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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 4 – Kapitel 2

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Vierte Episode
Die Lords der Roten Hand
Zweites Kapitel

Die Lords der Roten Hand

Joë Dorgan hatte gerade sein Zimmer betreten, nachdem er eine umfangreiche Korrespondenz erledigt hatte, als das Telefon neben seinem Bett laut klingelte.

»Hallo! Hallo!«

»Hallo.«

»Sind Sie Master Joë Dorgan?«

»Ja, genau. Wer spricht?«

»Dr. Kramm!«

»Gut, ich höre.«

»Haben Sie heute Abend eine Stunde oder zwei Zeit?«

»Ja.«

»Dann erwarte ich Sie. Wir müssen reden. Fritz wird auch da sein.«

»Bis später.«

Der junge Mann legte den Hörer auf, etwas besorgt über diesen späten Anruf, aber Dr. Cornelius war einer seiner besten Freunde, ein Mann, dem er nichts abschlagen konnte.

Joë Dorgan zog einen Mantel aus schwedischem Tuch an, setzte einen breitkrempigen Filzhut auf und steckte seinen Browning, von dem er sich nie trennte, in die Tasche. Gleichzeitig legte er ein stattliches Bündel Banknoten in sein Portemonnaie.

Nachdem er sich vorbereitet hatte, verließ er sein Zimmer und betrat den Aufzug, der ihn in die große Eingangshalle im Erdgeschoss brachte.

Im weitläufigen, mit Sand bedeckten Innenhof standen zwei elektrische Autos, alle Scheinwerfer eingeschaltet. Joë Dorgan stieg in eines davon.

»Halten Sie am Eingang der 30th Avenue«, sagte er zum Fahrer.

»Sehr wohl, Sir«, antwortete der Mann unterwürfig.

Das Auto fuhr los, passierte das Tor, das sich lautlos auf das Signal des Fahrers öffnete, und raste durch die langen, leeren Straßen von New York.

Eine Viertelstunde später stieg Joë Dorgan aus und befahl dem Fahrer zu warten. Er ging zu Fuß die 30th Avenue hinauf, den Hut tief ins Gesicht gezogen, den Kragen seines Mantels bis zu den Ohren hochgeschlagen, und schlich an den Wänden entlang wie jemand, der nicht erkannt werden möchte.

Auf seinem Weg bemerkte er, dass die wenigen Passanten, die wie er bis zu den Augen eingewickelt waren und die gleichen Vorsichtsmaßnahmen trafen, sich in dieselbe Richtung beeilten.

Nach etwa zwanzig Minuten hielt er vor einem Anwesen mit hohen Mauern und einem schmiedeeisernen Tor. Auf einer der Säulen, die das Tor stützten, war eine schwarze Marmortafel eingelassen, auf der in goldenen Buchstaben Dr. Cornelius Kramm zu lesen war.

Der junge Millionär klingelte und wurde sofort von einem freundlich aussehenden, ganz in Schwarz gekleideten alten Mann eingelassen, der ihn mit dem größten Respekt begrüßte.

»Guten Abend, Leonello«, sagte Joë lässig. »Geht es dem Doktor gut?«

»Hervorragend. Er erwartet Sie.«

»Wo?«

»Folgen Sie mir.«

»Ist es weit?«

»Nur ein paar Schritte.«

Geführt von Leonello, durchquerte Joë Dorgan den Garten, ging durch eine halb von Efeu versteckte Tür und fand sich in einer verlassenen Gasse, gesäumt von schäbigen Hütten.

Sie gingen schweigend einige Minuten, dann hielt Leonello an und klopfte viermal an die Tür einer Bretterhütte, die an ein leeres Grundstück mit einem Zaun grenzte.

Eine Tür öffnete sich einen Spalt, und die beiden Männer schlüpften leise in einen niedrigen Raum, der von einer rostigen Öllampe, die an einem Draht vom Deckenbalken hing, nur schwach erleuchtet wurde.

»Hier ist der Doktor und sein Bruder«, sagte Leonello und zeigte Joë zwei Männer, die an einem kleinen Tisch saßen, der mit Papieren bedeckt war. Sie hatten nicht einmal den Kopf gehoben, als die Tür sich öffnete.

