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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 7 – 5. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 7
Die Spürnase des Oberkellners
5. Kapitel

Auf der Fährte

Es ging hoch her bei Mr. Lovell, dem Grafen und der schönen Elvira. Man aß ein ausgesuchtes Diner, das aus den teuersten Delikatessen der Saison bestand, und der Sekt floss ununterbrochen.

Sherlock Holmes bediente diesen Tisch selbst, und er machte seine Sache ganz ausgezeichnet. Dass er dabei die Unterhaltung der drei kontrollieren konnte, störte diese nicht, denn sie fühlten sich offenbar sehr sicher.

An den Nebentischen wurde von dem Mord an der Lady Malcolm gesprochen, und der Graf neigte sich zu Lovell hinüber:

»Haben Sie gehört?«, raunte er. »Soeben hat man schon den Namen des Detektivs ausgesprochen, der mit der Verfolgung der Sache betraut ist.«

»Sherlock Holmes vermutlich?«, warf Lovell dreist hin.

»Ja, natürlich ist er es! Man verlässt sich ja auf keinen anderen mehr – und doch hat der Kerl nicht den Stein der Weisen gefunden. Ich bin überzeugt, das ganze Gerede über seinen ungewöhnlichen Scharfsinn und seine untrüglichen Schlussfolgerungen sind übertrieben.«

»Mag sein – ich habe mich nie für solche Detektivgeschichten interessiert. Oberkellner, bitte bringen Sie ein paar gute Importen.«

Der Angesprochene brachte auf einer Kristallschale eine Auswahl von Havannas.

Als die Herren sich bedient hatten, sagte der Ober­kellner bescheiden: »Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber die Zigarren werden immer sofort bezahlt.«

»So? Nun, bitte! Hier – wechseln Sie mir etwas Geld.« Lovell warf mit einer sehr unvornehmen Bewe­gung einen Kassenschein auf den Tisch, den er aus seiner gut gefüllten Brieftasche genommen.

Sherlock Holmes ergriff ihn mit einer devoten Verbeugung und eilte damit in das Vorzimmer.

Auf dem Schein befand sich ein langer Tintenstrich. Sherlock Holmes’ Augen leuchteten auf. Vielleicht genügte dieser Strich allein schon, um die Gauner zu fangen – hatte der junge Bankbeamte, der Lady Mary die Scheine aushändigte, doch gesehen und es nachmittags dem Detektiv gesagt, dass sie einen Strich darüber gemacht hatte, als ihr die Feder beim Schreiben der Empfangsbestätigung in der Hast ausglitt.

Sorgfältig verbarg der Detektiv den Schein in seiner Brusttasche und wechselte einen anderen im Büro.

Als er mit dem gewechselten Geld zurückkehrte, hörte er Elvira sagen: »Du musst uns sagen, wo Tiny ist – man hat ja doch keine Ruhe, ehe man das weiß.«

Da in diesem Moment der Oberkellner herankam, fuhr sie in ganz anderem Ton fort:

»Wir reisen morgen weiter, Graf. Werden Sie noch lange in London bleiben?«

»Ich weiß es nicht – es hängt ganz davon ab, wie ich mich amüsiere, gnädige Frau. Ach, Ober­kellner, sagen Sie mal, wer ist denn dieser glatt rasierte Herr dort drüben, der uns fortwährend fixiert?«

»Das ist seine Hochehrwürden der Bischof Bir­mingham, Sir. Er hat solchen starren Blick – andere Herrschaften haben sich ebenfalls schon darüber beklagt.«

Seine Serviette schwenkend, eilte der Detektiv zum Büfett, um neue Gläser für Likör zu holen.

Im Vorbeigehen flüsterte er dem glatt rasierten Herrn, der ein ihm bekannter Geheimpolizist war, zu: »Starren Sie die Leute nicht so an, Sie Schlaumeier!

Man fühlt sich beleidigt.«

Als er mit dem Likör an den Tisch zurückkehrte, wandte sich Lovell zu ihm.

»Sagen Sie mal, Oberkellner, ist Ihnen vielleicht ein gewisser Sherlock Holmes bekannt?«, fragte er.

