Als E-Book erhältlich

Archive

Der Gefangene der Stadtvogtei

Der Gefangene der Stadtvogtei
Eine Berliner Kriminalgeschichte
von Jodocus Donatus Hubertus Temme
G. Behrend (Falkenbergische Verlagsbuchhandlung), Berlin, 1861

Kapitel 1
Ein Gefangener

Seit den nachfolgenden Begebenheiten sind über zwanzig Jahre verflossen. Eine nähere Angabe der Zeit wolle der geneigte Leser nicht von mir fordern. Die Gründe werden ihm von mancher Seite her klar werden, mag er das Erzählte für wahr oder für nicht wahr halten. Ob es wahr sei, er wird es ja auch schon herausfinden.

In einer Zelle der Stadtvogtei zu Berlin saß ein einzelner Gefangener.

Es war Abend. In der Zelle herrschte Dunkelheit, rund umher tiefe Stille. Der einsame Gefangene musste hier in einem sehr abgelegenen Teil des weitläufigen und in fast wunderlicher Unordnung zusammengebauten Berliner Gefangenenhauses untergebracht sein. Man hörte in der Nähe keinen Laut, aus der Ferne kam kein Geräusch herüber. Nicht einmal ein einzelner Schritt verlor sich hierher; der Verkehr des Gefängnisses musste sehr fern sein.

In der Zelle war es ebenso still wie dunkel. Der Gefangene lag auf einem Lager ausgestreckt; dem Anschein nach ruhig. Er bewegte sich nicht, seine Lippen waren stumm.

War seine Ruhe Gemütsruhe? War sie Wir­kung der Gewohnheit? War sie Stumpfsinn? War es noch etwas anderes? Ein einsamer Gefangener in einer so einsamen, abgelegenen Zelle in einem gro­ßen, weitläufigen, in der Regel von mehr als fünf­hundert und oft von siebenhundert Gefangenen bewohn­ten Gefangenenhauses, wie die Berliner Stadtvogtei, kann auch wohl einmal vergessen werden, aus einen, auf zwei, auf drei Tage – sein Rufen und Schreien in dem entlegenen und vergessenen Versteck, hinter den dicken Mauern, den doppelten Eisentüren erreicht kein menschliches Ohr. Am vierten Tag fällt der Unglück­liche dem saumseligen Gefängniswärter wieder ein; aber am vierten Tag ist es zu spät. Der Vergessene ist nun auch tot. Für die Welt war er es schon lange, schon so lange, wie er Gefangener war. Nur der säumige Gefängniswärter, der ihn und seine Zelle zu beaufsichtigen hatte, und der Polizeiinspektor, von dem er eingeliefert war, wussten etwas von ihm. Vielleicht erinnerte sich auch der Polizeipräsident seiner und seiner Einlieferung noch, vielleicht auch nicht.

Gleichviel, die Gefahr, in solcher Weise vergessen zu werden, in dem Grab der Lebenden schon, um namenlos in die Gruft der Toten geworfen zu wer­den, kann auch, wenn sie zum Bewusstsein kommt, einem festen und starken Menschen wohl die Ruhe des Ge­müts rauben.

Der Gefangene, von dem ich hier rede, schien sie nicht fürchten zu dürfen oder nicht zu fürchten.

Freilich, Gefangene, die einzeln in einem abgelege­nen und abgeschiedenen Teil eines Gefangenenhauses eingesperrt sind, pflegen gerade absichtlich so unterge­bracht zu werden, und wenn das geschieht, so sind sie gewöhnlich auch Personen von besonderer Bedeutung, die man nicht vergisst, man möchte sie denn aus ganz besonderen Gründen vergessen wollen.

Doch dies geschieht, soviel ich weiß, in Deutsch­land nicht.

Die Ruhe und Stille in der abgelegenen Zelle wurde unterbrochen. Zwei Schritte näherten sich ihr. In dem Schloss der äußeren Tür der Zelle wurde dann ein Schlüssel umgedreht. Die Tür wurde geöffnet. Der Schlüssel drehte sich in dem Schloss der inneren Tür. Ein schwerer Riegel wurde noch zurückgeschoben. Auch die innere Tür war geöffnet.

