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Der Detektiv – Band 29 – Nur ein Tintenfleck – Kapitel 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 29
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Nur ein Tintenfleck
Kapitel 1 – Der lila Tintenfleck

Harald Harsts Entschluss, vor unserer Heimkehr nach Deutschland noch einen Monat das hinterindische Königreich Siam zu bereisen, hatte meinen vollen Beifall gefunden.

Siam ist das östliche Vorland des großen indischen Kolonialreichs und sollte, wie mir in der Erinnerung noch unklar vorschwebte, mindestens ebenso viele Merk- und Sehenswürdigkeiten besitzen, wie Indien selbst.

An einem glutheißen Vormittag brachten zwei elegante Rikschas (Rikscha, zweiräderiges Bambuswägelchen) Harst und mich von unserem Fremdenheim in Bangkok, der Hauptstadt Siams, aus in gleichmäßig schneller Fahrt nach P’hrabat, dem heiligen Berg nördlich von Bangkok, wo sich das gleichnamige Kloster, einer der berühmtesten Wallfahrtsorte der Buddhisten, befindet. Die Hauptreligion in Siam ist der Buddhismus, was man schon an der Unmenge buddhistischer Mönche merkt, die in den Straßen Bangkoks zu sehen sind. Diese frommen Nichtstuer kosten dem Staat jährlich Unsummen. Trotzdem dürfte es niemand wagen, an dieser Einrichtung zu rütteln. Die Siamesen sind, was ihre religiösen Gebräuche angeht, genauso halsstarrig wie die Inder in Bezug auf das Kastenunwesen.

Unsere beiden Rikschakulis, die nur das Hüfttuch und den großen Hut aus Palmenblättern trugen, mussten offenbar Patentlungen besitzen, denn 16 Kilometer in flottem Trab ein belastetes Wägelchen zu ziehen, dazu gehört mehr, als ein europäischer Dauerläufer nach langem Training leistet.

Das Kloster P’hrabat ist von mehreren Mauern umgeben. In diesen Vorhöfen schwärmen die Mönche wie die Bienen und lassen keinen Schritt des neugierigen Europäers unbeobachtet. Und sie tun recht daran. Das P’hrabat-Kloster enthält Kostbarkeiten, deren Wert auf annähernd 120 Millionen Mark geschätzt wird.

Im inneren Hof erhebt sich der goldene Turm, ein fantastisches Bauwerk, das tatsächlich über und über dick vergoldet ist. Betritt man die Halle dieses Turmes, dessen Fußboden aus dicken, reinsilbernen Platten besteht, so wird man wie ein Verbrecher behandelt, das heißt, Priester und Mönche spielen, für jeden Fremden gut ein halbes Dutzend, die Polizei zur Verhütung von Diebstählen oder deren Vorbereitung.

Dass diese Halle die Habgier selbst eines sonst redlich gesinnten Menschen reizen kann, ist kein Wunder. Zunächst sieht man nämlich vor sich ein hohes silbernes Gitter, das im Viereck die heilige Fußspur Buddhas umgibt. Auf diesem Berg und an dieser Stelle soll Buddha, als er einst die Erde besuchte, auf einem Bein stehend ausgeruht haben.

Von der Riesenfußspur oder besser der einer solchen ähnlichen Vertiefung in dem Felsen bemerkt man nichts, da dieses längliche Loch vollständig mit Juwelen aller Art bedeckt ist. Im Hintergrund wieder steht eine mit Diamanten verzierte, zwei Meter hohe Statue Buddhas unter einem Baldachin, der vor Juwelen in allen Farben schillert.

Alles, was ich bisher in Indien an Anhäufungen von Diamanten gesehen hatte, verblasste gänzlich gegenüber diesen Millionenwerten. Harst machte mich auf drei taubeneigroße Smaragde aufmerksam, von denen jeder allein auf eine Million geschätzt wird.

Der Andrang von Fremden war heute nicht sehr bedeutend. Außer uns beiden befanden sich noch sechs Europäer in der Halle, darunter zwei Damen. Wir hätten also alles in Ruhe anstaunen können, wenn nicht eben die Mönche gewesen wären, die in sehr wenig höflicher Art uns ständig überwachten, ohne sich auch nur Mühe zu geben, ihr Misstrauen zu verheimlichen.

