Nick Carter – Band 15 – Ein verbrecherischer Arzt – Kapitel 8
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verbrecherischer Arzt
Ein Detektivroman
Ein Strich durch die Rechnung
Als Chick in Patsys Begleitung den Madison Square in der Hoffnung kreuzte, Nick Carter in der Nachbarschaft des Staples’schen Hauses entdecken zu können, erblickte er Ida, die in offenbar großer Hast gerade an ihnen vorüberlief, ohne die beiden zu sehen. Als Chick sie anrief, wendete sie sich nach ihm um und sagte hastig: »Das nenne ich ein glückliches Zusammentreffen – wo ist Nick? Ich muss ihn sofort sprechen!«
»Dann sind wir auf der nämlichen Fährte, denn auch wir brauchen ihn dringlich!«, bemerkte Chick.
Sie beschlossen nach kurzer Überlegung, sich nach Cooper Square zu begeben; an dem dortigen Denkmal war ihr Rendezvous für alle Fälle, bei denen keine anderen Verabredungen getroffen worden waren. Rasch nahmen sie einen Zweispänner und fuhren zu dem Platz. Doch schon unterwegs, an der Ecke von Broadway und 14th Street, erblickte Chick unvermutet den Meister, ließ den Kutscher halten und winkte den Detektiv heran.
»Etwas Wichtiges vorgefallen?«, erkundigte sich Nick Carter, der sofort an den Wagenschlag herangetreten war und die Insassen des Fuhrwerks nun überrascht musterte.
»Gewiss, Nick«, eröffnete Ida den Reigen, »Dr. Staples hat den Spieß umgedreht und Mr. Collins nach seinem eigenen Haus an der 22nd Street entführt.«
»Nicht möglich!«, stammelte Nick, voller Überraschung einen Schritt zurücktretend.
»Nur allzu wahr, Nick!«, bestätigte das schöne Mädchen. »Vor einer Stunde erschien er im Collins’schen Haus und erklärte in Gegenwart von Collins sen., seinem Patienten und dessen Gattin, dass er deine Anordnungen für die einzig richtigen halte und dir von Herzen dankbar sei, dass du seinem Freund die Augen geöffnet und ihn über seinen wahren Zustand unterrichtet hättest!«
»Der Schuft!«, fiel Nick Carter zähneknirschend ein. »Doch weiter!«
»Was soll ich dir sagen, Nick – er wusste honigsüß zu sprechen, und als er ausführte, dass es ihm bei seiner großen Praxis nicht möglich sei, im fremden Haus die Behandlung so sorgfältig zu überwachen wie in seinem eigenen, wo er den Freund und Patienten allstündlich unter den Augen habe, da war selbst ich von der Folgerichtigkeit seiner Ausführungen durchdrungen. Sowohl der alte Herr Collins als auch dessen Schwiegertochter waren ohne Weiteres damit einverstanden, dass deren Gatte zum Haus seines Arztes und Freundes übersiedeln und dort bis zu seiner Wiederherstellung in freiwilliger Gefangenschaft bleiben sollte. Vor einer halben Stunde ist er mit Sack und Pack zum Staples’schen Haus umgezogen und weilt nun dort.«
»Ein meisterlicher Schachzug!«, erklärte Nick Carter finster. »Der Mann hat es verstanden, mich gegen mich selbst auszuspielen und mich mit den eigenen Waffen geschlagen – doch noch ist nicht aller Tage Abend – was wisst ihr zu berichten, Jungs, auch Hiobsbotschaften?«
Doch seine Miene klärte sich auf und umwölkte sich wieder, als er nun Chick und Patsy berichten hörte.
»Wäre dieser Dr. Staples nicht ein solch angesehener Arzt, so würde ich gegen ihn den Verdacht hegen, dass er diesen Markar als Krankenwärter zur Pflege des armen Mr. Collins jun. anzustellen und die giftige Medizin nur zu erhalten und stärker hergestellt zu sehen wünscht, um das Gehirn seines ihm vertrauenden Patienten zu zerstören!«, sagte schließlich der Detektiv, nachdem er minutenlang schweigsam vor sich hingestarrt hatte. »Ich kenne diesen Franzosen-Markar sehr genau – ich könnte ihn zeichnen, so schwebt mir sein gelbes Spitzbubengesicht vor – er stand schon wiederholt unter der Anklage, reiche alte Leute im verbrecherischen Einverständnis mit deren ungeduldig wartenden Erben zu Tode gepflegt zu haben – doch es konnte ihm nie etwas bewiesen werden. Sage, Patsy«, wandte er sich, von einem plötzlichen Gedankengang erfasst, an seinen Jüngsten, »würdest du wohl diesen Hefty Davis aufzutreiben vermögen?«
»Gewiss«, erklärte der junge Detektiv. »Den finde ich auf direktem Weg.«
»All right, dann sage ihm, er möchte Franzosen-Markar um halb sechs heute Abend an der Ecke von 1st Street und Second Avenue erwarten.«
»Wen – den Markar – aber der sitzt doch?«, platzte Patsy heraus, und auch seine beiden Gefährten schauten den Detektiv verständnislos an.
