Werbeclip

Archive

Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 4 – Kapitel 1

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Vierte Episode
Die Lords der Roten Hand
Erstes Kapitel
Der Albtraum am Samstag

Arm in Arm schlenderten zwei junge Mädchen langsam durch die Gärten von Kérity-sur-Mer, einem Ort an der bretonischen Küste, den der berühmte Naturforscher Antoine Paganot geschaffen hatte. Am Ende einer prachtvollen Allee aus Rhododendren angekommen, setzten sie sich auf eine rustikale Bank, die von der dichten Krone eines Lindenbaums beschattet wurde. Beide schwiegen, jede von ihnen schien in düstere Gedanken versunken.

»Meine liebe Andrée«, sagte plötzlich die Ältere von beiden, »du machst einen Fehler, wenn du mir nicht mehr Offenheit entgegenbringst. Ich liebe dich wie eine leibliche Schwester, und ich bin mir sicher, dass du mir etwas verschweigst.«

»Aber nein, Frédérique«, erwiderte Andrée gereizt, »du irrst dich, ich habe nichts zu verbergen.«

Der Tonfall, in dem diese Worte gesprochen wurden, war gezwungen und von schlechter Laune geprägt, was ihrer Adoptivschwester nicht entging.

»Denkst du etwa, ich hätte nicht bemerkt, wie blass und traurig du in letzter Zeit geworden bist?«, fuhr Frédérique lebhaft fort. »Du hast dich sehr verändert, und es gibt noch jemanden außer mir, der das bemerkt hat.«

»Wen meinst du?«, fragte Andrée, deren Stirn plötzlich von einem flüchtigen Rot überzogen wurde. »Etwa Monsieur Bondonnat?«

»Du weißt genau, dass mein Vater, immer vertieft in seine botanischen Experimente, der zerstreuteste Mensch auf Erden ist. Nein, ich spreche von einem seiner Mitarbeiter – und du brauchst mich nicht zu fragen, wen ich meine, nicht wahr?«

Andrée senkte den Kopf und errötete noch tiefer.

»Du weißt doch, dass Roger Ravenel eines Tages mein Ehemann werden soll, das mache ich kein Geheimnis, ich bin nicht so verschlossen wie du. Und ebenso weißt du, dass Monsieur Paganot dich sehr bewundert, und das auf eine äußerst respektvolle Weise.«

»Hat Monsieur Paganot dich also beauftragt, mir mein Geheimnis zu entlocken?«

»Siehst du, kleine Geheimniskrämerin, du hast doch etwas zu verbergen!«

»Oh! Es ist ein trauriges Geheimnis«, murmelte Andrée melancholisch.

»Egal! Du hast eines, also vertraue mir. Sprich offen mit mir, und ich werde einen Weg finden, Monsieur Paganot zu beruhigen, ohne dich zu verraten.«

Andrée fiel ihrer Adoptivschwester um den Hals.

»Du hast recht, liebe Frédérique«, sagte sie. »Du bist meine einzige Freundin, meine wahre Schwester, und ich bereue es, dir etwas verheimlicht zu haben.«

»Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun«, erwiderte Frédérique lächelnd. »Also, ich bin ganz Ohr.«

»Die Geschichte, die ich dir erzählen werde, ist sehr traurig, ja, geradezu schrecklich!«

Plötzlich erbleichte das junge Mädchen und begann am ganzen Körper zu zittern.

»Ich muss«, fuhr Andrée fort, diesmal unwillkürlich leiser werdend, »noch einmal über das schreckliche Unglück sprechen, das den Tod meines Vaters herbeiführte.«

»Sprich«, antwortete Frédérique, »so schmerzlich die Erinnerung an den Tod von Monsieur de Maubreuil für mich auch ist.«

»Du hast nicht vergessen, dass es an einem Samstag war, als mein Vater feige von einem Amerikaner ermordet wurde, den er unvorsichtigerweise als Assistenten angestellt hatte.«

»Dieser niederträchtige Baruch Jorgell, der jetzt in einer Irrenanstalt eingesperrt ist.«

»Nun, ich bin inzwischen überzeugt, dass mein Vater nicht gerächt wurde. Ich bezweifle sogar, dass der wahre Baruch Jorgell in diesem Lunatic Asylum sitzt. Jeden Samstag, zur selben Stunde, zu der mein Vater erschlagen wurde, werde ich von einem fürchterlichen Albtraum gequält! Und das ist kein gewöhnlicher Albtraum. Es steckt etwas Geheimnisvolles, Unerklärliches dahinter.«

Während Andrée diese Worte sprach, zeichnete sich in ihrem Gesicht eine tiefe, fast unerträgliche Angst ab. Auch Frédérique war erschüttert und erwartete gespannt die Fortsetzung der seltsamen Erzählung.