»Sherlock Holmes?«, entgegnete der als Oberkellner verkleidete Detektiv verwundert, »meinen Sie etwa un­seren Liftboy?«

»Schafskopf!«, murmelte Lovell in seinen Bart. Laut sagte er: »Ich meine den berühmten Detektiv, von dem man alle Augenblicke in der Zeitung liest. Ich dachte, Sie kennen ihn vielleicht von Ansehen.«

»O!«, erwiderte Sherlock Holmes mit dem einfältigsten Gesichtsausdruck, den er für diese Rolle angenommen hatte, »solche Leute verkehren nicht in unserem Hotel!«

Die drei an dem Tisch sahen sich lächelnd an. Wie dumm doch solch ein Kellner war, dass er glaubte, in seinem Hotel wären nur hochanständige Leute zu finden!

Die Nacht war schon sehr weit vorgerückt, als sich die Freunde endlich trennten. Es schien, dass sie ohne jede Verabredung auf ein Wiedersehen auseinandergehen wollten, als Lovell, einer anscheinend augenblicklichen Eingebung folgend, sagte:

»Ich komme noch ein Stückchen mit Ihnen, Graf. Die Luft wird mir guttun, und ich habe den ganzen Tag noch keine Bewegung gehabt.«

Draußen in der Halle stand der Page, der den Nachtdienst übernommen hatte.

Auf einen Wink von Sherlock Holmes verschwand er durch eine kleine Seitentür nach der Straße. Und die gleich darauf heraustretenden Herren hatten keine Ahnung, dass der im Schatten der Häuser auf der anderen Seite ihnen folgende Rowdy mit seiner Ballonmütze und dem schlottrigen Gang wiederum Harry Taxon war.

Während dieser Zeit warf sich Sherlock Holmes auf das Bett in Nummer 29, und da er die beneidenswerte Fähigkeit hatte, jederzeit schlafen zu können, wenn er es wollte, so fand er bald die so notwendige Erholung im Schlummer.

Er hörte, wie gegen Morgen Lovell heimkehrte und sich sogleich zu Bett legte. Nun wusste er, dass dieser Vogel für die nächsten Stunden nicht ausfliegen würde, und begab sich sofort mit frischen Kräften auf die Ver­folgung der verschiedenen Spuren, die er im Sinn hatte.

Zunächst eilte er in seine eigene Wohnung und fand dort Harry Taxon vor, der bleiern schlief.

»Armer Junge!«, flüsterte Sherlock Holmes, indem er sich über das Lager beugte, »ich kann dir keine Ruhe lassen – du wirst dafür hoffentlich morgen Abend deinen Schlaf nachholen können. Denn so wahr ich lebe, ich gedenke bis dahin die Verbrecher in meinen Händen zu haben.«

»Wach auf, mein Sohn!«, rief er sodann, indem er seinen Famulus schüttelte. »Du musst mir Bericht erstatten.«

Harry fuhr empor und war sogleich ganz wach.

»O, Mr. Holmes«, erwiderte er, »ich habe leider gar nichts zu berichten. Die beiden Leute haben zwei Stunden im Pariser Café in der Regent Street gesessen und einen Whiskey nach dem anderen getrunken. Mit hinein gehen konnte ich leider nicht, weil sie mich erkannt hätten. Als sie herauskamen, nahmen sie eine Droschke und riefen ihr die Adresse des Welthotels zu. Dorthin brauchte ich ja nicht wieder zu folgen, und so benutzte ich die Zeit, um bei den verschiedenen Fuhrherren, die Nacht­droschken ausschicken, nachzuforschen, welcher von ihnen Haferstroh zu Häcksel benutzt. Nur ein Einziger tat es – hier ist seine Adresse.«

»Und das nennst du, nichts zu berichten haben, Harry? Ich hoffe, dass mich dieses winzige Stückchen Haferstroh auf die richtige Fährte bringen wird.«

Sofort machte sich Sherlock Holmes wieder auf den Weg und trat mit der Morgendämmerung bei dem ehr­samen Droschkenbesitzer ein, dessen Adresse ihm Harry gebracht hatte.

»Ich komme, um Sie zu fragen, Mr. Johnston, ob Sie sich erinnern, wen Sie vorgestern Abend gefahren haben?«

»Vorgestern, Herr? Ach, ich erinnere mich, das war der verdammte Nebelabend! Nun, da war ich zufällig selbst mit meinem Fuchs draußen, denn meinen Kutschern wollte ich Pferd und Wagen nicht anvertrauen. Aber viel gefahren bin ich trotzdem nicht – ich war schon um elf Uhr wieder zu Hause, denn es war ja lebensgefährlich, draußen zu bleiben.«

»Ganz recht, Mr. Johnston. Aber einen Fahrgast haben Sie trotzdem gehabt, nicht wahr? Ich frage näm­lich, weil es sich um sehr wichtige Dinge handelt. Hier haben Sie meine Legitimation, damit Sie mir recht genau antworten.«

Der brave Alte kraute sich hinter den Ohren.