Der Gefangene war gut und sicher verwahrt hin­ter der Doppeltür.

Es trat nur eine Person in die Zelle.

Die zweite war zurückgeblieben, zur Wache, man hörte draußen im Gang die auf- und abgehenden Schritte.

Der Eintretende trug eine Laterne. Sie beschien hell die Zelle. Auch den Eintretenden selbst. Er war ein Mann in den mittleren Jahren, mit einem klugen verschlossenen Gesicht.

Der Raum, den seine Laterne beschien, war eine gewöhnliche, enge Stadtvogteizelle mit vier nackten weißen Kalkwänden, einem niedrigen und schmalen vergitterten Loch, das als Fenster diente, einer hölzernen Pritsche zum Liegen, einem runden Klotz zum Sitzen und einem kleinen Tisch zum Essen. Doch war noch ausnahmsweise ein hölzerner Stuhl da, und auf der Pritsche lag keine Strohmatratze, sondern ein vollständiges Bett.

Der Gefangene musste etwas ganz Besonde­res sein.

Und in der Tat, das zeigte auch seine Erscheinung.

Er richtete sich bei dem Eintreten seines Besuchers auf, langsam, zuerst nur halb, dann, nachdem er den Besucher mit einem gewissen nachsinnenden Stolz an­gesehen hatte, in seiner vollen Gestalt.

Es war eine hohe, stolze Gestalt, kräftig, breitschultrig, und doch schlank und in den Bewegungen leicht, elegant, vornehm. Das sehr blasse Gesicht war schön; die Nase aristokratisch gebogen; der Blick der großen, schwarzen, glänzenden Augen lebhaft und stolz; der rabenschwarze krause Vollbart erhöhte den mutigen, kühnen Ausdruck des Gesichts.

So stand ein junger Mann von achtundzwanzig bis dreißig Jahren vor dem Eingetretenen.

Das kluge und verschlossene Gesicht des Letzteren blieb unbeweglich. Er zog die innere Tür hinter sich zu. Darauf stellte er seine Laterne auf den kleinen Tisch. Dann wandte er sich an den Gefangenen.

»Guten Abend!«

Der Gefangene nickte vornehm. Ein Wort des Dankes oder Gegengrußes hatte er nicht.

Auch der andere schwieg. Er sah in der Zelle umher, dem Anschein nach nur flüchtig, aber mit desto schärferem Blick. Er schien nichts zu finden, was ihm auffiel. Er hatte aber noch mehr hier zu tun. Er trat vor den Gefangenen, er sah ihn fragend an, ein paar Sekunden lang stumm. Dann fragten auch seine Lippen.

»Sie haben mir nichts zu sagen?«

Der Gefangene antwortete mit einem stolzen, fast verächtlichen Kopfschütteln. Eine andere Antwort hatte er wieder nicht.

Der Besucher blieb unveränderlich ruhig. Nur ein wenig mehr erhob er die Stimme, als er fortfuhr:

»Ich denke, Sie müssten sich doch nachgerade über­zeugt haben, wie sehr Ihr eigenes Interesse es for­dert, endlich die Antwort zu geben, die man von Ihnen haben muss.«

Des Gefangenen Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. Er sann fast eine halbe Minute nach, ob er antworten sollte. Er konnte sich zu einer Erwi­derung entschließen.

»Mein Herr«, sagte er, indem er die deutschen Worte mit jenem fremdartigen Akzent aussprach, der den deutschen Bewohnern der russischen Ostseeprovinzen, aber auch den Slaven eigentümlich ist, »mein Herr, ich meinerseits meine, Sie müssten sich längst überzeugt haben, dass alle Ihre Künste an meinem festen Willen und an meiner Ehre scheitern.«

Der andere griff ein Wort dieser Erwiderung auf; nicht den Vorwurf, dass er sich Künste erlaube.

»An Ihrer Ehre, mein Herr?«, fragte er etwas höhnisch.

Der Gefangene blieb in seinem ruhigen Stolz.

»Der Hohn gehört zu Ihren Künsten, mein Herr. Er trifft mich nicht.«

Der Besucher wurde wieder ganz kalt.