»Das Erstaunlichste«, fuhr Mademoiselle de Maubreuil fort, »ist, dass ich in meinem Traum Gestalten sehe, die mir vollkommen fremd sind, die jedoch immer dieselben bleiben. Zuerst erscheint ein alter Mann mit rosiger Gesichtsfarbe und schneeweißen Locken. Dann sehe ich zwei junge Männer, die wohl seine Söhne sind. Sie sprechen freundlich miteinander, doch ich spüre, dass zwischen den beiden Brüdern eine geheime Feindseligkeit herrscht.«

»Bis hierhin«, unterbrach Frédérique, »ist nichts besonders Schreckliches geschehen. Auch mir sind im Traum schon fremde Gesichter begegnet.«

»Warte nur, jetzt wird der Albtraum furchtbar. Der ältere Bruder, den ich im Traum sehe, ist allein in einem luxuriösen Zimmer – ein Raum, den ich dir fast detailgetreu beschreiben könnte, so oft habe ich ihn schon gesehen. Er steht vor einem großen Spiegel, aber das Gesicht, das er im Spiegel sieht, ist nicht seines, sondern das von Baruch Jorgell, dem Mörder. Allmählich beginnt sich das Gesicht des Mannes, der da steht und vor Angst verzerrt ist, in das des Mörders zu verwandeln. Vor meinen Augen wird aus dem anständigen Gentleman, dem älteren Bruder, Baruch Jorgell.«

»Das ist Wahnsinn, Andrée! Du bist ja völlig von Sinnen!«, rief Frédérique, völlig ergriffen von dieser unglaublichen Geschichte.

»Das ist noch nicht alles«, sagte Andrée mit einem Schauder. »Dann muss ich mitansehen, wie mein Vater ermordet wird – genauso, wie es tatsächlich geschehen sein muss. Ich erlebe jede Phase des Dramas. Ich sehe meinen Vater, glücklich darüber, endlich das Geheimnis der Diamantsynthese gelöst zu haben. Er beugt sich über einen Schmelztiegel, und in diesem Moment schlägt der Mörder zu – mit einem Hammer! Ich wache auf, eiskalt vor Schweiß, zitternd am ganzen Körper. Ab da ist an Schlaf für den Rest der Nacht nicht mehr zu denken. Wenn dieser schreckliche Albtraum weiter anhält, werde ich krank oder sterbe sogar daran…«

Andrée verstummte. Ihre Augen schienen noch immer von dem Schrecken dieser Visionen widerzuspiegeln.

»Und das passiert jeden Samstag?«, fragte Frédérique nachdenklich.

»Jeden Samstag. Und der Traum ist immer gleich und in drei Abschnitte unterteilt, wie ich es dir eben erzählt habe.«

»Das ist entsetzlich! Kein Wunder, dass du so blass und bedrückt bist. Wir müssen unbedingt ein Heilmittel dagegen finden, aber wie?«

»Ich muss sagen«, fügte Andrée hinzu, »dass der Traum in letzter Zeit an Intensität verloren hat. Er tritt zwar immer noch auf, aber manchmal wache ich nicht mehr voller Angst auf wie zu Beginn. Erst am Morgen erinnere ich mich, dass ich geträumt habe. Es ist, als würde mir eine geheime Stimme jeden Samstag ins Ohr flüstern: Vergiss es nicht!«

»Weißt du, was wir tun sollten?«, sagte Frédérique ernst. »Wir sollten meinem Vater alles erzählen.«

»Das habe ich auch schon überlegt, aber ich habe es nie gewagt. Er wird denken, dass ich den Verstand verloren habe!«

»Ganz und gar nicht. Er hat telepathische Phänomene gründlich untersucht und lehnt nichts von vornherein ab, ohne es selbst studiert zu haben. Er wird dir ganz natürlich erklären können, was hinter diesem Albtraum steckt.«

»Gut, ich denke, es wäre eine Erleichterung, dieses bedrückende Geheimnis endlich loszuwerden«, entschied Andrée mit plötzlicher Entschlossenheit.

»Dann setze deinen Entschluss gleich in die Tat um. Der erste Impuls ist immer der richtige. Warte nicht, bis du wieder zögerst.«

Die beiden jungen Frauen durchquerten die Gärten, vorbei an den glitzernden Gewächshäusern, wo Monsieur Bondonnat gerade die Wirkung farbigen Lichts auf das Pflanzenwachstum untersuchte, und betraten die Villa.