»Eben darum«, erklärte Nick Carter mit feinem Lächeln. »Doch wir haben keine Zeit zu verlieren, und ich kann nichts weiter erklären – sage deinem Hefty, du hättest diesen Markar zufällig getroffen – er habe Krankenurlaub bekommen – sage ihm, was du willst, verstanden? Sorge nur dafür, dass Hefty guter Laune ist und sich bereit erklärt, seinen Freund Markar am bezeichneten Ort abzuholen und diesem Dr. Staples zuzuführen – wird er das tun?«
»Gewiss, Meister – der verkauft seine eigene Großmutter für fünfzig Cents – und wenn er nun gar fünfzig Plungs von dem Doktor erhalten soll, da – doch sagen Sie, Meister«, unterbrach er sich mit einem listigen Augenzwinkern, »Sie wollen doch nicht gar …«
»Ich will, dass du dich auf die Strümpfe machst, Patsy!«, unterbrach ihn Nick Carter lachend. »Und ich will ferner, dass Dr. Staples noch heute Abend den von ihm so dringend verlangten Krankenwärter mit dem weiten Gewissen vorfindet – und nun good bye!«
*
Pünktlich wie eine Uhr stellte der auf den Verdienst von fünfzig Dollar lüsterne Hefty Davis sich an der Ecke der Second Avenue und 1st Street auf, um die ihm verheißene Ankunft Markars, des Irrenpflegers, zu erwarten. Zwar traute er dem Frieden nicht recht, sondern glaubte halb, dass sein Freund Patsy ihn nur zum Narren halten wollte. Dennoch aber spähte er angestrengt nach allen Ecken und Richtungen aus, um gleich darauf vor Vergnügen einen Luftsprung zu tun, denn die Avenue hinunter kam wirklich und wahrhaftig Markar.
»Hallo, alter Junge!«, rief der überglückliche Davis sofort, indem er mit ausgestreckten Händen auf den anderen zueilte, der das Urbild eines verkommenen Südfranzosen mit gelblicher Gesichtsfarbe, funkelnden, schwarzen Augen mit dem sogenannten bösen Blick, steif gewichstem Schnurr- und Knebelbart sowie schwarzem, straffem Haupthaar war. »Ich dachte dich auf der Insel …«
»Willst du nicht noch lauter schreien?«, herrschte ihn Markar mit merkwürdig schnarrender Stimme an. »Vor allen Dingen nenne meinen Namen nicht – doch was gibt es sonst? Ein junger Bursche suchte mich auf – ich begreife nicht, woher er meinen Aufenthalt kennt, denn seit ich freiwilligen Urlaub von der Insel genommen habe, wohne ich erst seit zwei Tagen nahe bei Hell Gate.«
»Der feine Herr will dich wiederhaben!«, berichtete der angetrunkene Hefty nun, der vertraulich seinen Arm unter den des anderen geschoben hatte und nun mit diesem der Elizabeth Street zustrebte. »Ich glaube, es gibt ein Stück Geld für dich zu verdienen.«
»Eh bien, bin nicht abgeneigt – schadet nichts, lasse ich mich einige Wochen auf der Straße nicht sehen!«, bemerkte der Franzose in seinem gebrochenen, drollig klingenden Englisch. »Du sollst es nicht bereuen, Hefty, ich werde mich erkenntlich zeigen – doch wo wartet der Herr?«
»Hier im Saloon!«, berichtete der Strolch, indem er gleichzeitig in die Wirtschaft, in welcher es von Gästen wimmelte, hineineilte.
Doch enttäuscht schaute er sich um; sein Auftraggeber vom Morgen war nicht anwesend. Schon gab er sich erneut wehmütiger Befürchtungen wegen der ihm zugesagten fünfzig Plungs hin, als sein Blick auf einen schwarzbärtigen Mann fiel, der allein am vordersten Tisch saß und eine Fotografie in der Hand hielt, mit der er jeden Eintretenden aufmerksam zu vergleichen schien.