An dem Baldachin musste etwas in Unordnung sein. Ein älterer, sonngebräunter Europäer mit leicht ergrautem blonden Bart stand auf einer Leiter und handhabte allerlei Werkzeuge. Offenbar hatte die Verschraubung der Stützen des Baldachins sich gelockert. Mir fiel auf, dass die frommen, meist wohlgenährten Herren diesen Mann so wenig mit Ihrer sonst so regen Wachsamkeit bedachten. Als ich Harst dies flüsternd mitteilte, nickte er nur zerstreut und betrachtete weiter mit einer mir unverständlichen Aufmerksamkeit den Rücken einer schlanken Europäerin, deren tadellos sitzendes Leinenkostüm und rotblondes Haar ich schon vorhin bemerkt hatte.

Sie war noch jung, diese Dame, und fraglos eine eifrige Fotografin. Die Buddha-Statue knipste sie von allen Seiten, ganz besonders von rechts, wobei sie, soweit ich zählte, sechs Films verbrauchte. Ich hätte mir an ihrer Stelle einen anderen Tag für diese Aufnahmen ausgesucht, da sie ja notwendig den auf einer Trittleiter stehenden Kunstschlosser (falls es ein solcher war) mit auf die Bilder bekam.

Harsts Interesse für die Rotblonde blieb das Gleiche. Als sie nun mit ihrem Begleiter, einem stattlichen älteren Herrn, die Halle verließ, sagte er ganz leise zu mir:

»Hast du etwas beobachtet, mein Alter? Es gab nämlich etwas zu beobachten!«

»Natürlich die Rotblonde!«, erklärte ich. »Fraglos eine Engländerin. Der Herr war anscheinend ihr Vater. Zum Ehemann schien er zu alt. Sie ist leidenschaftliche Zigarettenraucherin, denn der Nagel ihres rechten Zeigefingers war von dem aufsteigenden Rauch der zwischen den Fingern gehaltenen Zigarette braungelb verfärbt. Außerdem liebt sie ein Parfüm, das ich abscheulich finde: Patschuli!«

Harst schob nun seinen Arm in den meinen und sagte: »Gehen wir. Man wird sonst hier zu allerlei Gedanken verleitet, die man besser weit von sich weist.«

Als wir draußen im grellen Sonnenschein des Hofes standen, fügte er hinzu: »Was die Rotblonde betrifft, so hast du gerade das Wichtigste nicht gesehen. Dort vor uns schlendert sie mit ihrem Begleiter dem zweiten Hof zu. Eine schöne Frau. Aber – gefährlich!«

Ich musste lachen. »Für Männerherzen ist jede Schönheit gefährlich, lieber Harald.«

Er drückte meinen Arm. »Du, mir ist zum Scherzen wenig zumute. Ich habe eine feine Witterung für große Dinge, die ihre Vorzeichen voraussenden.«

Meine heitere Stimmung war wie weggeweht.

»Vorzeichen? Witterst du etwa ein Verbrechen?«, fragte ich nun ebenfalls ganz ernst.

»Nein. Nur die ersten Vorbereitungen eines solchen. Wenigstens muss ich dies nach dem, was ich sah, annehmen.«

»Und was sahst du denn?«

»Nur dasselbe wie du, mein Alter. Der Unterschied zwischen uns liegt lediglich in der geistigen Verarbeitung des Geschauten.«

»Das glaube ich gern. Ich bin auch nicht Harald Harst, der weltberühmte Liebhaberdetektiv, sondern nur dein Sekretär und Freund. Vielleicht teilst du mir das geistig Verarbeitete mit?«

»Denke auch gar nicht daran! Tu mir aber den einzigen Gefallen und beachte die Rotblonde nicht weiter. Sonst verdirbst du mir alles. Ich will unbedingt herausbekommen, weshalb sie vorhin …« Er schwieg plötzlich und rief dann halblaut: »Wenn es das wäre – das! Ah – dann hätte ich es hier mit Künstlern in ihrem Fach zu tun! Das wäre dann ein Kampf, der sich verlohnte!«