Das Haus von Monsieur Bondonnat, das in eine Bucht am Meer gebaut war, galt als Inbegriff modernen wissenschaftlichen Komforts. Alle Wände waren mit großen Keramikplatten verkleidet – glänzendes Steinzeug oder Porzellan in harmonisch abgestimmten Farben, um Keimen keinen Unterschlupf zu bieten. Zum Heizen wurde weder Holz, Kohle noch Gas verwendet; überall befanden sich elegante elektrische Heizkörper, die auf Knopfdruck Wärme erzeugten. Im Sommer sorgten unsichtbare Ventilatoren für kühle, aromatisierte Luft. In der Speisesäle rieselten kleine Wasserströme murmelnd die Porzellanwände hinab und spendeten erfrischende Kühle.

Andrée und Frédérique fanden den alten Wissenschaftler in seinem Arbeitszimmer, das den Blick auf die Gärten und die Klippen bot. Auf deren Gipfel befanden sich Hagelabwehrkanonen und andere sonderbare Apparate, die Monsieur Bondonnat für seine Experimente nutzte. In der Ferne konnte man ein verfallenes Schloss sehen, dessen Dach eingestürzt und dessen Türme zerfallen waren. Dort war Monsieur de Maubreuil ermordet worden, und die Einheimischen mieden es, überzeugt, dass der Geist des Opfers dort spuke.

Monsieur Bondonnat, der gerade damit beschäftigt war, Pflanzengewebe unter dem Mikroskop zu untersuchen, unterbrach seine Arbeit und fragte die beiden jungen Frauen lächelnd, warum sie ihn in seinen geliebten Studien störten.

Doch plötzlich wurde Monsieur Bondonnat ernst, als Andrée ihm den Grund ihres Besuchs mitgeteilt hatte. Er lauschte aufmerksam und schweigend dem Bericht von Mademoiselle de Maubreuil. Er blieb nachdenklich, unfähig, eine Erklärung dafür zu finden, warum dieser schreckliche Albtraum mit solch einer unerbittlichen Regelmäßigkeit auftauchte.

»Dies ist ein Fall außergewöhnlicher Telepathie«, sagte er schließlich. »Und ich stimme Frédérique zu: Baruch ist nicht verrückt, und es ist vermutlich nicht er, der in der Irrenanstalt eingesperrt ist. Wann, mein liebes Kind«, fügte er hinzu, »hat dieser Albtraum das erste Mal begonnen?«

»An dem Tag, an dem wir von der Verhaftung des Mörders in einer Pension in New York erfuhren.«

»Das beweist, dass es sich bei deinem Erlebnis nicht um eine gewöhnliche Halluzination handelt. Du musst wissen, dass ich den Verlauf des Prozesses gegen Baruch aufmerksam verfolgt habe, und die Umstände seiner Verhaftung waren mir immer ein Rätsel. Es muss dort in Amerika ein Drama stattgefunden haben, von dem wir nichts wissen. Ich muss lange und gründlich über diese Angelegenheit nachdenken.«

»Aber glauben Sie, Vater«, fragte Frédérique besorgt, »dass Andrée weiterhin von dieser schrecklichen Vision heimgesucht wird?«

»Ich denke, der Albtraum wird sie noch lange verfolgen, doch wie die bisherigen Anzeichen vermuten lassen, wird seine Intensität allmählich abnehmen. Andrée muss nur den Mut finden, sich nicht mehr davor zu fürchten und ihn als eine Art Warnung für unbekannte, mysteriöse Ereignisse zu sehen.«

»Eine Sache in meinem Traum bleibt völlig unerklärlich«, sagte Andrée, deren Aufregung allmählich abklang, »und das ist die plötzliche Verwandlung des Mannes, dessen Gesicht sich verändert.«

»Es gäbe nur eine mögliche Erklärung«, antwortete Monsieur Bondonnat nachdenklich. »Man könnte annehmen, dass der Mörder sein Gesicht chirurgisch verändert hat. Das ist schon vorgekommen. Dann könnte es sein, dass er, wenn er allein ist, sein wahres Gesicht wieder sieht. Aber das ist nur eine vage und gewagte Hypothese.«

Die beiden jungen Frauen schwiegen. Auch Monsieur Bondonnat versank wieder in Gedanken. Trotz seiner beruhigenden Erklärungen fühlte er sich verunsichert, denn noch nie war er mit einem solch außergewöhnlichen Fall konfrontiert worden.

Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, und mit einem gutmütig-spitzbübischen Lächeln wandte er sich an seine Tochter: »Meine liebe Frédérique, würdest du mir die Freude machen, uns für einen Moment allein zu lassen? Andrée und ich müssen etwas besprechen.«

»In Ordnung, ich gehe schon«, sagte Frédérique lachend. »Ich habe kein Interesse an euren Geheimnissen.«

Mit einem Augenzwinkern verließ sie den Raum.

