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Buffalo Bill Der letzte große Kundschafter – 9. Kapitel

Buffalo Bill
Der letzte große Kundschafter
Ein Lebensbild des Obersten William F. Cody, erzählt von seiner Schwester Helen Cody Wetmore
Meidingers Jugendschriften Verlag, Berlin 1902

Neuntes Kapitel

Will als Pony-Expressreiter

Nachdem Will nun bald drei Monate lang täglich dreimal im Sattel gesessen hatte, und zwar mit der Verpflichtung, fünfzehn Meilen in der Stunde zurückzulegen, fühlte er sich recht müde und zerschlagen, doch war er fest entschlossen, die Sache weiterzuführen. Neben der Anstrengung des Rittes musste ein Pony-Expressreiter stets auf tausend Gefahren gefasst sein. War es doch bei einer Reise durch dieses wilde Land wahrscheinlicher, sich gegen Räuberbanden und Indianer wehren zu müssen, als unbehelligt seines Weges ziehen zu können. Da man wusste, dass häufig Geldsendungen durch die Ponyreiter befördert wurden, so war der Pfad oft auch noch durch Diebe unsicher gemacht.

Will beobachtete unaufhörlich die schärfste Wachsamkeit, und so waren nun schon drei Monate seit Beginn seiner täglichen Eilritte vergangen, ohne dass ihm ein besonderes Abenteuer begegnet wäre. Da eines Tages, als er in einem engen Hohlweg um eine Ecke jagte, bemerkte er eine aus nächster Nähe auf ihn gerichtete Riesenpistole in der Faust eines Mannes, der es offenbar auf ihn abgesehen hatte, und dessen Zuruf lautete: »Halt, hebe deine Hände in die Höhe!«

Nur äußerst widerwillig folgte Will dieser Aufforderung, worauf der Straßenräuber in nicht gerade unfreundlichem Ton fortfuhr: »Geschehen soll dir nichts, aber deinen Beutel will ich haben.«

Mehrere Geldbriefe befanden sich in der Posttasche, Will war aber entschlossen, sie, wenn irgend möglich, zu retten. Kaum hatte der Schurke die Beute berührt, so gab Will dem Pferd die Sporen. Der Erfolg war über Erwarten glänzend, denn das Pferd hatte den Räuber beim Ausschlagen nicht nur zu Boden geworfen, sondern ihm auch mit dem Huf einen heftigen Schlag versetzt. Als Will, ein Pistolenduell erwartend, sich umwandte, sah er den Gegner betäubt und am Kopf blutend auf dem Boden liegen. Er entwaffnete ihn, fesselte ihm die Hände auf dem Rücken und verband ihm den verwundeten Kopf. Da anzunehmen war, dass der Gefangene ein Pferd in der Nähe verborgen hielt, so suchte Will danach und fand es auch sofort. Als er dann mit dem Tier zurückkam, hatte dessen Eigentümer die Augen geöffnet und die Besinnung halbwegs wiedererlangt. Will half ihm aufsteigen und band ihn – natürlich aus reiner Menschenfreundlichkeit – fest, dann setzte er sich auf sein eigenes Pferd und zog die traurige Kampftrophäe neben sich her.

Zum ersten Mal langte Will an diesem Tage mit Verspätung an. Als er Chrisman jedoch den verwundeten, niedergeschlagenen, auf den Rücken des Pferdes festgebundenen Mann als lebendige Entschuldigung vorstellte, setzte Chrisman lächelnd dieses Ereignis auf Wills Konto.

Wenige Tage später erhielt Will einen Brief von Julia, worin sie ihm von einer bedenklichen Erkrankung der Mutter Mitteilung machte und ihn bat, nach Hause zu kommen. Sofort ging er zu Chrisman und suchte unter Anführung des Grundes um seine Entlassung nach.