»Es ist das Ihre Auffassung, mein Herr. Indessen bedenken Sie, dass kein Mensch in der ganzen Welt von Ihrem hiesigen Aufenthalt weiß.«

»So?«, fragte diesmal spöttisch der Gefangene.

»Ja, mein Herr«, bestätigte der Besucher, »Sie sind hier lebendig begraben.«

»Seit acht Wochen«, fiel der Gefangene ein.

»Richtig, seit acht Wochen. Und außer mir weiß niemand von Ihnen und Ihrem Grab.«

Durch das Gesicht des Gefangenen flog nochmals ein leiser Zug von Spott. Seine Lippen schienen wieder eine höhnische Bemerkung zu haben. Er unter­drückte sie.

»Fahren Sie fort«, sagte er kalt. »Sie hatten mir noch etwas zu sagen. Oder besser, sparen Sie Ihre Worte, sie belästigen mich damit. In der Tat, Sie würden mir eine Gefälligkeit erzeigen, wenn Sie mich künftig mit jeder Rede verschonen. Ihre täglichen Besuche werde ich auch ferner annehmen müssen; sie gehören wohl zu Ihrem Amt, und für Ihr Amt werden Sie bezahlt. Gute Nacht, mein Herr.«

Er ging zu seinem Lager zurück und streckte sich behaglich aus.

Der Beamte schien doch etwas gereizt zu sein.

»Sie vergessen, mein Herr«, sagte er, »dass man Ihnen hier manche Bequemlichkeiten eingeräumt hat.«

Der Gefangene sah sich mit einem etwas sonder­baren Blick in der engen, kahlen Zelle um. Er sagte nichts.

»Und dass man sie Ihnen wieder nehmen kann.«

Der Gefangene antwortete leicht: »Die Polizei kann alles.«

»Ja, mein Herr, auch die Toten ruhen lassen.«

»So?«, fragte spöttisch der Gefangene wieder.

Weiter sagte er nichts.

Der Beamte nahm seine Laterne und verließ die Zelle.

Die Doppeltür wurde sorgfältig hinter ihm ver­schlossen.

Zwei Schritte entfernten sich von der Zelle.

Als sie nicht mehr gehört wurden, erhob sich der Gefangene von seinem Lager.

Er ging in der engen und schmalen Zelle hastig auf und ab. Nach einer Weile blieb er manchmal horchend an der Tür stehen. Er schien ungeduldig auf etwas zu warten.

Seine Ungeduld und seine Erwartung sollten befriedigt werden.

Es näherte sich wieder etwas der Zelle. Diesmal war es ein einzelner Schritt. Er hielt vor der Tür an. Unmittelbar darauf wurde die Tür geöffnet.

Ein großer, kräftiger, finsterer Mann trat in das Gemach. Seine Haltung war eine militärische. Er war in der blauen Uniform der Gefängniswärter der Stadtvogtei. Er trug in der Hand eine kleine so­genannte Diebeslaterne. Sein Arm war mit Klei­dungsstücken behangen.

Er stellte die Laterne auf den kleinen Tisch. Die Kleidungsstücke legte er auf das Bett.

Vorher hatte er von diesem die Decke weggenom­men. Mit dieser bedeckte er das schmale niedrige Fenster.

Dann kehrte er zu der Laterne zurück. Sie war nur für einen schwachen Lichtschimmer geöffnet. Er öffnete sie ganz. Sie verbreitete einen hellen Schein durch das enge Gemach.

Der Gefängniswärter hatte das alles schweigend verrichtet. Schweigend entfernte er sich auch wieder. Aber er lehnte die Tür nur hinter sich an, und sei­nen Schritt hörte man sich nicht entfernen. Er war vor der Zelle stehen geblieben.

Nachdem er das Gefängnis verlassen hatte, begann der Gefangene rasch, seiner Gefängniskleidung sich zu entledigen und die Kleidungsstücke anzulegen, die der Gefängniswärter auf das Bett gelegt hatte.