Der alte Mann war verschwunden.

Joë hätte fast vor Schreck aufgeschrien.

Die beiden Personen vor ihm trugen Gummimasken, die an den Augen durchbrochen waren, aber dünn genug, um die Gesichtszüge nur halb zu verdecken.

»Seid ihr es, Cornelius und Fritz?«, fragte der junge Mann ängstlich.

»Ja«, antwortete einer der Männer mit einem sarkastischen Lachen, »aber beruhigen Sie sich, wir haben uns nicht ihretwegen verkleidet.«

»Das beruhigt mich ein wenig! Sie sehen schrecklich aus mit diesen Masken. Aber warum dieses späte Treffen? Ist etwas Ernstes passiert?«

»Nein; wir haben Sie hergebeten, um Ihnen einen weiteren Beweis unseres vollständigen Vertrauens zu geben …«

In diesem Moment wurden vier gleichmäßige Schläge an die Außentür geklopft.

»Jemand kommt!«, murmelte Cornelius, »Sie dürfen uns nicht in Ihrer Gesellschaft sehen. Kommen Sie schnell hierher … Hören und sehen Sie zu, Sie werden eines unserer wichtigsten Geheimnisse erfahren …«

Cornelius zog den jungen Mann in eine dunkle Ecke des Raumes. Bevor Joë Dorgan aus seiner Überraschung herauskam, fand er sich in einem engen Versteck, kaum größer als ein Schrank. Auf Augenhöhe waren Löcher angebracht, durch die er sehen und hören konnte.

Das Versteck war gerade rechtzeitig verschlossen, als Fritz Kramm die Tür öffnete. Ein Mann in Lumpen trat in den niedrigen Raum. Er wirkte sehr eingeschüchtert, hielt respektvoll seine Mütze in der Hand und warf ängstliche Blicke auf die beiden Brüder.

»Lords«, stammelte er, »hier!«

Und er zog ein Stück Papier aus seiner Tasche, auf dem einige Hieroglyphen gezeichnet waren. Unten war eine grob mit roter Tinte gezeichnete Hand und in der linken Ecke eine kleinere Hand zu sehen.

Cornelius und Fritz prüften das Papier sorgfältig, während der Mann demütig wartete.

»Das macht zweihundert Dollar«, sagte schließlich Cornelius.

»Zweihundert Dollar«, wiederholte Fritz.

Er zog aus einer Schachtel neben sich eine kleine Rolle Gold. Der Mann nahm sie und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen, rückwärts grüßend.

Kaum war er gegangen, wurde ein weiterer Besucher hereingeführt. Es war ein Mann mittleren Alters, recht gut gekleidet und mit einer gewissen Bildung. Wie der vorherige Besucher wirkte er unbehaglich und von respektvoller Angst erfüllt.

Stumm und mit entblößtem Haupt überreichte er Cornelius ein Stück Papier, das genau dem anderen glich und die beiden roten Hände trug.

»Fünfhundert Dollar«, sagte Cornelius Kramm mit einer tonlosen Stimme.

»Fünfhundert Dollar«, wiederholte Fritz.

Der Mann nahm die Banknoten und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen.

Kaum war er verschwunden, wurde er von einem Polizisten in Uniform abgelöst, der tausend Dollar erhielt, dann von einer eleganten Dame, die siebenhundert Dollar erhielt, und einem Minister, der zweitausend Dollar erhielt. Zwei Stunden lang gab es einen ununterbrochenen Strom von Personen aus allen Gesellschaftsschichten, die alle eine mehr oder weniger beträchtliche Summe erhielten. Die Papierstücke mit dem doppelten Siegel der Roten Hand bildeten nun einen großen Stapel neben Cornelius, und die Schachtel mit dem Geld war fast leer.

Aus seinem Versteck heraus öffnete Joë Dorgan weit die Augen. Er hatte ungefähr berechnet, dass an diesem Abend fast zweihunderttausend Dollar verteilt worden waren. Eine Art Schwindel ergriff ihn; nun schaute er kaum noch auf die mehr oder weniger bizarren Gestalten, die sich im niedrigen Raum abwechselten und wie in einem Traum mit fast identischen Gesten verschwanden.

