Der Detektiv – Band 29 – Nur ein Tintenfleck – Kapitel 4
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 29
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Nur ein Tintenfleck
Kapitel 4 – James Houster
Es war 4 Uhr morgens, als das Flachboot mit vom Morgenwind prall gefüllten Mattensegeln sich der Stadt näherte. Unweit des am linken Ufer gelegenen Nordforts wurden wir an Land gesetzt. Umsonst hatte ich während der Fahrt Harst gefragt, wie er denn auf den Gedanken gekommen sei, es sollte ein Diebstahl im goldenen Turme des P’hrabat ausgeführt werden. Er hatte nur geantwortet: »Hast du denn wirklich den Zusammenhang noch nicht begriffen?«
Worauf ich erklärte: »Nur das eine, dass die Rotblonde bei alledem eine Rolle spielt. Aber was es mit dem Mord auf sich hat, ist mir völlig unklar.«
Er erwiderte darauf nichts. Und ich musste mich wieder einmal gedulden.
Eine halbe Stunde später befanden wir uns im Europäerviertel von Bangkok mit seiner elektrischen Straßenbeleuchtung und seinen schönen, breiten Straßenzügen. Harst suchte hier offenbar ein bestimmtes Haus. Dann blieb er vor einem älteren, schmalen Ziegelbau stehen und schaute zu den Fenstern des ersten Stockes empor. Vor dem Haus stand gerade ein Mast mit einer elektrischen Bogenlampe. Im Erdgeschoss befand sich ein Eisenwarengeschäft. Über dem Schaufenster las ich die englische Firmenaufschrift: James Houster, Kunstschlosserei.
Harst zog mich weiter. »Komm, wir dürfen nicht auffallen«, meinte er. »Wenn ich nur wüsste, wie ich herausbringen könnte, ob die Bande Houster etwa wirklich beseitigt hat oder wie sie ihn sonst – ausschalten will. Hm – am besten ist, wir wecken den Chef der hiesigen Polizei. Es ist ein Amerikaner namens Walker. Er wird uns ohne Frage in jeder Weise unterstützen.«
Abermals eine halbe Stunde darauf saßen wir in der Privatwohnung Master Tobias Walkers, eines älteren, zunächst recht zugeknüpften Herrn, der offenbar nicht zeigen wollte, dass ihm der Name Harst irgendwie imponierte. Erst als Harst dann erklärte, er hätte sichere Beweise dafür, dass ein Teil der Kostbarkeiten des goldenen Turmes am Vormittag geraubt werden solle, taute Master Walker auf und erfüllte Harsts Bitte, uns sofort die nötigen Sachen für eine Verkleidung zu besorgen. Aber auch ihm gegenüber äußerte sich Harst in keiner Weise über die bevorstehenden Ereignisse und über die Schlüsse, die er aus unseren Erlebnissen des gestrigen Tages gezogen hatte.
Gegen 6 Uhr morgens verließen zwei dunkelbraune Inder mit würdigen Bärten das Haus des Polizeichef durch einen Nebenausgang und wanderten wieder jener Straße zu, in der die Kunstschlosserei James Housters sich befand.
Der größere der Inder sagte nun zu dem kleineren, und das war ich: »Mein Alter, wenn Houster nicht daheim, sondern zu irgendeiner dringenden Arbeit abgerufen worden ist, so dürfte leider ein Mord geschehen sein.«
Ich schwieg zunächst, dachte nach und erklärte dann: »Houster steht wahrscheinlich mit der Rotblonden im Bunde. Er wird derselbe Mann sein, der den Baldachin im goldenen Turm reparierte. Mir fiel auf, dass die Mönche und Priester ihn kaum beobachteten. Mithin vertrauen sie ihm. Vielleicht arbeitet er des Öfteren für das P’hrabat-Kloster und hat sich jetzt zur Teilnahme an dem Verbrechen verleiten lassen.«
Harst schüttelte den Kopf.
»Ich habe selten eine solche Vermengung von Richtigem und Falschem mit angehört«, sagte er nachsichtig. »Dieser Fall mag ja tatsächlich schwer zu überschauen sein, obwohl dich doch schon die Kolik der Pferde Trimals hätte stutzig machen müssen.«
»Ah – mir geht ein Licht auf!«, sprach ich nun leise. »Trimal ist ebenfalls an der Sache beteiligt.«
»Natürlich. Das wusste ich schon, als ich die Briefmarke mit dem lila Fleck kaum gesehen hatte. Wenn ich verlangte, du solltest bei Trimal dich zu mir setzen, so geschah es nur, weil ich deine Ausbildung zum Detektiv fördern wollte. Dieser Tintenfleck ist nämlich ungeheuer lehrreich. Meine Behauptung, ein Füllfederhalter habe den Klecks erzeugt, war Unsinn, aber ein Unsinn, der Trimal einleuchtete. Der Major hat den Tintenklecks höchst eigenhändig hervorgerufen. Beweis: Die Marke ist, nachdem der Fleck erzeugt war, über einer Flamme getrocknet worden, wobei die Unterseite der Marke gelblich anlief. Auf dem Löschblatt hat die Marke nicht gelegen, als die lila Tinte auf sie herabtropfte. Sonst hätte das Löschblatt Tintenspuren aufweisen müssen. Es war aber völlig sauber. Der Fleck auf der Marke zieht sich bis zu den Zähnen des Randes hin. Also hätte das Löschblatt mit beschmutzt werden müssen.«
»Hm – über einer Flamme getrocknet?! Welche Unvorsichtigkeit!«, warf ich ein.