»O weh, Herr!« seufzte er. »Mit der Polizei hat niemand gern zu tun! Mas wollen Sie denn von mir?«

»Ich möchte nur wissen, ob Sie in Ihrem Wagen eine mit Stroh gefüllte Fußunterlage haben?«

»Nein, das habe ich nicht. Aber in dem Wagen habe ich unter dem Sitz einen Kasten, wo ich mir Häcksel als Vorrat halte. Hat sich ein Fahrgast beschwert? Ich be­merkte am anderen Morgen, dass der Boden im Wagen mit Häcksel vollgestreut war.«

Sherlock Holmes’ Augen leuchteten auf.

»Es hat sich niemand beschwert«, sprach er freundlich, »das ist doch keine so große Unsauberkeit, wenn ein bisschen Häcksel dort lag. Ich muss aber durchaus wissen, wen Sie gefahren haben, wohin und zu welcher Stunde die Fahrt stattfand.«

»Hm, da muss ich mich erst besinnen. Es war zuerst eine Dame, die fuhr von der Victoriastation zum Welthotel.«

»Soso! Und wie sah die Dame aus?«

»Das weiß ich nicht, Herr. Sie halte einen schwarzen Schleier um ihren Kopf gewunden. Der Herr, der mit ihr zusammen einstieg, war mein zweiter Fahrgast. Und den fuhr ich nach – Himmeldonnerwetter, wo war es doch gleich … es war ein Platz …«

»Russell Place vielleicht?«

»Russell Place, bei Gott, ja! Wieso haben Sie das erraten können, Herr?«

»Ich habe es nicht erraten, sondern ich wusste es ganz genau. Nun sagen Sie mir aber, wie sah Ihr Fahrgast aus, wie benahm er sich?«

»Er war sehr klein und schmächtig – von fern hätte ich ihn für einen Knaben halten können. Er hatte auch ein bartloses Gesicht und ganz kohlschwarze Augen darin. Das fiel mir auf, und darum kann ich mich so gut darauf besinnen. Es sah aus, als ob der Mann krank sei, so blass war er und so flackerten seine Augen.«

»Hm! Kein Wunder, da er einen Mord vorhatte.«

»Was? Um Gottes willen, was meinen Sie damit?«

»Nun, haben Sie es nicht in den Zeitungen gelesen, dass Lady Malcolm ermordet worden ist? Den Mörder haben Sie offenbar gefahren – nun kommt es darauf an, ob Sie ihn wiedererkennen werden, wenn Sie ihn sehen.«

»Schwerenot, das sollte ich meinen! Glauben Sie Herr, so ein Gesicht vergisst man? Aber ich kann es mir noch immer nicht denken – wieso glauben Sie denn, dass gerade mein Fahrgast den Mord begangen hat?«

»Weil er an seinen Stiefelsohlen eine Spur von Ihrem Haferhäcksel mit in das Haus brachte. Und weil außer ihm überhaupt an dem Abend kein Mann in dem Haus war.«

»Da irren Sie, Sir! Es kam ja ein Diener aus dem Haus, der öffnete und den Herrn begleitete.«

»Wissen Sie das ganz genau?«

Sherlock Holmes blickte interessiert auf.

»Nun, Sie brauchen mich nicht gerade für einen alten Trottel oder dergleichen zu halten!«, rief Mr. Johnston beleidigt. »Weiß ich nicht, worauf es ankommt, wenn die Geheimpolizei einem erst auf den Hals rückt? Ich habe mir trotz des Nebels, der gerade um diese Stunde plötzlich dichter wurde, den Diener angesehen, der erst die Haustür aufschloss, als er meinen Fuchs draußen wohl vernommen hatte, und der ebenso sorgsam die Tür wieder zuschloss, als der Herr drin war.«

»Erlauben Sie«, sagte der Detektiv, »das stimmt wohl nicht! Die Haustür war eine halbe Stunde später auf.«

»Das ist ja sehr möglich, lieber Herr. Ich sage nur, was ich gesehen habe, und ich sah, wie der Diener – er war schon ein älterer Mann – die Tür wieder schloss. Auch hörte ich, wie der schwere Schlüssel sich dann im Schloss wieder drehte. Ich dachte noch dabei, der kleine junge Mensch, den ich gefahren hatte, müsse wohl der Sohn des Hauses sein, den man erwartet hatte.«