Plötzlich zog ein breitschultriger Hüne mit riesigen Fäusten, der mit einer gewissen Arroganz den Raum betrat, seine Aufmerksamkeit auf sich. Er schaute sich mit einer neugierigen, unverschämten Miene um. Er hatte seine Mütze aufbehalten und pfiff leise vor sich hin.

»Es ist üblich, sich vor den Lords der Roten Hand zu entblößen«, sagte Cornelius ernst.

Der Mann nahm seinen Hut ab, beeindruckt trotz seiner Kühnheit.

»Ich mag diese berühmten Lords nicht besonders, die noch niemand von Angesicht zu Angesicht gesehen hat«, höhnte er. »Aber das ist mir egal, solange ich bekomme, was mir zusteht …«

Und wie die anderen vor ihm, reichte er sein Stück Papier, das mit zwei roten Händen gestempelt war.

»Fünfhundert Dollar«, sagte Cornelius kühl.

»Fünfhundert«, wiederholte Fritz und reichte einen Geldschein.

Der Hüne nahm ihn wütend und zerknüllte ihn zwischen seinen Fingern, bevor er ihn in seine Westentasche steckte. Sein Gesicht war rot geworden, die Adern an seiner Stirn schwollen an.

»Fünfhundert Dollar!« rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die morschen Bretter krachten. »Und das ist alles, was ich bekomme, nachdem ich hundertmal mein Leben riskiert habe, indem ich die Tresore der Banker während des großen Feuers ausgeräumt habe! … Ich will mindestens zehntausend Dollar, hört ihr? Die Arbeit ist das wert! Und ich gehe nicht, ohne sie zu bekommen! Jack Simpson hat vor niemandem Angst, nicht einmal vor den Lords der Roten Hand. Mit Masken und Spielchen kann man mich nicht einschüchtern! Los, mein Geld, und zwar schnell!«

»Jack Simpson«, antwortete Cornelius sehr ruhig, »du hast die Lords der Roten Hand schwer beleidigt. Das ist nicht das erste Mal, dass dir so etwas passiert, und du wirst dafür bestraft.«

»Ich!«, spottete der Bandit, »das werden wir ja sehen. Ich fürchte keine halbe Dutzend wie euch zwei! Ihr könnt mir nichts vormachen. Mein Geld oder ich schieße!«

Mit diesen Worten zog Jack Simpson einen großen Browning und zielte auf Cornelius’ Stirn.

Der Doktor blieb ungerührt, aber ohne dass der Athlet es bemerkte, hatte er bereits mit dem Fuß einen Kupferknopf im Boden fest gedrückt.

Joë Dorgan, der von seinem Versteck aus alle Einzelheiten dieser Szene beobachtet hatte, war bereit, den Brüdern Kramm zu Hilfe zu eilen, als plötzlich zwei ebenso kräftige Männer wie Jack Simpson blitzschnell auf ihn zusprangen. Einer von ihnen zerdrückte mit seinen Fingern das Handgelenk, das den Browning hielt, während der andere den Athleten an der Kehle packte.

»Verfluchte Hunde!«, brüllte Jack Simpson und wehrte sich verzweifelt.

Aber jeder Widerstand war zwecklos; in einer Sekunde war der Koloss überwältigt, gefesselt und geknebelt.

Die beiden Männer verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Cornelius und Fritz berieten sich eine Weile leise.

»Jack Simpson«, sagte schließlich der Doktor mit der gleichen ruhigen Stimme, »du hast die Lords der Roten Hand beleidigt. Bereite dich darauf vor, die Strafe zu erleiden, die du verdient hast.«

Der Koloss wand sich in seinen Fesseln, als wollte er um Gnade bitten, und sein Gesicht drückte eine unsagbare Angst aus. Diese stumme Bitte war von einer erschreckenden Eindringlichkeit.

Cornelius rief: »Slugh! Jackson!«

Die beiden Männer erschienen wieder.

»Bringt diesen Kerl weg«, befahl er, »sperrt ihn sicher ein; morgen werde ich euch die Entscheidung der Lords der Roten Hand über ihn mitteilen.«

Slugh und Jackson hoben den Koloss mühsam auf ihre Schultern und trugen ihn in einen Nebenraum, dann setzte sich der Strom der Besucher fort.

