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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 7 – 4. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 7
Die Spürnase des Oberkellners
4. Kapitel

Der Herr Oberkellner

In dem riesigen Welthotel wechselten die Gäste zu jeder Stunde, sodass es schwierig war, sich auf dem Laufenden in dieser Beziehung zu erhalten.

Indessen war seit heute Vormittag ein neuer Page in der Haupthalle angestellt, ein schlanker, junger Mensch, der eine starke Ähnlichkeit mit Harry Taxon aufwies.

Die Direktion des Hotels war durch Sherlock Holmes davon unterrichtet, dass Lady Malcolm ermordet war, und dass man unter ihren Gästen nach dem Verbrecher fahnden wolle.

Der Weltruf des Detektivs erleichterte ihm, beson­ders in London, vielfach seinen schwierigen Beruf, denn man kam ihm überall mit der größten Beflissenheit ent­gegen. Wusste man doch, dass Sherlock Holmes nie­mals einen unbegründeten Verdacht hegte, dass er nur selten eine Spur verfolgte, die sich später als irrtümlich erwies.

Mr. Lovell, nach dem er fahndete, hatte sich als Privatier in das Fremdenbuch eingeschrieben. Er war noch eine jugendliche, elegante Erscheinung, sehnig und regelmäßig gebaut. Seine Gesichtszüge waren etwas orientalisch geschnitten, obwohl dunkelblaue Augen von lebhaftem Feuer sie erhellten. Ein spitzer, brauner Vollbart umrahmte sein Gesicht, und seine Hände waren gut gepflegt und schmal.

Dieser letztere Umstand war es vor allem, der Sherlock Holmes auffiel, als er wenige Stunden nach dem Mord seinen ersten Pirschgang in das Welthotel unternahm.

Er wusste, dass die Morgenzeitungen noch nichts über den Mord bringen konnten.

»Ich werde Ihnen nicht sagen«, sprach er zu dem Direktor, »gegen wen ich einen Verdacht habe; das würde Ihre und Ihrer Beamten Unbefangenheit zerstören, und der schlaue Verbrecher, der sich wahrscheinlich sehr sicher fühlt, würde es merken. Das Beste ist, Sie engagieren mich als Saalkellner – ich vermute, dass die meisten Gäste ein oder mehrere Male täglich in Ihren Speisesälen verkehren?«

»Ja, das tun sie, denn unsere Küche ist nicht umsonst die berühmteste von London. Sie haben vollständig freie Hand, Mr. Sherlock Holmes, sich überall im Hotel unter welcher Verkleidung Sie auch wollen, zu bewegen, wenn Sie also zunächst Oberkellner sein wollen, so steht das in Ihrem Belieben.«

Eine Stunde später war Sherlock Holmes durch wahrhaft künstlerische Striche um Augen und Mund so verändert, dass ihn seine besten Freunde kaum erkannt hätten.

Er stellte seinen Gehilfen Harry als Page in der Halle an und befahl ihm: »Du passt genau auf, Harry, wann dieser Galgen­vogel Lovell das Hotel verlässt, und falls er einen Wagen benutzt, wohin er fährt. Ich habe draußen auf der Straße einen zweiten Wächter hingestellt, der ihm bei allen Wegen zu Fuß folgen soll. Die Dame, in deren Begleitung Lovell reist, übernehme ich zur Beobachtung selbst.«

»Wie wollen Sie das anfangen, Meister, wenn Sie zugleich Oberkellner im Speisesaal sein wollen?«

»Sei nicht so neugierig, Harry – ich habe schon Schwierigeres vollbracht, als zwei Ämter zu gleicher Zeit zu bekleiden.«

Im Laufe des ersten Tages schien Mr. Lovell weder ausgehen noch im Speisesaal essen zu wollen.

Er bestellte sich die Mahlzeiten auf sein Zimmer, und der Zimmerkellner berichtete, dass die Herrschaften – Lovell und seine Dame, Miss Elvira Brosetti – sehr aufgeräumt und guter Dinge seien.

Die beiden Zimmer hatten die Nummern 27 und 28. Sherlock Holmes ließ sich sofort die Nummer 29 geben. Nummer 26 war nicht zu haben, weil bereits von einem noch nicht eingetroffenen Fremden vorausbestellt.

