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Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer Band 1 – Teil 4

Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer
Nach seinen Tagebüchern bearbeitet von Robert Kraft
Band 1
Kapitel 1, Teil 4

Das war kein Staunen mehr, das war lähmendes Entsetzen, mit welchem die vier Herren auf den Mann blickten, der mit einem Schlag seiner Faust eine Elfenbeinkugel in Atome zerschmetterte!

»Dass ich es mit jedem Steinschläger, wie sie sich öffentlich produzieren, aufnehme, dürfen Sie mir wohl glauben«, fügte Nobody lächelnd noch hinzu, »und hätte ich ein anderes Publikum vor mir gehabt als gebildete Herren, so hätte ich auch lieber einen großen Stein oder ein rundes Stück Gusseisen genommen. Schmiedeeisen dürfte es nicht sein. Aber die Herren wissen, was es bedeutet, eine Elfenbeinkugel so zu zerschmettern.«

Ja, diese vier Herren wussten es! Sie konnten es sich wenigstens denken.

Als Erster hatte sich Mr. Lewis gefasst. Er setzte seinen Klemmer auf und betrachtete einen der Splitter.

»Es hat aber einmal einen Menschen gegeben, welcher ebenfalls mit einem Faustschlag eine elfenbeinerne Billardkugel zermalmen konnte«, meinte er.

»Wer war das?«

»Der Altmeister der modernen Taschenspielerei – der Italiener Bosco.«

»Sie sagen es – Bosco senior, Bartolomeo Bosco – ja, ich weiß es, der konnte es auch, ich hatte davon gehört und habe mich acht Jahre lang geübt, bis ich es ebenfalls fertigbrachte, und jetzt behaupte ich, dass es außer mir keinen Menschen mehr gibt, der sich so weit ausgebildet hat.«

»Halt!«, rief da plötzlich aufgeregt der Journalist. »Jetzt weiß ich auch, wo Sie gefangen gewesen sind!«

»Nun?«

»In China! Sie sind bei chinesischen Gauklern in die Lehre gegangen, vielleicht gleich bei einem chinesischen Zahnarzt, jetzt sehe ich es auch schon Ihren Händen an!«

Der chinesische Zahnarzt! Das hatte auf die Staunenden wie ein erlösendes Stichwort gewirkt. Jetzt wussten sie wenigstens, dass dieser Mann auch nur ein Mensch war. Denn es waren lauter Amerikaner, und in Amerika gibt es Chinesen genug, in New York ein ganzes chinesisches Viertel, in dem man die Söhne des himmlischen Reiches wie in ihrer Heimat beobachten kann.

Der deutsche Leser aber bedarf wohl einer Erklärung, und es ist auch ein lehrreiches Beispiel, wie man durch einseitige Übung gewisse Kräfte und Fähigkeiten bis zu einer schier unglaublichen Vollkommenheit ausbilden kann.

Wer einmal nach Amerika kommt, der versäume nicht, den Laden eines chinesischen Zahnkünstlers zu betreten und sich, wenn nicht sich selbst einen Zahn ziehen zu lassen, die Sache doch anzusehen.

Der schmerzensreiche Klient setzt sich auf einen Stuhl, der bezopfte Dentist guckt ihm in den Mund, besieht sich den kranken Zahn, der muss heraus, er legt dem Klienten die linke Hand auf die Stirn, greift mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund, packt den Zahn, ein kleiner Ruck – und wenn es der hartnäckigste Backzahn ist, bei dem der beste europäische Zahnkünstler mehrmals mit der Zange ansetzen muss – dieser Chinese zieht ihn scheinbar ohne Anstrengung ganz einfach mit den Fingern heraus, und es braucht auch nur ein Stümpfchen zu sein, das er eben noch zwischen Daumen und Zeigefinger fassen kann.

Wie ist so etwas möglich?! Dieser Chinese ist kein herkulischer Riese, vielleicht ein dürres Männchen. Man muss es gesehen haben, um es glauben zu können.

