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Nick Carter – Band 15 – Ein verbrecherischer Arzt – Kapitel 5

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verbrecherischer Arzt
Ein Detektivroman

Ein freiwilliger Gefangener

Was sich der berühmte Detektiv noch während der Nacht zurechtgelegt und überdacht hatte, trat am nächsten Morgen in Erscheinung, als er sich in Begleitung seiner Cousine Ida zum Wohnhaus des älteren Mr. Collins begab und sich bei diesem melden ließ.

Ohne Weiteres ersuchte er Mr. Collins, kaum dass er diesem das Mädchen vorgestellt hatte, darum, Ida in die Familie seines Sohnes einzuführen.

»Warum und weshalb, das kann ich Ihnen jetzt noch nicht erklären«, setzte er hinzu. »Ich habe mir meine Ansicht von dem Fall gebildet, darf mich darüber aber nicht äußern, solange ich nicht gewiss bin, auf der richtigen Fährte zu sein. Es handelt sich um einen Versuch, der vielleicht zum Ziel führen mag.«

»Well, es wird mir nicht schwerfallen, Ihrem Wunsch zu entsprechen«, äußerte der alte Herr, »meine Schwiegertochter und ich haben die Angelegenheit vertrauensvoll in Ihre Hände gelegt und sind gern bereit, Sie nach Kräften zu unterstützen.«

»Selbstverständlich darf außer Ihnen und Mrs. Collins niemand darum wissen, dass die neue Hausgenossin von mir hierhergeschickt wurde und zugleich eine meiner erprobtesten Gehilfinnen ist«, betonte der Detektiv. »Wir haben keine Zeit zu verlieren, und es wäre mir deshalb angenehm, wenn meine Cousine sofort in ihren neuen Wirkungskreis eingeführt werden könnte.«

In Begleitung des alten Herrn begab sich Ida zu dem von dessen Sohn bewohnten Haus, und wenige Minuten später sprach auch der Detektiv, diesmal in einer sorgsamen Verkleidung, in diesem vor. Er achtete nicht auf die Verwunderung der jungen Frau und ihres Schwiegervaters, welche den Detektiv noch nicht zu erkennen vermochten und es nicht begreifen konnten, dass ein Mensch sich derart verblüffend zu verändern imstande war, sondern teilte in kurzen Worten Mrs. Collins mit, was er von ihr verlangte.

»Sie setzen mich in Verlegenheit, Mr. Carter, denn Sie fordern mehr, als im Bereich meines Könnens liegt«, erklärte Mrs. Collins, die ihm aufmerksam gelauscht hatte, schließlich. »Dass Miss Ida mit Freuden von mir hier im Haus aufgenommen werden wird, bedarf keiner Versicherung – doch Sie verlangen, dass ich meinen Gatten während der nächsten Tage und Wochen am Ausgehen hindern soll. In dieser Hinsicht überschätzen Sie meinen Einfluss, denn mein Gatte hat seinen eigenen Kopf, und unter keinen Umständen wird er sich dazu bewegen lassen, seine täglichen Besuche bei Dr. Staples einzustellen.«

»Das muss aber unter allen Umständen durchgesetzt werden«, erklärte der Detektiv im Ton großer Bestimmtheit, »denn mein Plan steht und fällt mit der Voraussetzung, dass Ihr Gatte dem Einfluss dieses Dr. Staples, welcher mir sehr unheilvoller Natur zu sein scheint, vorläufig entzogen wird – und da, wie Sie sagen, Ihr Herr Gemahl zu Hause ist, so will ich es unternehmen, ihn persönlich von der Notwendigkeit eines solchen Entschlusses zu überzeugen!«

Ganz entsetzt wollte Mrs. Collins Einwendungen machen. Unterstützt von ihrem Schwiegervater erklärte sie, dass ihr Gatte sich während der Vormittagsstunden seinen literarischen Studien im Bibliothekszimmer hingebe und strengste Anordnungen getroffen habe, von niemandem darin unterbrochen zu werden. Selbst seine engsten Familienangehörigen durften es nicht wagen, ihn während dieser Stunden zu behelligen. Doch das konnte den Detektiv nicht davon abhalten, das durchzusetzen, was die Pflicht ihm zu gebieten schien, und er sprach so lange eindrücklich auf Mrs. Collins ein, bis diese sich seufzend bereit erklärte, den Detektiv zu ihrem Gatten zu geleiten.