Schließlich erklärte Fritz Kramm gähnend, dass die Sitzung beendet sei, und holte Joë Dorgan aus seinem Versteck. Der junge Millionär schien sehr beeindruckt von dem, was er in diesen zwei Stunden gesehen und gehört hatte.

»Die Organisation der Roten Hand ist ein Wunder!«, erklärte er begeistert. »Trotz allem, was Sie mir gesagt haben, hätte ich nie geglaubt, dass man in einer solchen Gesellschaft eine so administrative Präzision erreichen könnte.«

»Sie haben noch nichts gesehen, aber mit den Kerlen, die wir unter unserem Befehl haben, braucht man manchmal eine feste Hand. Sie haben gerade ein Beispiel gesehen.«

»Aber sie kennen eure wahre Identität nicht?«

»Wir wären verloren, wenn sie es ahnten. Alle glauben, dass die Lords der Roten Hand zahlreich sind, und wir sorgen dafür, dass sie in diesem Glauben bleiben.«

»Aber eure Verstecke müssen bekannt sein? Diese Hütte zum Beispiel?«

»… wurde nur für fünfzehn Tage unter einem falschen Namen gemietet, und wir werden nie wieder hierher zurückkehren. Die nächste vierteljährliche Verteilung wird in einem anderen Viertel von New York stattfinden.«

»Ihr gebt also alle drei Monate Dividenden aus wie die großen Banken?«

»Ja, das ist notwendig. Heute habe ich die Gewinne aus dem großen Feuer verteilt, das von der Roten Hand gelegt wurde und wie Sie wissen, ein ganzes Viertel von New York zerstört hat …«

»Ich glaube«, sagte Fritz Kramm plötzlich, dass wir woanders besser reden könnten als hier.

»Das stimmt, stimmte der Doktor zu, »wir haben nichts mehr, was uns in dieser Hütte hält, und es wäre sogar unklug, länger hier zu bleiben.«

Fritz und Cornelius nahmen ihre Gummimasken ab, räumten sorgfältig die Papierstücke weg, die ihnen wahrscheinlich zur Buchführung dienten, und machten sich bereit zu gehen.

»Noch eine Frage«, fragte der junge Millionär. »Was wird aus diesem Jack Simpson, der die Frechheit hatte, die Lords der Roten Hand zu beleidigen?«

»Sein Fall ist klar«, brummte Cornelius. »Ich habe erfahren, dass er Verbindungen zum Polizeiamt hat, er muss ein Exempel statuiert werden.«

»Wird er sterben?«

»Daran besteht kein Zweifel. Man wird morgen seine Leiche in einer verlassenen Straße finden, mit der blutigen Hand auf der Wange, die das Zeichen der Vereinigung ist.«

Der junge Mann konnte sich ein Schaudern nicht verkneifen.

»Das sind notwendige Beispiele«, fuhr der Doktor fort, als ob er die Gedanken seines Gesprächspartners durchschaut hätte. »Wenn wir nicht so handeln würden, wären wir längst an die Polizei verraten worden und die Vereinigung würde nicht mehr existieren. Ich wollte Ihnen das zeigen, jetzt wo auch Sie ein Lord der Roten Hand sind. Sie werden bald sehen, dass es eine gewisse Freude bereitet, diese gewaltige und geheimnisvolle Macht auszuüben. Es ist im Grunde eine Art Königtum.«

Während sie sprachen, erreichten die drei Banditen die kleine Tür zum Garten, die ihnen der schweigsame Leonello öffnete.

»Genug über die Rote Hand geredet«, sagte Fritz Kramm abrupt, »jetzt kümmern wir uns um die Angelegenheiten unseres Freundes, die auch ein wenig unsere eigenen sind.«

»Und dafür«, fügte der Doktor hinzu, »werden wir in meinem unterirdischen Labor viel bequemer sein.«

Sie betraten das luxuriöse Gebäude inmitten der Gärten und stiegen in einen elektrischen Aufzug, der sie in die Tiefe des Bodens brachte.

Einige Minuten später betraten sie einen Raum mit Wänden aus Keramik.

Es war das Vorzimmer des Labors.