Das ist das Resultat einer systematischen Ausbildung. Der Zahnzieher gehört in China zur Kaste der Gaukler. In diesen Kasten selbst muss der Sohn immer wieder das werden, was der Vater ist, wenigstens der älteste. Sobald solch ein kleines Kind eben begreift, was es tun soll, wird es vor ein Brett gesetzt, in welches Löcher eingebohrt sind, es werden Pflöckchen hineingesteckt, spielend muss das Kind diese herausziehen, immer und immer wieder. Wenn es nicht will, bekommt es nichts zu essen, und dann merkt schon das vielleicht zweijährige Kind, was man von ihm will. Und dann wächst der Junge heran, und er ist ein geduldiger Chinese, welcher gar keine Nerven zu haben scheint. Es mag auch mit in dem vieltausendjährigen Kastenwesen liegen. Der Junge tut also von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts weiter, er zieht immer nur die hölzernen Pflöckchen aus den Löchern des Brettes, und immer fester werden diese eingetrieben, zuletzt mit Hämmern, immer kleiner wird die Angriffsfläche, aber immer systematisch – na, und wenn er zum Mann herangewachsen und im Vollbesitz seiner Kräfte ist, dann rupft der Kerl eben alles heraus, was er nur mit Daumen und Zeigefinger packen kann.

Wenn man daraufhin die rechte Hand solch eines chinesischen Zahnziehers betrachtet, wird man das auch erkennen. Der Daumen und Zeigefinger zeigen eine ungeheure Muskulatur, gegen diese erscheinen die anderen Finger, wenn sie auch normal sind, wie verkümmert.

Was sonst noch in dem Hotelzimmer verhandelt wurde, brauchen wir nicht zu wissen, wir werden das Resultat der Verhandlungen kennenlernen.

Nur eines sei hervorgehoben.

»Nein, heute Abend können Sie noch nicht auftreten«, sagte Mr. Lewis, »da muss ich erst für Reklame sorgen.«

»Brauche ich nicht«, entgegnete Nobody, »meine Reklame besteht darin, dass ich keine Reklame mache.«

Und er sollte recht behalten. Eine solche Reklame, dadurch, dass er keine machte, war in dem Land der Reklame noch nie gemacht worden, und daher auch der beispiellose Erfolg.

Dann schrieb Mr. Law für seine Zeitung über das Gehörte und Gesehene einen Bericht, wie nur so ein Zeitungsschmierer schreiben kann, 500 Zeilen in rasender Geschwindigkeit, ohne ein Wort auszustreichen. Was der Bericht enthielt, interessiert uns jetzt ebenfalls nicht mehr. Der Skribifax wusste schon sein Ding zusammenzubauen.

Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet, als sich dieser Bericht schon in der Setzerei des NEW YORK HERALD befand.

Die Erscheinungsweise der amerikanischen Zeitungen ist eine andere als die der deutschen. Die großen amerikanischen Zeitungen erscheinen täglich sechsmal und noch öfters. Jedes wichtige Ereignis, welches der Redaktion telegrafiert wird, veranlasst eine neue Nummer, in welcher zugleich alles andere erledigt wird, das während der letzten Stunden auf der Redaktion eingelaufen ist, und da ist niemals Mangel. Möglich ist dies nur durch den in Amerika eigentümlichen Straßenverkauf, welcher sich aber nur auf die betreffende Stadt und die nächste Umgebung erstreckt. Das Wichtigste und Interessanteste aus diesen täglichen Auflagen wird dann in einer Wochennummer zusammengedrängt, welche in alle Welt hinausgeht, wie der NEW YORK HERALD seine Wochenausgabe sogar in Paris in französischer Sprache erscheinen lässt.

Einige Stunden später also wusste das New Yorker Publikum, dass der geheimnisvolle Passagier der PERSEPOLIS noch lebe, ganz nackt den Strand erreicht habe, usw. – der Journalist hatte eben den Bericht abzufassen verstanden.

 

Der Saal des Atlantic-Gardens, welcher 8000 Menschen fassen kann, wobei man auch noch am Biertisch sitzt, war an dem heißen Sommerabend mit kaum 1000 Zuschauern besetzt, welche, da es hier für gewöhnlich nur einen Preis gibt, sich möglichst nahe an die Bühne drängten.

Es war eine Bier-Unterhaltung mit Komikern, pikanten Chansonetten und exzentrischen Clowns. Fein geht es bei diesen Volksabenden durchaus nicht zu, im Gegenteil, das Publikum singt und spielt manchmal mit, besonders wenn die Vorstellung so schwach besucht ist. Dann wird es erst richtig gemütlich.