»Die Krankheit deiner Mutter tut mir zwar sehr leid«, lautete die Antwort, »doch bin ich froh, dass du dadurch veranlasst wirst, diesen Beruf zu verlassen. Er reibt dich auf, Billy, und doch bist du zu stolz, ihn ohne triftigen Grund aufzugeben.«

Als Will zu Hause ankam, fand er die Mutter bereits auf dem Wege der Besserung. Gerne verbrachte er die drei folgenden Wochen in behaglichem Nichtstun am heimatlichen Herd, dann aber trieb ihn sein unruhiger Geist von Neuem in die Ferne. Diesmal jedoch schloss er sich einem jungen Freund namens David Phillips an und bereitete sich mit ihm im November 1860 zu einer zweiten Pelzjagd vor.

Sie kauften ein Ochsengespann und einen Wagen zur Unterbringung der Felle, der Zelte und Lebensmittel und nahmen außer mehreren Flinten einen großen Vorrat von Munition mit. Ihr Ziel war der Republican River. Wohl lag dieser Fluss mehr als hundert Meilen von Leawenworth entfernt, doch sollte jene Gegend sehr reich an Bibern sein. Will machte den Kundschafter auf dieser Reise, indem er vorausging, um Pfade und passende Lagerplätze ausfindig zu machen. Die Aussagen über den dortigen Biberreichtum erwiesen sich als richtig, denn dieses Wild war in der Tat in solchem Überfluss vorhanden, dass die beiden beschlossen, ein ständiges Quartier in der Nähe des Flusses zu errichten und den Winter dort zuzubringen.

Dazu wählten sie eine am Abhang eines Hügels gelegene Höhlung und erweiterten sie zu anständiger Zimmergröße. Der Boden wurde mit Holzblöcken ausgelegt, ein Kamin aus Steinen verfertigt, dessen unterer, offener Teil zugleich als Kochherd und Ofen dienen musste. Im Hintergrund schlugen sie das Bett auf, während der Wagen den Eingang versperrte. Für die Ochsen errichteten sie einen Präriepferch, dessen eine Seite sie mit Zweigen durchflochten. Als alles fertig war, konnten sie sich mit Vergnügen sagen, dass ihr Winterquartier im Ganzen genommen nun recht angenehm und behaglich sei.

Die beiden jungen Leute hatten bisher noch keinen Indianer zu Gesicht bekommen und hofften auch, in dieser Gegend auf keinen zu stoßen, doch waren sie zu erfahrene Präriekenner, um in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Dagegen gab es hier andere Feinde, wie sie gleich in der ersten, im neuen Zufluchtsort verbrachten Nacht entdeckten. Sie wurden plötzlich durch einen furchtbaren Lärm im Ochsenpferch geweckt, und als sie mit ihren Flinten hinauseilten, fanden sie einen Riesenbären darin, der es entschieden auf einen Ochsenschmaus abgesehen hatte. Die Ochsen brüllten in Todesangst, und während der eine wie verrückt innerhalb der Einfriedigung umherraste, war der andere bereits so schwer verletzt, dass er nicht mehr aufstehen konnte.

Phillips, der voranging, feuerte zuerst, allein sein Schuss verwundete nur den Bären, ohne ihn zu töten, worauf sich das durch den Schmerz noch wütender gewordene Ungetüm auf Phillips stürzte. Er wich zurück, sein Fuß glitt auf einem Stück Eis aus, und mit einem dumpfen Schlag fiel er zu Boden.

Allein hinter ihm befand sich ein kaltblütiger Jüngling mit einer sicheren Hand. Eine Kugel aus Wills Flinte flog in den weit aufgerissenen Rachen des heranstürzenden Bären und durchdrang das Gehirn. Leblos fiel die gewaltige Fleischmasse beinahe quer über Phillips Körper. Mit einem Schrei der Erleichterung sprang Dave auf und ergriff Wills Hände.

»Diesmal hast du mir das Leben gerettet, alter Junge«, rief er. »Vielleicht ist es mir vergönnt, einmal für dich dasselbe zu tun.«

»Das ist der erste Bär, den ich erlegt habe«, sagte Will, den dieses Thema mehr fesselte als der von Dave ausgesprochene Dank. Da sich die Wunde des einen Ochsen als tödlich erwies, so wurde seinen Schmerzen durch eine Kugel ein rasches Ende gemacht. Dann übte sich Will zum ersten Mal in der schönen Kunst, einem Bären das Fell abzuziehen.