Ich zuckte nur die Achseln und meinte: »Herr, dunkel ist der Rede Sinn!«

Harst gab meinen Arm frei und deutete auf ein Götzenbild, das im zweiten Hof vor einer Art Badebassin stand. Es war eine uralte Buddha-Figur. Er hielt mir nur einen langen Vortrag über die Besonderheiten altindischer Skulpturen und Statuen und bewies, dass er auch auf diesem Gebiet über gründliche Kenntnisse verfügte. Dann verließen wir das Kloster und bestiegen wieder unsere Rikschas. Um 7 Uhr abends waren wir in Bangkok, mieteten ein Boot und ließen uns zum schwimmenden Fremdenheim der Frau Pordepierre übersetzen, wo wir seit gestern Mittag ein Zimmer bewohnten.

Bangkok ist die Stadt der Hausboote und – man kann sagen: der Wassermärkte. Das ganze Handelstreiben spielt sich auf dem Fluss Menam ab, der die älteren Teile der siamesischen Hauptstadt durchfließt.

Die Französin Madame Pordepierre hatte als geschäftstüchtige Frau vor fünf Jahren einen alten Dreimaster erworben und zum Fremdenheim umbauen lassen. Das Schiff lag am Westufer der Pagode Wat Tscheng gegenüber verankert. Diese ist der schönste Schmuck Bangkoks und verjüngt sich in zahlreichen Terrassen zu einer Kegelspitze. Die beiden Fensterchen unseres Zimmers gingen auf die Pagode hinaus. Noch nie hatten wir ein so romantisches Quartier gehabt wie dieses; noch nie waren wir aber auch so gut verpflegt und so verwöhnt worden wie bei Madame Sarah Pordepierre, die trotz ihrer Nationalität den bekannten deutschen Liebhaberdetektiv wie einen Halbgott anhimmelte, was Harst mit nachsichtigem Lächeln hinnahm.

Wir ließen uns das Abendessen auf Deck servieren, wo sehr geschmackvoll ein kleiner Garten hergestellt war. Strahlend brachte uns dann Madame Sarah die Abendausgabe der einzigen in Bangkok erscheinenden englischen Zeitung, zeigte mit dem Finger auf einen gesperrt gedruckten Artikel unter Allerneuestes und flötete: »Da – der Bangkok-Rekorder hat in gebührender Weise von Ihrer Anwesenheit Notiz genommen, Herr Harst.« Sie sprach das Deutsche recht gut und war auch recht stolz darauf.

Dann eilte sie an den nächsten Tisch und begrüßte andere Gäste.

Harst murmelte sehr unhöflich eine Verwünschung vor sich hin.

»Hier steht wahrhaftig, dass wir im Pensionat Pordepierre abgestiegen sind«, sagte er ärgerlich. »Natürlich hat Sarah dafür gesorgt, dass unsere Namen in die Zeitung kämen – aus Reklamesucht. Jetzt weiß also jeder Europäer hier, dass wir in Bangkok weilen, also dürften es auch unsere Freunde vom P’hrabat wissen. Und das ist mir nicht lieb.«

Unser Tisch stand nahe der Reling. Ich konnte das bunte Leben und Treiben auf dem hier etwa 800 Meter breiten Strom bequem beobachten und fand dies interessanter als Harsts Andeutungen, die auf die Rotblonde und deren Begleiter abzielten, denn dass er mir nun nicht sagen würde, weshalb er gegen sie Verdacht geschöpft hätte, war ganz sicher. Ich kenne meinen Harald Harst! Und der Leser kennt ihn aus unseren früheren Abenteuern ebenfalls, ihn und seine Eigenart, sich stets bis zum Knalleffekt in Schweigen zu hüllen.

