Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 7 – 3. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 7
Die Spürnase des Oberkellners
3. Kapitel
Ein gleichgültiger Gatte
Ein hochgewachsener, vornehm aussehender Herr kam gegen Abend aus Frankreich in London an und stieg mit blassem, undurchdringlichem Antlitz vor dem Palais Malcolm ab.
Es war Lord Henry Malcolm selbst, der mit einem Extrazug aus Paris fortgefahren war, um noch ein Schiff nach Dover zu erreichen.
Mit gemessenem Schritt, das dunkle Haupt in der gewohnten Weise ein wenig in den Nacken geworfen, schritt der Lord die Stufen zu seinem Heim empor.
Was würde er hören?
Was bedeutete die erschreckende und doch noch nichts Genaues besagende Depesche des berühmten Detektivs, von dem er wusste, dass er mit seiner Gattin gut bekannt gewesen war?
Die unheimliche Stille, die ihn empfing, der Geruch von Blumen und grünem Nadelholz, der ihm entgegenschlug, machten ihn erschauern.
Der erste Mensch, den er in seinem so seltsam veränderten Haus sah, war Sherlock Holmes, der ihm mit ausgestreckter Hand entgegentrat.
»Verzeihen Sie, Mylord«, sagte er leise, »dass ich Ihnen nicht deutlicher telegrafierte. Ichkonnte es nicht. Sie hätten die Trauernachricht zu plötzlich empfangen.«
»Trauer – Trauernachricht?«, stieß Malcolm hervor. »Was meinen Sie?«
»Ahnen Sie es nicht, Mylord? Ihre Gattin ist das Opfer eines unerhörten Verbrechens geworden … sie … weilt nicht mehr unter den Lebenden.«
Malcolm stützte sich schwer auf den Tisch in der Halle.
»Tot?«, fragte er mit verlöschender Stimme. »Meinen Sie ernstlich, dass meine Gattin … tot ist?«
Sherlock Holmes neigte zustimmend das Haupt.
Einige Sekunden starrte ihn der Lord an, als könne er das Gehörte nicht begreifen.
Seine Nasenflügel bebten, mühsam holte er Atem, eine beängstigende Blässe breitete sich über seine regelmäßigen Züge.
Aber nicht lange währte dieser Zustand.
Er presste die Lippen zusammen, richtete sich hoch auf und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Erzählen Sie. Verschweigen Sie mir nichts.«
Und der Detektiv erzählte.
So kurz wie möglich erstattete er Bericht, als handle es sich um einen fremden Fall. Auch hörte Malcolm mit seltsam unbewegtem Antlitz zu – gleichfalls, als handle es sich um eine Fremde.
Als Sherlock Holmes geendet hatte, fuhr er sich mit der Hand über die Augen und fragte dumpf: »Und Sie ahnen also nichts? Wissen nicht, wer der Täter war?«
»Ich sagte nur, dass ich nichts Bestimmtes wüsste. Über meine Ahnungen spreche ich nicht eher, als bis sie Gewissheiten geworden sind.«
»Aber Mr. Holmes, begreifen Sie doch – ich will, ich muss zumindest wissen, in welcher Richtung sich Ihr Verdacht bewegt. Sie glauben an einen Raubmord?«
»Und Sie, Mylord? Sie glauben nicht daran?«
Einige Sekunden kämpfte der Lord mit sich; dann sprach er mit schwerer Stimme: »Ich fürchte, es steckt etwas anderes dahinter. Leicht wird es mir nicht, eine Andeutung zu machen, die ich Ihnen gleichwohl nicht vorenthalten darf – es ist möglich, dass Eifersucht im Spiel ist.«
»Eifersucht! Sie meinen, dass Lady Mary einen … einen Verehrer hatte?«
»Nun, was das betrifft, so hatte sie mehr als einen – wundert Sie das? Meine Frau war sehr schön, wie Sie wissen, und die Männer, die ihr begegneten, waren sehr leicht entflammt. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass aus ihrer früheren Bühnentätigkeit her vielerlei Elemente mit ihr bekannt waren, deren Begriffe von Sitten und Ehre recht verschieden von denen meiner Kreise waren. Verehrer aber meinte ich nicht – die Sache liegt vielmehr umgekehrt – es gibt jemand, der sehr eifersüchtig auf die Lady um meinetwillen war.«
»Mylord«, sprach Sherlock Holmes kalt, »mit Rätselreden kann ich nichts anfangen. Drücken Sie sich deutlicher aus. Sie meinen, dass Sie ein Verhältnis mit einer Dame hatten oder haben, die eifersüchtig auf Ihre eigene Gattin war?«
Der Lord neigte zustimmend sein Haupt.