Schon vierzehn Tage später wurde Dave Gelegenheit geboten, seine Rechnung mit Will auszugleichen. Sie waren auf der Verfolgung mehrerer Elentiere begriffen, als Will plötzlich hinstürzte und nicht imstande war, wieder aufzustehen.

»Ich glaube, ich habe das Bein gebrochen«, sagte er, während Dave ihm zu Hilfe eilte.

Phillips war früher Student der Medizin gewesen und untersuchte das Bein mit berufsmäßigem Blick. »Du hast recht, Billy, das Bein ist gebrochen«, verkündigte er.

Rasch verfertigte er ein Paar provisorische Schienen, band das Bein fest, lud Will auf seinen Rücken und trug ihn in die Höhle. Dort wurde dann vermittels sorgfältig gefertigter Schienen ein fester Verband angelegt.

Die sich Will darbietenden Aussichten waren nichts weniger als erfreulich, mit so viel Humor er die Sache auch aufzufassen versuchte. Die Nacht in einem elenden Erdloch verbringen zu müssen, wenn man nach fröhlichem Tagewerk in kräftiger Luft ermüdet aufs Lager sinkt, ist nicht allzu schlimm. Aber bei strenger Winterkälte dort eingesperrt liegen zu müssen, war eine trostlose Aussicht.

Während Dave ein paar Krücken für Will zurechtzimmerte, überlegte er sich voll Sorge, was nun zu tun sei.

»Weißt du, was ich für das Beste halte?«, fragte er schließlich. »Die nächste Ansiedlung ist hundert Meilen entfernt. In zwanzig Tagen kann ich von dort wieder zurück sein. Wie wäre es, wenn ich den Marsch unternähme, ein Ochsengespann für unseren Wagen kaufte und dann zu dir zurückkehrte?«

Der Gedanke, in nahezu hilflosem Zustand allein gelassen zu werden, erfüllte Wills Herz mit Schrecken. Da aber nicht wohl etwas anderes zu tun übrig blieb, so willigte er endlich ein. Dave brachte nun die Höhle in schönste Ordnung, stapelte Holzvorräte auf, kochte eine bestimmte Menge Nahrungsmittel, stellte sie so auf, dass Will sie ohne aufzustehen erreichen konnte, und holte Wasservorräte für mehrere Tage herbei. Die Mutter, der Wills Schulbildung stets am Herzen lag, hatte einige Lehrbücher in den Wagen gepackt, die Dave nun neben die Mundvorräte legte. Als sich dann Phillips endlich auf den Weg machte, ließ er einen recht traurigen, heimwehkranken Jungen in der Höhle zurück.

Am ersten Tag seiner Gefangenschaft war Will weder zum Essen noch Lesen aufgelegt. Nachdem er sich jedoch etwas an die Einsamkeit gewöhnt hatte, wurden ihm die Bücher zu lieben Gesellschaftern. Es ist sehr möglich, dass er in seinem ganzen Leben nicht mehr mit so viel Nutzen studierte, wie während dieser kurzen Zeit, die er ans einsame Lager gefesselt war. So wurden ihm die langsam dahinschleichenden Stunden wenigstens erträglich. Er wusste, dass Dave vor zwanzig Tagen nicht zurückkehren konnte, und keinen Abend versäumte er es, einen Kerbschnitt in einen Stock zu machen, der das träge Dahinschwinden eines Tages bezeichnete. Nach Verlauf einer Woche konnte er, auf seine Krücken gestützt, ein wenig herumhumpeln, was ihm doch ein gewisses Gefühl der Sicherheit gab.

So verflossen zwei Wochen. Eines Tages war er, ermüdet vom Studium, über seinen Büchern eingeschlafen. Plötzlich fühlte er, wie ihm jemand die Schulter berührte, und als er aufschaute, sah er einen Indianer in vollem Kriegsschmuck, mit gemaltem Gesicht und buntem Federbusch vor sich stehen.