Nach wenigen Minuten stand er in dem vollstän­digen braunen, berußten Anzug eines Schornstein­fegers da. Die Hände waren von braunen Hand­schuhen bedeckt. Nur das Gesicht war noch weiß; aber der schwarze Bart und die Kappe des Essenkeh­rers verdeckten es zum größten Teil.

So trat er in die Tür der Zelle.

Dem vor ihr wartenden Gefängniswärter warf er einen Wink zu.

Der Mann kehrte in die Zelle zurück, holte die Laterne, schob ihre Klappen wieder dichter zusammen, dass man nur den schmalen Lichtstreifen sah, und schloss die Doppeltür der Zelle zu. Die Schlüssel ließ er in den Schlössern stecken.

Er hatte auch das alles schweigend getan, wäh­rend der Gefangene schweigend an der Tür stehen geblieben war. Beide sprachen auch ferner kein Wort miteinander.

Sie waren in einem schmalen Gang, der nach rechts wie nach links nur wenige Schritte lies. Die Zelle lag in einem der vielen bald vorspringenden, bald zurückgebauten Winkel des weitläufigen Stadtvogteigebäudes. Der Winkel musste sich an einem der ent­ferntesten Ecken des Hauses befinden. Man hörte auch draußen in dem Gang kein Geräusch, es herrschte eine Grabesstille, wie in der Zelle selbst.

Nur eine Tür war zu sehen, die, aus welcher der Gefangene herausgetreten war.

Der Gefangene schien auf alles wenig zu achten.

Der Gefängniswärter achtete nur auf den Gefan­genen. Er musterte dessen Anzug. Er schien nichts zu erinnern zu finden.

Er setzte sich in Bewegung.

Der Gefangene folgte ihm.

Sie gingen beide in gewöhnlichem Schritt.

Wer ihnen begegnet wäre, hätte einfach denken müssen, der Schornsteinfeger habe im Gebäude eine Arbeit zu verrichten gehabt, von welcher der Gefängniswärter ihn abgeholt habe, um ihn aus dem Gefangenenhaus hinauszulassen.

Es begegnete ihnen aber niemand. Es war spät abends und in einem Gefängnis tritt die Nachtruhe schon am frühen Abend ein.

In jene entlegene Gegend des Gebäudes schien überhaupt selten jemand zu kommen. In dem Gang brannte keine Laterne, an seinem Ende standen keine Schildwachen.

Dunkel und still und leer war es auch weiter auf dem Weg, den der Gefängniswärter und sein Gefan­gener nahmen.

Jener war mit seiner Diebeslaterne der Führer. Der Gefangene hielt sich unmittelbar hinter ihm.

Das Ende des kleinen Ganges hatten sie bald er­reicht. Sie kamen in einen neuen Gang. Es war mehr ein Winkel, kaum zehn Schritte lang, nicht mehr als drei breit, in krummer Linie sich fortziehend. Sie durchschritten ihn. Eine hölzerne Wendeltreppe führte die beiden schweigsamen Nachtwandler der Stadtvogtei hinunter.

Noch zweimal kamen sie an engen, dunklen Löchern, ähnlichen Winkeln vorüber, die in die Treppe mündeten. Sie achteten nicht darauf. Es musste hier ebenso menschenleer sein, wie da oben, von wo sie kamen.

Endlich waren sie in einem kleinen Flur, dessen Fuß­boden mit Steinen gedeckt war. An der Mauer war ein niedriges Fenster. Eine Laterne brannte auch hier nicht. Aber man vernahm ein Geräusch, freilich nur ein sehr leises. Durch das Fenster drang der Ton eines rauschenden Wassers.

In einer anderen Mauer war eine Tür. Auf diese gingen sie zu.

Der Gefängniswärter zog einen Schlüssel aus seiner Tasche. Er schloss die Tür ganz leise auf.

Vorher hatte er gehorcht. Es war überall nichts zu hören, als das Rauschen des Wassers. Er horchte noch einmal, als die Tür offen war. Es blieb still.

Er schritt durch die Tür.

Draußen hemmte er seine Schritte.

Erst als er sich dann nach allen Seiten umgesehen hatte, wandte er sich mit einem Wink nach dem Ge­fangenen zurück, und nun trat auch dieser aus der Tür hervor.