An einem der hinteren Tische machte sich ein Gast sehr unangenehm bemerkbar. Es war ein sehr alter Mann mit langem, weißem Vollbart, das eingefallene Gesicht voller Runzeln. Er musste die Schwindsucht haben, er hustete in einem fort auf eine entsetzliche Weise, und dann mokierte sich der alte Kerl auch noch in lauter, unverschämter Weise über die auftretenden Künstler und Künstlerinnen. Wenn er Deutsch gesprochen hätte und aus Berlin gewesen wäre, so hätten seine stereotypen Bemerkungen etwa gelautet: »Et is jar nischt, jar nischt is et!«

Er trieb dies auf eine Weise, dass der ganze Saal auf ihn aufmerksam wurde, und wenn es nicht eine schöne Tugend des Yankee wäre, das Alter zu ehren, so wäre der alte Radaubruder schon längst an die frische Luft gesetzt worden.

»Na, da machen Sie es doch besser!«, rief einer seiner Tischnachbarn erzürnt.

Jawohl, dazu sei er bereit, man solle ihn nur auf die Bühne stellen. Das geht im Atlantic-Garden an solchen Volksabenden nun alles zu machen, da braucht gar nicht erst der Direktor darum gebeten zu werden.

In einer Pause also humpelte der hustende Alte am Krückstock durch den Saal, kletterte mit Mühe die Bühne hinauf, flüsterte dem Kapellmeister etwas zu und begann ein bekanntes Lied zu singen, die Klage eines alten, armen Veteranen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg.

Wäre dieses Volkslied von einem anderen Künstler vorgetragen worden, so hätte der ganze Saal mitgesungen, aber das Publikum war vor Staunen starr, denn immer mächtiger schwoll die herrliche Bassstimme des Alten an, bis die Kronleuchter klirrten; so hatte dieses Lied, hier wenigstens, noch niemand singen hören.

Ehe nach Beendigung des Liedes das Publikum in Applaus ausbrechen konnte, kam der Direktor auf die Bühne gestürzt, fragte den Alten, ob er sich engagieren lassen wolle, ob er noch etwas anderes könne – jawohl, das könnte er – und schnell zog er seine großen Galoschen aus, krempelte seine Hosenbeine bis zu den Knien auf, und das ging alles so blitzschnell, dass man kaum bemerkte, wie er nun an den Füßen zierliche Lackstiefelchen trug– und dann riss er den Rock herunter. Man wunderte sich nur, dass er gar keine Hemdärmel hatte und dass seine Brust so nackt war – und erst, als er auch den weißen Bart abriss, da begann man zu ahnen, dass der Alte nicht nur so zufällig auf die Bühne gekommen war … da aber flog ihm schon von unsichtbarer Hand auf den Kopf ein Chignon und über den Kopf mehrere weiße Spitzenröcke, denen ein schillerndes Kostüm folgte … und plötzlich war aus dem Alten eine reizende Chansonette geworden, welche mit unverfälschter Sopranstimme ihre frivolen Gassenhauer hinausschmetterte, dazu exzentrische Tänze aufführte, dass die Röcke flogen, und dazwischen einmal nach allen Regeln der Kunst ein Rad schlug.

Na, das war ja nun so etwas für die Yankees! Das Publikum tobte vor Entzücken, und tausend Menschen können schon einen gehörigen Skandal machen. Und das war erst die Einleitung gewesen, eine Verwandlung folgte der anderen, zunächst wurde wieder aus der feschen Chansonette ein Neger, welcher seine Shantys sang und dazu steppte, und die Seele des Witzes liegt in der Kürze, die Verwandlung ging immer so schnell vor sich, dass man ihr gar nicht mit den Augen folgen konnte. Dann kamen bekannte Charaktermasken daran, politische Persönlichkeiten und andere, jede von einem entsprechenden Song begleitet, und die frappante Ähnlichkeit blieb nicht nur auf der Bühne bestehen, der Verwandlungskünstler ging zwischen den Tischen hindurch, und er war wirklich die Person, welche er vorstellte, und das Publikum staunte und jubelte und heulte vor Entzücken.