»Wieso hat dieser Fremde eine bestimmte Nummer vorausbestellen können?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Er verlangte nur im ersten Stock ein Schlafzimmer mit eigenem Badezimmer. Das ist eben Nummer 26 – das zweite Badezimmer dieses Stockwerkes liegt allein, hat keine Verbindung mit einem Schlafzimmer und kam deshalb nicht in Betracht.«

»Kennen Sie den Fremden, der das Zimmer bestellt hat?«

»Nein, nicht, persönlich. Hier ist die Depesche, welche wir vorgestern erhielten.«

Sherlock Holmes las das Telegramm, das aus Paris kam und lautete:

Reservieren Sie mir von heute ab gutes Zimmer mit Badezimmer, nicht höher als ersten Stock.

Baron Ballières.

»Also ein französischer Name«, murmelte der De­tektiv vor sich hin. »Das mag der reinste Zufall sein, aber es kann auch eine Verabredung mit Lovell und Co. vorliegen!«

Er selbst bezog also die Nummer 29, hatte aber die Enttäuschung, dass die Verbindungstür zwischen diesem und dem nächsten Zimmer durch schwere Eichenschränke vollständig zugebaut war.

Das Erste, was er hinter verschlossenen Türen tat, war, ein Loch in die hintere Schrankseite und weiter durch die Tür zu bohren. Auch noch den drüben platzierten Schrank vermochte er mit seinen ausgezeichneten Diebesinstrumenten zu durchlöchern; aber selbst dann hörte er noch nicht den geringsten Laut herüberdringen.

»Ich muss einen Nachschlüssel haben, der alle Türen schließt«, sagte Sherlock Holmes zu dem Manager des Hotels, »vielleicht kommt dieser Baron Ballières erst morgen oder übermorgen an – jedenfalls möchte ich für eine Stunde ungestört dort drinnen sein.«

Sofort erhielt er den gewünschten Nachschlüssel, und nun glitt eine auf Filzsohlen gehende, unscheinbare Männergestalt in Nummer 26 hinein.

Sorgsam verriegelte Sherlock Holmes die Tür hinter sich, schlich an die Verbindungstür – hier stand kein Schrank davor – und blickte durch das Schlüsselloch. Er sah eine sehr hübsche Dame, deren rötlich braunes Haar hoch aufgesteckt war, und die sich damit beschäftigte, in dieses Haar eine Perlenschnur zu flechten, die sie vor einem auf dem Tisch stehenden Handspiegel ausprobierte.

Neben ihr auf dem Sofa saß Mr. Lovell.

»Ich freue mich unbändig!«, freute sich Miss Elvira, »dass ich nun endlich die Perlen habe! Lange genug habe ich dich darum bitten müssen, Adalbert.«

»Es war nicht leicht, mein Kind! Diese Perlen kosten ein Vermögen.«

»Bah, du hast doch das Vermögen leicht genug erworben!«

»Um Gottes willen, sprich leise! Man ist in einem Hotel niemals sicher vor Lauschern.«

»Ach was, du bist gar zu ängstlich! Aber sieh nur, Adalbert, haben sie nicht wirklich einen unvergleichlichen Glanz?«

»Ein Kind kann den Unterschied zwischen diesen und deinen bisherigen, nachgeahmten Perlen sehen. Sie klei­den dich entzückend.« Und Lovells Hand stahl sich um Elviras Taille, während er verliebte Küsse auf ihren weißen Hals drückte.

»Bei welchem Juwelier hast du sie denn gekauft?«

»Kind, so etwas fragt man doch nicht! Lass dir genug daran sein, dass es einer unserer Hofjuweliere war, und dass sie zweitausend Pfund Sterling gekostet haben.«

Elvira jubelte auf. Ihr machte es offenbar die allergrößte Freude, dass die Perlen so teuer – nicht, dass sie so schön waren.

»Und jetzt«, rief sie aus, »soll ein lustiges Leben losgehen! Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich darauf bin, dass ich die dumme Mary veranlasst habe, mich trotz des Verbotes ihres Mannes zu empfangen …«

»So schweige doch!«, unterbrach sie Lovell gereizt. Sherlock Holmes klopfte das Herz zum Zerspringen.

Von was für einer Mary sprachen sie?

War er wirklich hier dem oder den Mördern auf der Spur?

Elvira lachte belustigt auf.