»Um welche Stunde war das?«

»Nun, wie ich Ihnen sagte, war ich schon um elf Uhr wieder zu Hause; also muss es ungefähr dreiviertel auf elf gewesen sein, als ich meinen Fahrgast abgesetzt hatte.«

»Und weiter wissen Sie also nichts, nicht wahr?«

»Nein, Herr, ich fuhr des Nebels wegen sofort heim.«

»Und die Dame, welche Sie vorher zum Welthotel gefahren hatten, war sie groß und stark?«

»Nein, sie war von netter, mittlerer Figur. Sie hatte eine helle, scharfe Stimme. Ich hörte, wie sie mit ihrem Begleiter ziemlich heftig sprach.«

»Haben Sie denn kein Wort von der Unterhaltung der beiden verstehen können? Es liegt mir unendlich viel daran, das zu wissen.«

»Wenn Sie hinter einem Londoner Hansom oben in der Luft schweben, Herr, und Acht auf Ihren Gaul geben müssen, dass er sich nicht in dem beginnenden Nebel Hals und Beine bricht – würden Sie dann wohl Zeit und Lust haben, die Klappe im Verdeck des Wagens anzuheben, um neugierig zu sein?«

»Nein, Sie haben recht, das würde ich wahrschein­lich nicht getan haben. Doch nun danke ich Ihnen für Ihre Auskunft; vielleicht gelingt es mir, den Schurken zu fassen, der den elenden Meuchelmord begangen hat, und dann soll er Ihnen gegenübergestellt werden, damit Sie ihn rekognoszieren können.«

Sherlock Holmes eilte fort und begab sich in das Palais Malcolm, wo er zunächst, da der Lord noch nicht sichtbar war, mit einigen der Diener Rücksprachen hatte.

Er erfuhr, dass sonst stets außer dem verschwundenen Peter auch noch der Kutscher im Haus geschlafen habe; dass aber diesmal die Lady keinen Wagen mit Pferden, sondern nur ein Automobil benutzt habe, dessen Chauffeur im Gartenhaus schlief.

»So! Und kann ich den Chauffeur wohl einmal zu sehen bekommen?«

»Er ist sofort von Mylord entlassen worden – den Grund wissen wir nicht; aber wahrscheinlich wollte Mylord nicht an das Automobil erinnert werden, das er nie leiden konnte, weil die Lady zu schnell zu fahren pflegte.«

Betsy war es, die diese Auskunft gab, wie denn auch sie die Einzige war, die in diesen Tagen ihre Ruhe und Besonnenheit wiedergewonnen hatte und deren Aussagen deshalb für Sherlock Holmes die wichtigsten waren.

»Hören Sie, mein Kind«, sprach er nun, »Sie haben an Ihrer Herrin gehangen …«

»Wer liebte sie nicht?«, unterbrach ihn mit feuchten Augen das Mädchen. »Wir alle hingen an ihr …«

»Auch Peter?«

»Ja, der gerade am meisten, Mr. Holmes! Ich merke es schon längst, dass Sie misstrauisch gegen Peter sind, aber ich lege meine Hand für ihn ins Feuer: Er ist unschuldig an dem Verbrechen.«

»Ich wollte also sagen«, fuhr der Detektiv mit un­bewegter Miene fort, »dass Sie Ihre Herrin gewiss gern gerächt sehen würden. Überdies aber verspreche ich Ihnen eine ansehnliche Geldbelohnung, wenn Sie mir auf das Genaueste jedes Wort mitteilen, was Sie aus der Vergangenheit oder dem Eheleben der armen Lady wissen. Haben Sie eine Ahnung davon, ob der Lord jemals Ursache hatte, eifersüchtig zu sein?«

»Ach, im Gegenteil, Herr! Die Lady hatte eher Ursache dazu, denn es wird ihr wohl ebenso wenig ver­borgen geblieben sein, wie uns, dass Mylord sich mit seiner alten Flamme wieder vereinigt hatte – die schöne Miss Brewer ist doch bekanntlich seine Geliebte.«

»Das wäre ja umso mehr Grund für die Lady gewesen, sich mit einem anderen zu trösten.«

»Das tat sie aber nicht! Mylady war so rein wie ein Engel! Und wie sehr bestürmte man sie mit Briefen und mit Liebeserklärungen versteckter Art! Sie war immer gleichmäßig freundlich und kühl gegen alle.«

Eine Weile schwieg Sherlock Holmes. Dann neigte er sich zu Betsy hinüber.

