

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