»Wahrhaftig!« rief sie aus. »Wenn man dich ansieht und anhört, so sollte man meinen, dass du ein Kapitalverbrechen auf dem Gewissen hast! Und dabei hast du doch bloß eine sehr reiche Persönlichkeit um ein paar tausend Pfund beschwindelt!«

»Das ist immerhin genug«, brummte Lovell, »um uns in die ärgste Patsche zu bringen, wenn es herauskommt.«

»Es wird aber nicht herauskommen. Lieber, kleiner Adalbert, niemand hat dich oder mich gesehen – wer soll uns denn verraten?«

»Man braucht nicht gesehen zu werden, um überführt zu werden«, erwiderte Lovell übellaunig. »Ich habe den Verdacht, dass dieser scheußliche Sherlock Holmes sich sogleich in die Sache mischen wird, denn er war ja ein Freund der armen Lady …«

Elvira fuhr zornig empor: »Bedauerst du sie auch noch gar? Warst du viel­leicht auch verliebt in das Mondscheingesicht, du Narr?«

»O Himmel, nein! Aber es war doch wahr­haftig nicht nötig, dass sie ermordet wurde! Ich fürchte, Tiny hat uns da eine nette Suppe einge­brockt.«

Hart und grausam sah nun Elviras hübsches Gesicht aus, als sie antwortete: »Tiny war ein Esel, und er mag zusehen, dass er den Bluthunden nicht in die Finger kommt. An dem Ort, wo er sich verbirgt, wird ihn keiner suchen, hahahaha!«

»Jedenfalls wollen wir morgen oder übermorgen London verlassen – es wäre unklug gewesen, sofort abzureisen; aber länger als ein paar Tage mochte ich nicht warten. Es ist mir unheimlich hier.«

»Du bist eben nicht leichtherzig genug, Adalbert! Du passt zu dem langweiligen Lord Malcolm, der immer eine Grabesmiene zur Schau trägt, auch wenn er den Champagner in Strömen fließen lässt.«

»Schon wieder nennst du Namen!«, rief Lovell ärger­lich. »Kannst du dir denn nicht die gewöhnlichste Vor­sicht angewöhnen?«

»Wozu?«

»Weil es sich nicht nur um mich, sondern wenn mir etwas passiert, auch um dich handelt!«

»Bah!«, rief Elvira, »mir kann man nichts tun!«

»Und darauf allein kommt es dir an!«, ereiferte sich Lovell heftig. »Ob es uns, Tiny und mir, schlecht geht, das ist dir egal?«

»Bewahre! Egal wäre es mir nicht – aber schließ­lich bin ich doch unschuldig an euren Taten …«

»Soso! Nun, das Gesetz denkt anders darüber. Der Anstifter einer Tat wird oft härter bestraft als der Täter.«

Sorglos gab Elvira ihren Perlen eine andere Lage.

»Du bist unausstehlich, mein Freund! Aber ich habe nicht tust, mich mit dir zu zanken – es lebe alles, was lustig und schön ist! Also es lebe vor allem Elvira Brosetti!« Und lachend leerte sie aufs Neue ein Glas von dem Sekt, dem sie schon reichlich zugesprochen hatte.

Draußen an ihrer Tür klopfte es, und Lovell sprang erschrocken auf. Es war nur ein Page, der ihm meldete, die Billetts zu der heutigen Oper seien bestellt, und ob Mr. Lovell einen Wagen befehle.«

»Natürlich!«, rief Elvira vom Sofa her. »Man kann doch nicht zu Fuß in die Oper gehen.«

Lovell verließ mit dem Pagen einen Augenblick das Zimmer, und der Lauscher an der Tür sah, wie ihm seine Dame eine Grimasse nachschnitt.

»Geizkragen!«, murmelte sie. »Wie ich diese Eigenschaft an ihm hasse! Es war ihm nicht recht, dass ich den teuren Hotelwagen bestellte, ich sah es ihm an! Na, allzu lange werde ich mich ja nicht mit ihm plagen – ich bin wahrhaftig seiner überdrüssig und habe ganz andere Kavaliere zur Hand, wenn ich will! Gut, dass ich die Perlen noch erwischt habe!«

Eine Viertelstunde später befand sich Sherlock Hol­mes auf einer Rundfahrt bei den vornehmsten Juwelieren in den Hauptstraßen, um zu erfahren, bei welchem von ihnen Lovell jene kostbare Perlenschnur gekauft hatte.

Zu seinem Erstaunen hörte er überall, dass man in den letzten Tagen kein solches Stück verkauft hatte.

Die Perlen müssen gleichwohl von einem unserer ersten Juweliere stammen, dachte der Detektiv. Wenn der Kerl zweitausend Pfund dafür bezahlt hat, so kann er sie nicht bei irgendeinem unbedeutenden Händler gekauft haben.

Als er indessen seine Rundfahrt beendet und stets den gleichen Bescheid erhalten hatte, dämmerte ihm eine andere Erklärung: Elvira hatte Lovell einen Geizkragen genannt, wie nun, wenn er sie betrogen hatte, wenn die Perlen falsch waren?