Bis zum Westufer hin waren es vielleicht 100 Meter. Ich konnte genau mitansehen, wie auf dem nächsten Wohnboot sich die Familie eines reichen Siamesen zu Tisch setzte, wie es dort ganz europäisch herging und wie der olivengelbe Hausherr die farbigen Diener grob anschnauzte. In wenigen halbzivilisierten Ländern besteht zwischen Reich und Arm ein so scharfer Gegensatz wie gerade in Siam, wo ein Teil der Bevölkerung noch in der entwürdigenden Knechtschaft der Leibeigenschaft lebt.

Meine Aufmerksamkeit wurde erst wieder auf Harst gelenkt, als ich Madame Sarahs helle Stimme vernahm, die einen kleinen, hageren Herrn nun Harst mit den Worten vorstellte: »Hier – mein guter Freund Major Trimal, lieber Herr Harst. Er kommt mit einem Anliegen. Bitte helfen Sie ihm doch. Er behauptet, er …«

Der kleine Franzose mit dem schwarz gefärbten Knebelbart unterbrach Madame nun schnell: »Ich behaupte gar nichts – gar nichts, Monsieur Harst. Ich habe da lediglich auf meinem Schreibtisch heute Morgen etwas gefunden, das ich mir nicht zu erklären vermag.«

Auch ich wurde nun Trimal vorgestellt. Dann verließ uns Madame, und der Major nahm an unserem Tisch auf Harsts liebenswürdige Aufforderung hin Platz.

»Ich habe vor einer Stunde Ihren Namen in der Zeitung gefunden, Monsieur Harst«, begann er nun mit einer etwas gemachten Ruhe. »Deshalb nur bin ich jetzt hier. Ich wage kaum, Ihnen die Belanglosigkeit mitzuteilen, die mich so ein wenig beunruhigt. Darf ich offen sprechen? Die Sache ist wie gesagt sehr harmlos. Ich bewohne im Nordwesten von Bangkok ein hübsches Häuschen, das ich von dem englischen Generalkonsul gekauft habe. Ich bin Junggeselle und leidlich wohlhabend. Meine einzige Leidenschaft ist das Sammeln von Briefmarken. Ich besitze ein Album, dessen Wert etwa 100.000 Mark beträgt. Aus Angst, dass es mir gestohlen werden könnte, habe ich mir in meinem Arbeitszimmer einen kleinen Stahlschrank in die Wand einmauern lassen. Davor hängt ein großes Bild. Niemand kennt diesen verborgenen Tresor. Außerdem sind die beiden Fenster meines Zimmers stark vergittert. Als ich nun heute früh mich an meinen Schreibtisch setzte, fand ich auf einer Briefmarke, die ich gestern Abend gewaschen und zum Trocknen auf weißes Löschpapier gelegt hatte, einen Tintenfleck – einen halb eingetrockneten Tropfen von lila Tinte, die ich nie benutze. Mein Arbeitszimmer hat nur einen Zugang von meiner Bibliothek aus, und diese Tür mit ihrem Patentschloss versperre sich stets sorgfältig, bevor ich zu Bett gehe. Ich begreife nun nicht, wie dieser Tintenfleck auf die Marke gelangt sein kann, Monsieur Harst. Gewiss, es ist nur ein Tintenfleck, aber – wie kommt lila Tinte in mein Haus? Keiner meiner Diener benutzt sie; niemand kann in das Zimmer nachts eindringen. Und doch: Es muss sich jemand in der verflossenen Nacht dort Zugang verschafft haben – muss! Und das beunruhigt mich. Ich fürchte für meine Markensammlung. Man weiß hier in Bangkok, dass ich ein paar seltene Stücke besitze, und die Möglichkeit liegt doch immerhin vor, dass man …«

Harst hatte dem mageren Franzosen zugenickt.

»Ich bin nicht abgeneigt, mir den Tintenfleck anzusehen, Monsieur Trimal«, erklärte er nun, als der Major den Satz nicht zu Ende führte. »Die Sache hat ja immerhin einiges Merkwürdige an sich. Wenn es Ihnen recht ist, brechen wir sofort auf.«

Trimal dankte wortreich. »Ihre Liebenswürdigkeit rühmt man nicht zu Unrecht«, fügte er hinzu. »Mein Wagen wartet dort drüben an der Pagode. Wir sind in zwanzig Minuten auf meiner kleinen Besitzung.«