»Du zweifelst, dass ich hierin recht habe, mein Alter? Ich habe recht! Die Sache ist einfach die: Trimal und seine Genossen erfahren erst durch die heutige Abendausgabe des Bangkok-Rekorder, dass ich mich hier jetzt aufhalte. Da entwerfen sie schleunigst einen Plan, gerade mich, den sie als Verfolger nach geschehener Tat am meisten zu fürchten haben, in eine Falle zu locken und bis heute Abend festzuhalten. Sie ersinnen das Rätsel des Tintenflecks, das mich reizen soll und auch tatsächlich reizte, wenn ich auch schon mit einem gewissen Misstrauen zu Trimal hinausfuhr, da mir der Zufall etwas seltsam erschien, dass er gerade gestern Abend kurz nach Ausgabe des Rekorder bei uns erschien. Ich sah dann die Marke und wusste Bescheid. Sie musste über Feuer getrocknet werden, da doch der Fleck schon in der vergangenen Nacht entstanden sein sollte, während er in Wahrheit erst kurz vor Trimals Besuch bei uns hervorgerufen wurde. Du siehst, die Leute besitzen Fantasie. Dieser Plan war recht schlau erdacht, nur sehr unvollkommen ausgeführt. Die Marke durfte unten nie gelb werden, und ebenso hätten die Erfinder dieser Idee das Löschblatt nicht vergessen dürfen. Dann wurde Trimal durch den Diener abgerufen – der Pferde wegen. Die Halbponys sind natürlich ganz gesund. Der Diener handelte auf Befehl. Ich sprach absichtlich über Waffen recht laut weiter, denn fraglos lauschte Trimal an der Tür. Die Absicht war die, uns zu zwingen, die beiden angeblich aus der Stadt bestellten Rikschas zu benutzen. Mir waren diese gleich nicht recht geheuer. Die Rikschakulis trugen Leinenjacken und -hosen. Auch das war ein Fehler. Immerhin – ich war nur auf einen Überfall gefasst, nicht auf das Loch im Brückenbelag. Auch dieses Detail war fein ausgeklügelt. Der Sturz in die Tiefe kam ja so unerwartet, dass Gegenwehr nicht gut möglich war. Übrigens haben Trimal und Genossen die Flachbootschiffer ja auch erst gestern Abend für sich gewonnen, ein weiterer Beweis, dass die Bande nur erst durch den Rekorder auf uns aufmerksam wurde. Was Trimals Person betrifft, so hast du ja mit angehört, was Tobias Walker über ihn äußerte: entlassen aus dem Kolonialdienst wegen dunkler Geschichten; hier seit einem Jahr etwa ansässig; scheinbar menschenscheu; sonst nichts Belastendes. Aber diese Angaben Walkers genügen. Ich behaupte, der fragwürdige Major ist nur deshalb nach Bangkok gekommen, um den Schätzen des P’hrabat zu Leibe zu gehen: Nur damit sich niemand mit ihm beschäftigt, hält er sich ganz für sich allein. Sein Bungalow grenzt mit dem Garten an das Gebiet des P’hrabat-Klosters und ist von diesem kaum 800 Meter entfernt. Doch – da haben wir Housters Laden schon vor uns. Er ist bereits offen. Hier im Orient beginnt man mit der Tagesarbeit etwas früher als bei uns daheim.«
»Und der Mord?«, fragte ich schnell.
»Darüber werden wir sofort Gewissheit erhalten.«
Harst betrat das Geschäft. Ich blieb dicht hinter ihm. Das Läuten der Türglocke tönte noch nach, als hinter einem Vorhang eine ältere Frau auftauchte, eine sehr sauber gekleidete Weiße.
Harst sprach sie auf Englisch an.
»Mistress Houster, nicht wahr?«, fragte er.
Sie bejahte freundlich.
»Sind wir hier allein?«, forschte er weiter, indem er die Stimme dämpfte. Frau Houster nickte mit etwas erstauntem Gesicht.
»Wo ist Ihr Mann, Mistress?«, flüsterte Harst wieder.
»Er wurde vor einer Stunde zu Major Trimal gerufen. Der Major hat eine Menge Affenkäfige. An den Gittern sollten die Türen schnell verlegt werden.«
Harst sprach jetzt noch leiser. »Mistress Houster, wir sind keine Inder, sondern Deutsche. Mein Name ist Harald Harst.«
Etwas wie leichtes Erschrecken malte sich auf dem Gesicht der Frau.