Zum ersten Mal seit gestern überflog der Schatten eines Lächelns Sherlock Holmes’ Gesicht.

Der Gauner!, dachte er. Seinem Gesicht nach traue ich es ihm schon zu, dass er die eitle Geliebte mit imitierten Perlen abspeist und lieber das Geld für sich behält! Doch nun gilt es, herauszubekommen, wer jener Tiny ist, von dem das Paar sprach. Ich muss jedenfalls heute Abend in die Oper gehen, um ihnen auf den Fersen zu bleiben.«

Der Portier des Welthotels hatte für Mr. Lovell zwei Logenplätze reserviert – es war nicht schwer, noch einen dritten Platz in derselben Loge für Sherlock Hol­mes zu beschaffen.

Harry Taron übernahm die Überwachung der Ver­dächtigen, während sich der Detektiv zu seiner Woh­nung begab, wo er eine neue vollständige Umwandlung mit sich vornahm. Er wurde binnen einer halben Stunde zu einem jugendlichen, blonden Lebemann mit fesch aufgewirbeltem Schnurrbart, der in Frack und weißer Kra­watte sehr einnehmend aussah.

In der Loge der Großen Oper saßen Elvira und ihr Galan ebenfalls in großer Toilette. Auf dem Ausschnitt ihres rötlichen Kleides gleißten nun die Perlen, welche Sherlock Holmes mit begreiflichem Interesse be­trachtete. Es wollte ihm nun in der Tat scheinen, als ob es sogenannte Bourguignon-Perlen seien, die sehr mühsam aus Wachs und Fischschuppen hergestellt werden.

Gegen Ende des zweiten Aktes erschien in der Loge als Besucher ein schmächtiger, sehr kleiner Herr, der ebenfalls einen blonden Schnurrbart trug und freund­schaftlich von den beiden willkommen geheißen wurde.

Da sich noch ein Insasse in der Loge befand, so war man vorsichtig und drückte sich gewählt aus.

»Guten Abend, Lovell«, sagte der Fremde. »Wie gefällt Ihnen die Oper?«

»Ach, Sie wissen, Graf, ich bin nur meiner Frau zu Gefallen hier, sie liebt die Musik, ich gar nicht. Ich wünschte, wir wären erst heraus aus diesem heißen Haus und säßen bei kühlem Sekt im Hotel.«

»Nun, wir können ja früher aufbrechen«, sagte Elvira. »Sie begleiten uns doch, Herr Graf?«

Der Graf verneigte sich dankend.

»Ich bin etwas aufgeregt«, sagte er in nachlässigem Ton, nachdem er einen prüfenden Blick auf den ihm gänzlich fremden Herrn im Hintergrund der Loge geworfen hatte. »Haben Sie die Extrablätter gelesen, die auf der Straße ausgerufen werden?« –

»Nein – was gibt es denn wieder? Krieg in Sicht?«

»Nun, ganz so schlimm ist es nicht – nur wieder einmal ein Mord. Man hat Lady Malcolm erdrosselt aufgefunden – Sie wissen, die hübsche Blondine, die ich Ihnen einmal im Park zeigte.«

»Schrecklich!«, rief Elvira, indem sie sich schüttelte, »Sie hätten uns das nach dem Abendessen erzählen sollen, Graf! Der ganze Appetit vergeht einem bei solchen Schauernachrichten.«

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie haben recht! Es tut mir nur so leid um die hübsche Lady – sie war ungemein liebenswürdig – eine frühere Brettelsängerin, wissen Sie?«

»Ach ja – Mary Tamanio nannte sie sich!«, näselte Lovell. »Ich erinnere mich ihrer noch recht gut aus meiner Junggesellenzeit her. Sie war sehr zugeknöpft und zurückhaltend damals.«

Elvira warf ihm einen zornigen Blick zu. Sie konnte es durchaus nicht vertragen, wenn man eine andere Frau in ihrer Gegenwart lobte, selbst nicht die Unglückliche, die nun bleich und starr auf der Bahre ruhte.

Der Akt war zu Ende, und man erhob sich, um nach Hause zu fahren.

Sherlock Hohnes trat höflich zur Seite, um die kleine Gesellschaft vorüberzulassen, und er bemerkte, dass ihm Elvira einen feurigen, auffordernder Blick zusandte.

Eine Viertelstunde später stand er, als Oberkellner verkleidet, im Speisesaal des Welthotels und erinnerte in keinem Zug mehr an den blonden Elegant, der mit den Herrschaften, die er nun bediente, in der Theaterloge gesessen hatte.