»Ich bekenne, dass ich in dieser Beziehung schuldig bin. Haben Sie von der schönen Ellen Brewer gehört?«
»Der Kunstreiterin?«
»Ja. Sie war meine Geliebte, ehe ich Mary heiratete. Während ich aber für sie nichts weiter als eine vorübergehende Passion empfand, wollte es das Unglück, dass Ellen eine wirkliche, tiefe Liebe zu mir fasste. Sie konnte mich nicht vergessen, und sie näherte sich mir wieder, als ich ein Jahr verheiratet war.«
»Sie konnten ihr also nicht widerstehen und hintergingen Ihre Gattin mit der Kunstreiterin. Das ist in Ihren Kreisen, die einen so hohen Begriff von Ehre und Sitte haben, ja nichts Ungewöhnliches!«
Erstaunt betrachtete der Lord den Detektiv, der so bitter lächelte. Allein ohne auf seinen Sarkasmus zu achten, fuhr er fort: »Ellen Brewer ist der Freund, mit dem ich eben jetzt in Paris war.«
»Ah! Nun, dann kann also doch diese Dame nicht bezüglich des Mordes in Betracht kommen.«
»Ellen nicht. Aber Ellen hatte Verwandte und Freunde, die eifrig in ihrem Interesse tätig waren. Man hat vielleicht meine Frau ermordet, weil dieser ganze Anhang von Ellen darauf rechnete, dass ich sie heiraten würde, wenn ich frei wäre.«
»Haben Sie Miss Brewer dergleichen versprochen?«
Der Lord richtete sich hoch auf: »Halten Sie mich für den heimlichen Urheber dieser schauderhaften Tat? Niemals habe ich Ellen so etwas gesagt. Ich liebte meine Frau und gab mich nur mit Ellen ab, weil ich schwach war und ihrer leidenschaftlichen Liebe nicht widerstehen konnte.«
»War Miss Ellen zugegen, als Sie mein Telegramm erhielten?«
»Nein, sie schlief, und ich reiste ab, ohne sie wecken zu lassen. Im Laufe der nächsten Tage muss sie jedoch in London eintreffen, da sie hier aufzutreten hat.«
»Gut, Mylord, ich werde diese Andeutung im Auge behalten. Können Sie mir die Adressen der Verwandten von Miss Brewer geben?«
»Ich bedaure! Selbstverständlich habe ich mit diesen Leuten niemals etwas zu tun gehabt. Meine Gattin selbst verkehrte noch mit einigen Freundinnen aus jenen Sphären, sie hätte Ihnen mehr darüber sagen können.«
Sherlock Holmes machte sich einige schnelle Notizen in sein Taschenbuch und verließ dann den Lord.