»Ich will Ihnen etwas anvertrauen, Betsy, und Sie werden mir dann behilflich sein: In dem Boudoir der Lady habe ich gestern etwas bemerkt, was mich viel­leicht auf die Spur des Täters bringen kann. Ich muss also in diesem Zimmer noch einmal völlig ungestört eine Stunde oder wenigstens eine halbe verweilen können. Werden Sie es fertigbringen, mir während der Zeit jeden Eindringling fernzuhalten?«

»Ich denke wohl. Nur wenn Mylord etwa kommen sollte …«

»Auch er darf mich nicht stören – er am aller­wenigsten! Passen Sie gut auf, Betsy, und falls der Lord wirklich so früh aufstehen und herunterkommen sollte, so sagen Sie ihm irgendetwas, gleichviel was, um ihn von dem sofortigen Betreten des Zimmers abzuhalten. Ich werde mich nach Möglichkeit beeilen.«

»Gehen Sie nur, Mr. Holmes. Ich werde aufpassen – aber halt! Noch einen Augenblick!«

Das Mädchen lief zu der Tür, welche zum Garten hinausführte, und verschloss sie fest.

»Wozu tun Sie das, Betsy?«

»Ich habe Angst – zweimal seit gestern ist der entlassene Chauffeur gekommen und hat in das Haus dringen wollen, um den Lord zu sprechen, der für ihn nicht zu sprechen ist.«

»Weshalb will sich Lord Malcolm nicht von ihm sprechen lassen?«

»Er hat einen Hass auf den Mann – und ich glaube, das ist ganz gegenseitig. Dieser Chauffeur war der Lady sehr ergeben, und Mylord, der stets misstrauisch war, glaubte vielleicht, dass – nun, gleichviel! Jeden­falls soll er nicht hier herein. Er sieht so wild und unheimlich aus, seit das Unglück geschah, dass ich fast denke, er hat den Verstand darüber verloren.«

»Hören Sie, Betsy, Sie können natürlich nicht er­messen, was in diesem schwierigen Fall wichtig oder unwichtig ist. Mir zum Beispiel ist es von großem Wert, dass ich diesen Mann sprechen kann. Lassen Sie also die Tür lieber auf, und wenn er sich nochmals blicken lässt, so halten Sie ihn fest und sagen Sie ihm, dass ich ihn sprechen will und muss.«

»Sehr wohl, Mr. Holmes.«

Nun ging der Detektiv in das Zimmer, wo immer noch Lady Mary aufgebahrt lag, nur dass nun schon der Deckel lose über den Sarg gedeckt war.

Behutsam riegelte Sherlock Holmes die Tür hinter sich zu. Bei dem Werk, das er nun vorhatte, durfte er durchaus nicht gestört werden.

Vorsichtig näherte er sich dem Wandschränkchen, schlug den verhüllenden Gobelin davor zurück und pro­bierte einen seiner künstlichen Nachschlüssel.

Erst der vierte passte.

Der Schweiß rann dem erregten Mann von der Stirn, als endlich das Türchen aufging und er in das Innere hineingreifen konnte.

Bald war die Druckfeder gefunden – die Wand schob sich zur Seite, und Sherlock Holmes hielt das dünne Briefbündel in der Hand.

Das Päckchen brannte ihn wie Feuer. Er hatte das Gefühl, als beleidige er mit diesem Vertrauensbruch die Tote, als würde sie noch im Sarg Vorwürfe gegen ihn erheben, der ihre Geheimnisse so ungebeten enthüllte.

Er biss die Zähne zusammen und blickte starr vor sich nieder.

»Zum Teufel!«, murmelte er endlich, »ich weiß doch, dass ich nicht aus niedriger Neugierde handle, sondern weil ich hoffe, deinen Tod, Mary, dadurch vielleicht aufklären und rächen zu können! Vorwärts, Sherlock Holmes, alter Bursche! Fürchtest du dich am Ende gar vor dem, was du nun erfahren wirst?«

Rasch trat er an das Fenster und öffnete das kleine Bündel.

In jener spitzen, scharfen Handschrift, die er schon vom Fenster aus beobachtet hatte, leuchteten ihm als Überschrift auf der ersten Seite die Worte entgegen: Geliebte, ewig und unselig Geliebte!