Eben trat auch Markar in das Lokal, und kaum hatte der Schwarzbärtige einen Blick auf ihn geworfen, als er auch schon heimlich Hefty und dessen Begleiter heranwinkte.
»Du hast Wort gehalten, Hefty«, sagte er leise. »Ich habe Franzosen-Markar erkannt!«
»Wer zum Teufel sind Sie?«, knurrte der Angetrunkene, den ihm unbekannten Schwarzbart misstrauisch betrachtend.
»Wer denn sonst als dein Auftraggeber von heute Morgen, dummer Kerl!«, lautete die leise Antwort. »Meinst du vielleicht, ich lasse mich in einer solchen Spelunke unvorbereitet sehen – es ist schon alles all right! Tritt näher, es braucht keiner zu sehen, dass ich dir Geld gebe – hier sind die 50 Dollar – du hast sie redlich verdient. So, nun schicke mir deinen Begleiter an den Tisch, und du selbst verziehe dich, verstanden?«
Das ließ sich der überglückliche Hefty nicht zweimal sagen. Blitzschnell hatte er die Banknoten in der Tasche verschwinden lassen; nun schwirrte er auf Markar zu, raunte diesem etwas in die Ohren und wurde an diesem Abend nicht mehr gesehen. Am nächsten Morgen tauchte er wieder auf, jedoch ohne die bewussten fünfzig, denn diese hatten sich, wie Hefty Davis zu seinem Schmerz wahrnehmen musste, über Nacht einfach wieder verplempert.
»Setzen Sie sich, Markar«, wendete sich der Schwarzbart an den mittlerweile an seinen Tisch herangetretenen Südfranzosen. »Ich möchte mit Ihnen sprechen. Sagte Ihnen Davis bereits, um was es sich eigentlich handelt?«
»Nicht die Spur!«, gab Markar im gleichen Flüsterton zurück. »Ich weiß nur, dass er einige Dollar versprochen bekam, suchte und fände er mich – das ist geschehen!«
»Wir hatten schon zuweilen miteinander zu tun«, bemerkte der Schwarzbart nun gedämpft. »Das letzte Mal, als Hefty Sie heranlotste, hatten wir einen Wanzenseher zu pflegen – erinnern Sie sich, in der Privatklinik an der 58th Street.«
»Habe viele Fälle seither gehabt, kann es nicht sagen«, gab der andere kopfschüttelnd zurück.
»Besinnen Sie sich nur!«, sprach der Schwarzbart jenem zu. »Sie sagten damals, ich könnte Sie immer wieder unter Beihilfe Heftys auffinden, darum suchte ich heute auch die ganze Bowery nach dem Burschen ab.«
»Well, ich habe so eine dunkle Ahnung, als ob es sich um Einspritzungen handelte«, meinte der Franzose nun. »Die wirken Wunder – der Mann wurde immer verrückter, und dann starb er.«
»Pst, nicht so laut!«, wehrte der Schwarzbart ab, einen prüfenden Blick rings um sich werfend. »Es ist ähnliche Arbeit zu verrichten – vielleicht zwei Monate lang – und ich zahle rund tausend Dollar. Ist es recht so?«
»Ja, mein Herr – doch ich übernehme kein Risiko!«, flüsterte der andere.
»Wer spricht von Gefahr?«, rief der Schwarzbart. Er lehnte sich vertraulich über den Tisch und flüsterte weiter: »Die Sache ist todsicher, Mann – ich brauche nur Verschwiegenheit.«
»Ich denke, Sie kennen mich – unsereiner plaudert nicht gern, man hat seine Gründe.«
»Ich verstehe!«, erklärte der Schwarzbärtige lachend. »Am besten ist es, Sie kommen sofort mit – recht so? Nun, dann wollen wir unverzüglich aufbrechen.«
Er hatte wieder in die Tasche gegriffen und schob ihm nun eine Banknote über den Tisch.
»Hier sind hundert Dollar Anzahlung. Sie sehen, ich knausere nicht – ich will nur saubere Arbeit!«
»Ich auch«, brummte der Franzose. »Ich habe meine Auftraggeber noch immer befriedigt!«
Eine Stunde später war Franzosen-Markar als Pfleger von William Collins jun. im Haus des Dr. Staples angestellt und hatte seinen neuen Dienst angetreten.