»Na, was gibt es?«, fragte Will mit anscheinender Freundlichkeit, obgleich er recht gut wusste, dass der Indianer mit feindlichen Absichten gekommen war.

Wohl ein Dutzend solche Kerle folgten dem Ersten auf den Fersen und drängten sich in die kleine Höhle hinein, bis sie dicht gefüllt war.

Mit stets wachsender Angst beobachtete Will diesen Andrang. Sein Mut hob sich indes wieder beim Anblick des letzten Eindringlings, eines Häuptlings, in dem er einen Indianer wiedererkannte, dem er einstens einen Dienst erwiesen hatte.

Was man auch immer dem Indianer vorwerfen mag, das wenigstens muss man ihm lassen, dass er eine ihm erwiesene Wohltat ebenso wenig vergisst wie eine Beleidigung. Der den Namen Regen-im-Gesicht führende Häuptling erkannte auch Will sofort und fragte ihn, was er denn an diesem Ort mache. Will löste seinen Verband und erzählte das Missgeschick, das ihm widerfahren war. Zugleich frischte er des Häuptlings Erinnerung an einen Vorfall auf, bei dem der Indianer durch Will zu einer warmen Decke und Mundvorräten gekommen war. Regen-im-Gesicht erwiderte mit ernster Würde, dass er und seine Gefährten zwar auf Skalpe ausgegangen seien, und auch auf den von Will Absichten gehabt hätten, dass er aber in Anbetracht jener ihm erwiesenen Wohltat den Bleichgesichtknaben verschonen wolle.

Die Wirkung dieser Wohltat reichte jedoch nicht so weit, auch die Decke und Vorräte vor Annektierung zu bewahren, denn die aufgeputzte Schar raubte fast die ganze Höhle aus. Will aber war so dankbar, als er den Rücken des letzten der wilden Gäste sah, dass alles andere dagegen nicht in Betracht kam.

Zwei Tage später erhob sich ein heftiger Schneesturm. Will stellte die wenigen ihm gebliebenen Vorräte zusammen und fand, dass er bei etwas Sparsamkeit noch genügend Lebensmittel für eine Woche habe. Da der Sturm Daves Kommen aber voraussichtlich verzögern würde, so setzte er sich auf halbe Ration.

Drei Wochen waren nun verflossen, und jeden Augenblick sah Will der Rückkehr seines Freundes entgegen. Als aber die Nacht dem Tag wich und auch der Tag sich wieder der Nacht zuneigte, erfasste ihn heftige Angst. Sollte Phillips sich verirrt haben? Konnte er die schneebedeckte Höhle am Ende nicht mehr finden? War er im Sturm umgekommen, oder gar den Indianern zur Beute gefallen? Diese und ähnliche Fragen verfolgten den armen Kerl unaufhörlich. Das Lesen wurde zur Unmöglichkeit, und selbst für die wenige Nahrung, die ihm blieb, verging ihm der Appetit. Die Zeitrechnung auf dem Kerbholz aber wurde fortgeführt.

Der neunundzwanzigste Tag dämmerte herauf, und leise schlich sich der Hungertod in die Höhle. Auch das Brennholz war am Ausgehen. Allein so groß auch Wills körperliche Qualen waren, so wurden sie doch durch seine Seelenpein noch weit übertroffen. Hungrig und vor Frost zitternd, traurig und verzagt, saß er vor einem schwachen Feuer.

Horch, war das nicht sein Name? Bebend vor Aufregung, unfähig ein Wort zu stammeln, lauschte er. Ja, es war wirklich sein Name und Daves bekannte Stimme. Mit aller ihm verbliebenen Energie ließ er seinen Antwortruf ertönen.

Der Laut seiner Stimme half Phillips die Höhle ausfindig machen, worauf sofort ein Weg durch den Schnee gegraben wurde. Und als Will die Öffnung vor sich sah und seine Nervenanspannung nachließ, weinte er wie ein kleines Mädchen, wie er uns später erzählte.

»Gott segne dich, Dave!«, rief er, beide Arme um den Arm des Freundes schlingend.