»Ich will Sie nun nicht länger in Ihrer Trauer stören«, sagte er ironisch. »Ist es Ihnen recht, wenn ich die Nachforschungen nach dem Mörder fortsetze?«
Malcolm fuhr auf: »Welche Frage! Wenn ich Sie nicht hier gefunden hätte, würde ich Sie sofort hergebeten haben! Sie scheinen zu denken, dass mich der furchtbare Tod meiner Gattin nicht in gebührende Aufregung versetzt?«
»O, bitte!«, wehrte der Detektiv ab. »Ich habe hier nur ein Amt und keine Meinung.«
»Das ist nicht der Fall, Mr. Holmes! Ich weiß, dass Sie ein großer Freund Marys waren – ich werde Ihnen deshalb auch noch eine Aufklärung geben, die Sie doch vielleicht überraschen dürfte. Hier – nehmen Sie dies.«
Malcolm überreichte ihm einen Brief, der von Lady Mary geschrieben und erst wenige Tage alt war.
Er lautete:
Lieber Henry, bitte, sende mir einen Scheck über zehntausend Pfund. Falls er dir etwas hoch erscheint, so möchte ich dir gleich zur Erklärung bemerken, dass ich eine ungewöhnlich hohe Schneiderinnenrechnung und ebenso ein reichliches Konto bei meiner Putzmacherin habe. Da du jedoch momentan in Paris mit deinem Freund sicherlich auch viel ausgibst, so wird es dir ja nicht darauf ankommen, meine Bitte zu erfüllen. Ich beabsichtige auch, auf ein paar Tage nach Schottland zu gehen – dazu werde ich dann noch neues Geld erbitten.
Es geht mir leidlich, und ich hoffe, du amüsierst dich nach Möglichkeit. Grüße deinen Schulfreund unbekannterweise von mir und nimm selbst freundliche Grüße von deiner Mary.
»Nun?«, fragte Sherlock Holmes. »Und was weiter?«
»Natürlich sandte ich sofort den Scheck, und wie Sie mir vorhin mitteilten, hat ihn meine Gattin ja auch eingelöst. Das Erstaunliche ist aber nun, dass sie das Geld weder für ihre Schneiderin noch für ihre Putzmacherin brauchte. Ich telegrafierte nämlich an diese beiden, um Mary eine Extraüberraschung zu bereiten: Ich wollte jene Rechnungen bezahlen und ihr dennoch den Scheck lassen. Die beiden Ateliers antworteten mir, dass Lady Malcolm leider gar keine Rechnung anstehen habe, da sie immer sofort bar bezahle.«
»Ah! Also hat sie das Geld für andere Zwecke gewollt.«
»Allerdings. Und noch dazu für Zwecke, die sie mir verheimlichen musste! Noch nie zuvor hat meine Frau ein unwahres Wort zu mir gesprochen, doch diesmal belog sie mich. Ich frage Sie, für wen wollte sie das viele Geld haben?«
Sherlock Holmes blickte mit finsterer Miene vor sich nieder. Dass Lady Mary rein wie ein Engel war, darauf war er zu schwören bereit. Das Geld war fort – und wahrscheinlich war es nicht geraubt, sondern sie hatte es freiwillig dem Besucher gegeben, der an dem verhängnisvollen Abend von ihr erwartet wurde.
Die Spuren führten zum Welthotel. Dort wollte nun der Detektiv seine Nachforschungen fortsetzen.
Als er Malcolm verließ, sagte dieser zögernd: »Mr. Holmes, ich habe vorhin gesagt, dass ich meine Frau geliebt habe. Sie können das glauben oder nicht – ich weiß, dass meine Handlungen sehr dagegen sprechen. Merken Sie sich aber das eine: Dieser Mord soll und wird gerächt werden! Sparen Sie mit keinen, noch so ungeheuer erscheinenden Kosten! Werfen Sie eher mit dem Gold um sich, als dass Sie es sparen! Ist der Anhang von Ellen Brewer — oder gar sie selbst daran beteiligt, so soll die unerbittliche Strenge des Gesetzes sie treffen. Ich brauche nicht hinzuzusetzen, dass Ihr eigenes Honorar ein ungewöhnlich hohes sein soll.«
Über Sherlock Holmes’ Gesicht legte sich ein helles Rot. »Ich bedaure«, sagte er kalt. »In dieser Sache bin ich tätig, weil mich die unglückliche Lady selbst zur Hilfe herbeirief. Ich werde mir diese Tätigkeit, die noch dazu nicht das Entsetzliche verhindern konnte, nicht bezahlen lassen. Wenn es mir gelingt, die Tat aufzuklären, so werde ich in der Befriedigung darüber genügenden Lohn finden.«
Mit einer kurzen Verbeugung war er verschwunden. Aber Sherlock Holmes verließ nicht das Haus.