Als Monsieur Bondonnat mit Andrée allein war, nahm er einen ernsteren Ton an: »Mein Kind, ich wollte schon lange ein ernstes Gespräch mit dir führen. Gestern hatte ich ein langes Gespräch mit meinem Mitarbeiter, Monsieur Antoine Paganot. Er hat mich offiziell gefragt, ob du bereit wärst, seine Frau zu werden.«

»Und was haben Sie ihm geantwortet?«, stammelte Andrée, tief bewegt und errötend.

»In meiner Rolle als dein Vormund, dein Freund und dein Ersatzvater habe ich geantwortet, wie es wohl auch dein Vater, der arme Maubreuil, getan hätte. Ich schätze Monsieur Paganot sehr. Er ist ein ehrenhafter Mann und ein herausragender Wissenschaftler. Ich habe ihm daher gesagt, dass ich diese Verbindung von ganzem Herzen unterstützen würde, aber bevor ich ihm eine endgültige Antwort gebe, wollte ich diejenige fragen, die es am meisten betrifft. Du weißt, dass ich dich niemals zu etwas drängen würde.«

»Ich schätze Monsieur Paganot ebenso hoch wie Sie«, murmelte Andrée verlegen. »Er hat viele großartige Eigenschaften…«

»Ich sehe, wir sind uns einig«, sagte der alte Wissenschaftler lächelnd.

»Ich weiß, dass mein Vater Monsieur Paganot sehr schätzte. Das ist für mich Grund genug, Ihrer Wahl zuzustimmen.«

»Dann kann ich also meinem Mitarbeiter die erfreuliche Nachricht überbringen?«

»Ja, natürlich.«

»Aber«, fuhr Monsieur Bondonnat fort, »ich hoffe, dass du nicht nur aus Respekt vor dem Willen deines Vaters und aus Rücksicht auf mich zustimmst?«

»Nein«, entgegnete Andrée lebhaft, »ich habe große Sympathie für Monsieur Paganot, und ich werde keinen anderen Ehemann an meiner Seite haben wollen.«

Ein wenig beschämt über ihre spontane Offenheit senkte sie den Blick und wurde ganz rot.

»Sehr gut!«, rief der alte Wissenschaftler. »Du hast ehrlich gesprochen, und dafür beglückwünsche ich dich. So bin ich sicher, dass du diese Ehe nicht widerwillig eingehst.«

Die junge Frau antwortete nur mit einem Lächeln, das mehr sagte als tausend Worte.

»Mir gefällt diese Ehe auch deshalb besonders«, fuhr der Naturforscher fort, »weil ich beschlossen habe, Frédérique mit Monsieur Ravenel zu verheiraten. Beide Hochzeiten sollen am selben Tag stattfinden, und so werde ich meine beiden liebsten Mitarbeiter nicht verlieren. Wir werden weiterhin als Familie zusammenleben wie bisher. Komm her, mein Kind, ich bin heute wirklich glücklich, sehr glücklich!«

Andrée fiel ihm dankbar in die Arme.

»Wie werde ich mich jemals bei Ihnen revanchieren können?«, flüsterte sie gerührt.

»Ach, ich habe noch etwas vergessen«, unterbrach der alte Mann plötzlich. »Sobald du verheiratet bist, möchte ich, dass wir nach Amerika reisen.«

»Ich werde alles tun, was Sie wünschen.«

»Dieser Reise ist unerlässlich. Ich will die Wahrheit über Baruch herausfinden. Ich möchte vor Ort eine gründliche Untersuchung durchführen. Mein Prinzip ist, den Dingen auf den Grund zu gehen. Nur in Amerika werden wir die endgültige Erklärung für diesen Albtraum finden, der dich so lange gequält hat. Sprich vorerst mit niemandem über diese Reise, bis ich es dir erlaube.«

In diesem Moment kehrte Frédérique ins Arbeitszimmer zurück.

»Sind eure Geheimnisse endlich gelüftet?«, fragte sie scherzhaft.

»Ja, endlich!«, antwortete der Naturforscher lächelnd.

»Na, das wurde aber auch Zeit!«

»Andrée wird dir das Geheimnis selbst verraten«, sagte Monsieur Bondonnat. »Es ist eine gute Nachricht, und ich möchte ihr die Freude lassen, es dir zu erzählen. Jetzt geht weiter spazieren, ich muss mich wieder an die Arbeit machen.«

Die beiden jungen Frauen verließen, Arm in Arm, das Zimmer, und schon bald erfüllten die fröhlichen Stimmen der beiden die Gärten der Villa.