Sie waren unter freiem Himmel, in einem engen, dunklen Raum.

Es war eine Art von Hofraum. Er bildete ein unregelmäßiges längliches Viereck. Von der einen Seite begrenzte ihn das hohe Stadtvogteigebäude, aus dem die beiden herausgetreten waren. Gerade gegen­über lag ein niedrigeres Gebäude, eine Remise oder Scheune, wie es schien. Die beiden anderen Seiten waren von hohen Mauern eingefasst.

Jenseits der Mauer rechts war das Rauschen des Wassers im Freien deutlicher zu hören. Die Spree, denn sie hörte man, musste den Fuß der Mauer fast unmittelbar bespülen.

Sonst war kein Laut umher zu vernehmen.

Auch keine Schildwache war in dem engen Hof­raum, ein Beweis, wie abgelegen und wenig besucht auch diese Gegend des großen Gefängnisgebäudes war.

In den beiden Mauern, die den Platz einfassten, war keine Tür zu sehen. Man musste umso mehr neugierig sein, wohin die beiden Wanderer ihre Schritte weiter lenken würden.

Sie schritten auf das niedrige Nebengebäude zu.

In diesem befand sich in der Mitte ein großes Tor. Daneben war eine kleinere Tür.

Sie wandten sich zu der kleineren Tür.

Einen Schlüssel, sie zu öffnen, hatte der Gefängniswärter schon hervorgezogen. Aber, als er ihn in das Schloss stecken wollte, gab die Tür nach. Sie war nicht verschlossen gewesen.

Der Gefangenwärter stutzte.

»Teufel, was ist das?«, fragte er leise.

Es waren die ersten Worte, die er sprach.

Dann gab er schnell seinem Begleiter einen Wink.

Beide kehrten rasch und leise zu der Tür des Gefängnishauses zurück, aus der sie gekommen waren. Sie hatten die Tür vorhin hinter sich angelehnt. Sie traten in das Innere des Hauses. Der Gefängniswärter verschloss fest seine kleine Diebeslaterne. Sie standen in völliger Finsternis.

»Es ist nicht richtig da drüben«, sagte er dann zu seinem Begleiter. »Ich muss nachsehen, was es ist. Bleiben Sie unterdessen hier. Wenn Sie mich laut sprechen hören, so kehren Sie zu Ihrem Gefängnis zurück. Die Schlüssel habe ich in den Schlössern ge­lassen. Sie werden doch den Rückweg finden?«

»Ja«, antwortete der Gefangene kurz.

Der Gefängniswärter ging zu dem Nebengebäude zurück. Er öffnete im Gehen seine Laterne wieder. Der Gefangene lehnte sich an den Türpfosten und sah ihm ruhig nach. Das Licht der Laterne ver­schwand im Inneren des Nebengebäudes.

Der Gefangene bog sich etwas vor, um zu horchen, hörte aber nichts.

Nach ungefähr zehn Minuten kam der Gefängniswärter zurück. »Es war nichts«, sagte er. »Wir können weitergehen.«

»Hattet Ihr Verrat gefürchtet?«, fragte ihn der Gefangene.

»Ich musste daran denken. Die Tür ist immer verschlossen. In dem alten Schuppen hat in Jahr und Tag kein Mensch etwas zu tun. Es werden nur alte, verbrauchte Sachen darin aufbewahrt, die irgendeinmal verkauft werden sollen.«

»Ihr fandet nichts?«

»Gar nichts. Ich leuchtete überall umher. Es war keine Spur zu finden, dass jemand nur dagewesen sei. Ich hörte auch nichts.«

»Was denkt Ihr denn?«

»Es muss doch jemand dagewesen sein, um nachzusehen, ob noch alles in Ordnung sei. Es geschieht das wohl alle Jahre. Man hat nachher vergessen, abzuschließen. Von Wert wird ja nichts dort auf­bewahrt. Kommen Sie.«

Der Gefangene fragte nicht weiter.

Sie gingen wieder zu dem Nebengebäude und traten durch die noch offene Tür.