»Ah – Master Harst, der berühmte Detektiv!«, meinte sie zögernd. »Womit kann ich Ihnen dienen? Wollen die Herren nicht in unser Wohnzimmer eintreten?«
»Danke, Mistress. Wir haben es eilig. Nur noch einige Fragen. Ihr Mann arbeitet ständig für das P’hrabat-Kloster?«
»Ja – seit zehn Jahren. Aber … weshalb …«
»Oh – lassen Sie nur. Es handelt sich hier um nichts Besonderes. Kennt Ihr Mann den Major Trimal genauer?«
»Nein. Er ist heute zum ersten Mal dorthin gerufen worden.«
»So – zum ersten Mal!«, wiederholte Harst sinnend. »Sehr schlau das – sehr schlau. Oder aber – die Idee ist erst kürzlich …« Er brach mitten im Satz ab, fügte dann hinzu: »Ist Ihr Mann durch Trimals Wagen abgeholt worden?«
Wieder zeigte sich ängstliches Staunen in Frau Housters Zügen.
»Ja – mit einem Ponywagen fuhr mein Mann hinaus. Doch ich bitte Sie, warum wollen Sie …«
Harst verbeugte sich schon und sagte: »Wir müssen fort, Mistress. Auf Wiedersehen – Ihren Mann trifft man heute Vormittag wohl im P’hrabat-Kloster? Gestern war er dort beschäftigt. Heute wohl auch noch?«
»Ja. Er hofft heute mit der Reparatur des Baldachins fertigzuwerden. Er will vom Bungalow des Majors aus gleich zu dem P’hrabat hinübergehen.«
Dann waren wir wieder auf der Straße. Ich hatte aus dieser Unterhaltung mit Frau Houster nur den Eindruck gewonnen, dass mein Verdacht gegen Houster berechtigt gewesen war, er stecke mit Trimal und dessen Genossen unter einer Decke. Seine Frau aber ahnte wohl, dass die Redlichkeit ihres Gatten ins Wanken geraten sei.
Als ich dies nun auch Harst gegenüber äußerte, erwiderte er: »Alles falsch, mein Alter! Die Sache ist verzwickter! Denke an die sechs fotografischen Aufnahmen des Baldachins von rechts, die die Rotblonde machte. Das und der Tintenfleck sind die Hauptpunkte des Problems.«
Ich begriff noch immer nichts. Harst hatte zwei Rikschas herbeigewinkt.
»Zum P’hrabat!«, befahl er. Wir stiegen ein. Die Rikschas rollten davon. Außerhalb der Stadt ließ Harst die Rikschakulis sich dicht nebeneinander fahren. Daher konnten wir auch bequem miteinander sprechen.
»Sieh mal, auch diese Kulis tragen nur Lendentuch und Strohhut«, begann er. »Wie alle diese menschlichen Pferde hier. Nur in der vergangenen Nacht zogen uns ein Paar angezogene Kulis. Sie mussten Hosen und Jacken tragen, denn es waren nur verkleidete Helfershelfer Trimals. Das Ziehen wurde ihnen auch verdammt sauer, ebenso das lange Traben. Dein menschliches Pferd, mein Alter, war sogar eine Dame, wie ich bald herausfand.«
»Dame?!«, meinte ich stockend. »Etwa die Rotblonde?«
»Ohne Frage dieselbe!«, bestätigte er mit einem Nicken. »Mein Pferd dürfte der grauhaarige Begleiter der eifrigen Fotografin gewesen sein. Aber das Grauhaarige an ihm wird Maske sein, vermute ich. Heute wird er vielleicht wieder eine andere Maske tragen.«
Meine Neugier, nun endlich den Zusammenhang all dieser Begebnisse voll zu überschauen, steigerte sich noch.
»Ich bitte dich«, sagte ich eindringlich, »teile mir nun endlich mit, was …«
Harst rief schon: »Bei Gott – er hat noch nichts gemerkt! Aber mein Alter, du bist heute geradezu begriffsstutzig! Vergiss doch die sechs Aufnahmen von rechts nicht!«
Ich lehnte mich ärgerlich zurück, und auch Harst schwieg nun. Als wir uns dem Punkt der Straße näherten, wo der Weg zu der Villenkolonie abzweigte, befahl Harst den Kulis, zu halten. Er lohnte sie ab und schickte sie zur Stadt zurück.
Hastig schritten wir nun dem Bungalow Trimals zu, bogen dann jedoch rechts von der Gartenmauer in das Palmengehölz ein, gingen an der Mauer entlang und fanden sehr bald in dieser eine Pforte, die nach Norden zu lag. Hier untersuchte Harst den Erdboden dicht an der Pforte, flüsterte nun: »Vielleicht haben wir Glück. Dies ist für Houster der nächste Weg zum P’hrabat. Wäre hier keine Pforte gewesen, hätte ich den Haupteingang überwacht. Komm, verbergen wir uns! Trimal wird Houster durch die Pforte hinauslassen, oder ein Diener wird dies vielmehr besorgen.«