Wirst du mich endlich erhören? Wirst du endlich wieder die Stunden seligster Liebe erneuern, mit denen du mich einst beglücktest? Lasse mich nicht länger warten, Mary – ich weiß, dass der Verhasste, der dich vor dem Gesetz besitzt, verreist ist – ich komme heute Abend, und ich werde zu dir zu dringen wissen, das schwöre ich dir bei der Liebe, die auch du mir unter so heißen Küssen geschworen hast.

Eine Unterschrift fehlte unter diesem Brief. Mit einem leisen Stöhnen ließ Sherlock Holmes den Brief sinken.

So war es dennoch wahr, was er gefürchtet hatte – Mary war nicht die reine, hehre Frau, für das er sie gehalten hatte!

Er nahm den nächsten Brief. –Auch er enthielt glühende Liebesversicherungen, und diesmal stand darin ein Satz, der bewies, dass Mary ihn erhört hatte:

Wie soll ich dir jemals zu Ende danken, was du für mich getan hast, Mary?! Ich werde bis in meinen Tod, der ja nicht mehr fern ist, an die süße Stunde den­ken, die du mir gestern schenktest. –Und nun habe ich nur noch die eine Bitte, die ich stammeln, die ich wieder­holen werde, bis du mich erhörst: Komm mit mir, sei meine Frau, folge mir hinaus in die Ferne, wo kein Neid und keine Verfolgung uns erreichen kann …

In diesem Ton gingen die Briefe weiter, deren es im ganzen sechs oder sieben sein mochten.

Nur eine Merkwürdigkeit fiel dem Leser dabei auf: auf keinem der Briefe befand sich ein Datum. Nur das mehr oder weniger zerknitterte und vergilbte Aus­sehen ließ erkennen, dass sie verschiedenen Zeiten ent­stammten. Unter einem der Schreiben fand sich als Un­terschrift das Wort Lione.

Gerade diesen Brief sonderte Sherlock Holmes von den übrigen ab, verwahrte ihn in seiner Brieftasche und band dann sorgfältig die anderen wieder zusammen.

»Ich muss den einen behalten«, murmelte er. »Diese Handschrift ist so absonderlich, dass sie mir helfen kann. Der Lord wird ihn nicht vermissen – und wenn er es tut, nun, so kann ich ihm nicht helfen. Ich bin nur froh, dass ich ungestört diesen kleinen Diebstahl begehen konnte.«

Er verwahrte das Schränkchen wieder ordnungs­mäßig und ging dann zu dem Sarg hin, von dem er noch einmal den Deckel abhob.

Unverändert in seiner Holdseligkeit lächelte ihm das entzückende Totenantlitz entgegen.

Sherlock Holmes stieß einen schweren Seufzer aus.

Er bückte sich und hauchte einen ehrfurchtsvollen Kuss auf die bleichen Finger, die so fest gefaltet auf dem weißen Kleide ruhten.

Dann schob er behutsam noch einmal die Spitzen beiseite, die den weißen Hals verhüllten.

Die blauen Male von den würgenden Händen wa­ren noch deutlicher als zuvor zu sehen.

Seine Lupe hervorziehend, betrachtete der Detektiv, der in diesem Moment wieder nichts als Beamter war, die dunklen Stellen genau. Und nun entdeckte er noch etwas, was ihm vorher entgangen war: Die eine Daumenspur war bedeutend breiter als die andere, wenn auch diese noch schmal für eine Männerhand war.

Ganz genau prägte er sich Größe und Form der schauerlichen Stellen ein.

Dann schob er die Spitzen wieder an ihre alte Stelle, deckte den Deckel über den Sarg und richtete sich hoch auf.

»Nur ein Athlet kann mit diesem einen Griff das arme Opfer getötet haben. Es war ein kleiner Mann von zartem Gliederbau, aber mit herkulischen Kräften. Ich will doch einmal zusehen, ob ich nicht in den Artistenkneipen meinen Mann aufstöbere!«

Als Sherlock Holmes die Halle wieder betrat, fand er dort Betsy wartend, die den Finger auf den Mund legte: »Mylord ist soeben aufgestanden«, sagte sie, »und wird sofort erscheinen. Wenn Sie ungestört mit dem Chauffeur sprechen wollen, so gehen Sie hinüber in das Kutscherhaus. Ich habe ihm gesagt, dass er dort warten soll.«

»Sie sind ein geschicktes Mädchen, Betsy. Sie können eine ausgezeichnete Kriminalgehilfin werden.«

Und ohne das Erscheinen des Lords abzuwarten, verließ er das Haus und begab sich durch ein Stück des Gartens in die Kutscherwohnung.