Die Laterne zeigte im Inneren geordnete Reihen von allerlei altem Hausgerät: Matratzen, Bettgestellen, Stühlen, Tischen und so weiter. Durch sie hindurch führte in der Mitte ein schmaler Weg. Sie schritten darauf zu einem kleinen Pförtchen.

Der Gefängniswärter öffnete es mit einem Schlüssel.

Man sah durch die Öffnung ins Freie, in eine dunkle, enge Gasse.

Der Gefangene konnte durch die Öffnung ins Freie hinaustreten. Er wollte es. Er war dann frei. Keine Fessel, keine Mauer, keine Wache der Stadtvogtei, in welcher jener Beamte ihn wie in einem Grab meinte, hielt ihn mehr. Er war frei in der großen, weiten Stadt Berlin, unter dem Schutz der dunklen Nacht.

Der Gefängniswärter hielt ihn zurück.

»Einen Augenblick, Herr!«

»Was gibt es?«

»Ich muss sehen, ob es draußen sicher ist.«

Der Gefängniswärter ging mit wieder festverschlos­sener Laterne in die Gasse.

Der Gefangene blieb zurück. Er schien doch wie­der zu horchen; nach der Gasse, nach dem Gefängniswärter hin, den er nicht sah.

Auf einmal hörte er ein Geräusch; aber nicht draußen. Im Inneren der alten Remise, nicht weit von der Stelle, an der er stand, war es, als ob zwischen den alten Matratzen und Stühlen sich etwas bewege. Ein Rascheln vernahm er ganz deutlich.

Ängstlich, feige war der Gefangene nicht. Er wandte sich ruhig nach jenen alten Stühlen und Ma­tratzen um. Sein Auge sah in der Finsternis nichts. Er hörte auch nichts mehr.

»Eine alte Ratte!«, sagte er zu sich.

Er wandte sich wieder nach der Straße, die Rück­kehr des Gefängniswärters zu erwarten.

Der Gefangenwärter kam zurück.

»Es ist alles sicher, Herr.«

Der Gefangene wollte gehen.

»Um welche Zeit?«, fragte ihn der Wärter noch.

»Wie viel Uhr haben wir jetzt?«, fragte der Gefan­gene zurück.

»Bald elf.«

»Um drei.«

Er ging. Er war im Freien. Er war frei.

Die Gasse, in der er sich befand, war schmal und eng, hatte auch nur eine kurze Ausdehnung. Rechts endete sie schon nach zwanzig Schritten an dem Ufer der Spree, die dort vorbeifloss.

Der befreite Gefangene ging nicht dorthin. Er wandte sich nach links. Fünfzig Schritte brachten ihn auf den Molkenmarkt.

Die gewöhnliche Laterne brannte vor dem Polizei­präsidium und dem Kriminalgericht zu Berlin. Aber es war tot und still auf dem Platz.

Um elf Uhr in der Nacht sind die Straßen und Plätze der großen Residenz Berlin tot und still, und in die Nähe der Polizei und der Kriminalbehörde wagen sich auch die Berliner Diebe nicht gern.

Der Gefangene – nennen wir ihn noch so – ging mit gemessenem, ruhigem Schritt an den beiden Gebäuden der Justiz und Polizei und an ihren Schild­wachen vorüber. Dann ging er schneller. Er schien Eile zu haben. Er durchschritt links die Königsstraße, überschritt die lange Brücke, den Schlossplatz, Schlossfreiheit, die Schlossbrücke. Er war unter den Linden.

Dort, in dem vornehmsten, elegantesten und beleb­testen Teil Berlins, blieb er vor einem großen, vornehmen, eleganten Gebäude stehen. Er zog eine Klin­gel, die sich neben dem Einfahrtstor befand.

Gleichzeitig klatschte er leise mit der Hand. Eine kleinere Tür in dem Tor öffnete sich. Ein Bedien­ter trat heraus, mit einem Mantel auf dem Arm.

»Guten Abend, gnädiger Herr!«, sagte der Diener zu dem gewesenen Gefangenen.

Er hing ihm über die Schornsteinfegerkleider einen weiten Mantel. Beide verschwanden dann durch die Tür, die sich hinter ihnen wieder verschloss.

Auf den Gendarmentürmen hatte es gerade elf Uhr geschlagen.