»Ich muss diesen merkwürdig gleichgültigen Gatten doch noch ein wenig belauschen!«, murmelte er, während er draußen seitwärts von der Treppe in den Garten einbog und bis an die Terrasse ging, die an der Rückseite des Hauses, gerade vor Lady Marys Zimmer, lag.
Leise stieg er zur Terrasse hinauf und lugte durch die Fenster hinein.
Was er sah, erschütterte ihn tief.
Lady Mary lag aufgebahrt in der Mitte des Zimmers. Ihre wunderschönen Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß, und das Antlitz trug einen Ausdruck süßen Friedens, den es zuerst nicht gehabt hatte.
Nun öffnete sich die Tür, und Lord Henry erschien auf der Schwelle.
Er hatte die herabhängenden Hände zu Fäusten geballt und fuhr nun damit an beide Schläfen, als fürchte er, wahnsinnig zu werden.
Ein furchtbarer Schmerz drückte sich in seinen vorher so kalten Zügen aus, und er stürzte neben der Bahre nieder wie ein gefällter Baum.
Lange, lange verharrte er so.
Sherlock Holmes sah, wie ein wildes Schluchzen seinen Körper erschütterte, und wie die Tränen jedes Mal von Neuem hervorstürzten, wenn er einen Blick in das feierlich schöne Totenangesicht tat.
Endlich aber erhob er sich und ging an dieselbe Wandkassette, wo Sherlock Holmes vergeblich nach dem Geld gesucht hatte.
Die zitternden Hände des Lords tasteten an der Seitenwand im Inneren herum, bis sie eine bestimmte Stelle gefunden hatten.
Nun ein fester Druck – die Wand drehte sich in die Mauer hinein, und der Lord griff nach einem Paket Briefe, das dort lag.
Er trat damit an die Lampe und betrachtete die einzelnen Briefe. Mit seinen falkenscharfen Augen kannte Sherlock Holmes von seinem Versteck aus sehen, dass sie nicht von der Hand des Lords selbst herrührten; es waren feine, spitze Schriftzüge, während Malcolm eine auffallend starke, große Handschrift hatte.
Ein Fensterflügel stand offen, sodass der Lauschende nun hören konnte, was der Lord sagte.
»Da habe ich sie!«, sprach er mit harter, fast grausam klingender Stimme. »O, Mary, die Welt soll es nie erfahren, was du mir angetan hast – mag man lieber glauben, dass ich selbst ein Wüstling, ein untreuer Gatte war! Das ist besser, als wenn ich zu dem Verlust deiner Person auch noch den Fluch der Lächerlichkeit zu tragen hätte!«
Bei diesen Worten legte er die Briefe wieder in das Geheimfach zurück, von dessen Existenz offenbar außer der Lady nur noch er Kenntnis hatte, und zog den Schlüssel ab, den er in seine Brieftasche legte.
»Hier findet ihn niemand!«, murmelte er. »Und eher soll man mich selbst totschlagen, ehe ich einem Sterblichen Einblick in diese Briefe gewähre, die ein so unbarmherziges Licht auf den Mord werfen könnten.«
Nachdem dies geschehen, rückte sich Lord Henry einen Stuhl neben den Katafalk, ließ sich darauf nieder und versenkte sich in den Anblick des schönen, wachsbleichen Antlitzes, das nach wie vor lächelte – rätselhaft und friedlich lächelte.