Mit bleichem Gesicht führte sie Nick Carter zu der geräumigen Bibliothek, in welcher ihr Gatte sich aufhielt. Sie fanden ihn an einem Tisch, halb unter dickleibigen Folianten vergraben und tief ins Studium versunken.

Mrs. Collins ließ den Detektiv an sich vorübergehen. Sie selbst blieb unter der Tür stehen und begann zaghaft: »Lieber Mann, hier ist Mr. Carter – er behauptet, dich so dringlich sprechen zu müssen, dass ich es nicht länger wagte, sein Begehren abzuschlagen.«

Damit huschte sie aber auch schon eilig wieder aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ihr Gatte hatte aufgeblickt und war, hellen Ärger in den bleichen Gesichtszügen, vom Stuhl aufgesprungen. Er wäre jedenfalls ausfallend gegen seine Gattin geworden, hätte diese ihm nicht jegliche fernere Aussprache durch ihren schleunigen Rückzug unmöglich gemacht.

»Bitte, Mr. Collins, tadeln Sie Ihre Gattin nicht, denn Sie verdient es wirklich nicht, sondern räumte nur vor meiner Beharrlichkeit das Feld«, erklärte nun der Detektiv in höflichem, aber bestimmtem Ton.

»Mein lieber Mr. Carter, ich habe es mir zur Regel gemacht, mich in meiner Lieblingsbeschäftigung durch nichts und niemanden stören zu lassen – es müsste sich denn gerade um ein Vorkommnis von unabsehbarer Tragweite handeln!«

»Um ein solches handelt es sich, wie ich bereits Mrs. Collins auseinanderzusetzen die Ehre hatte«, unterbrach ihn der Detektiv gemessen.

»Bitte erklären Sie sich gefälligst deutlicher …«

»Ich stehe schon im Begriff, Mr. Collins«, nahm Nick Carter gelassen wieder das Wort. »Sie erwiesen mir gestern Nachmittag die Ehre, mich in Ihr Vertrauen zu ziehen, und teilten mir mit, dass Sie von Zeit zu Zeit das Opfer von Anfällen höchst bedenklicher Natur wären – Anfälle, welche Sie Ihres klaren Bewusstseins berauben und Sie in einen Zustand völliger Willensunfreiheit versetzen, welche jegliches Erinnerungsvermögen ausschließen. Mein heutiger Besuch beschäftigt sich mit diesem Ihrem geheimnisvollen Leiden, und zwar bin ich mit dem Vorsatz gekommen, an Sie das Ersuchen zu richten, mindestens eine Woche lang Ihr Haus nicht zu verlassen!«

»Das ist vollständig ausgeschlossen!«, erklärte Collins abweisend.

»Es muss sich ermöglichen lassen!«

»Nein, sage ich – ich muss täglich meinen Freund und Arzt Dr. Staples aufsuchen!«

»Dr. Staples kann Sie ebenso gut hier im Hause aufsuchen!«, beharrte der Detektiv.

»Das fällt ihm nicht ein. Er besteht darauf, dass ich zu ihm komme!«

»Hilft alles nichts, verehrter Herr, auch Dr. Staples muss sich fügen!«

Erstaunt starrte der Hausherr seinen Besucher an.

»Mit Verlaub, mein werter Mr. Carter, Sie fangen an, unverschämt zu werden!«, entfuhr es ihm.

»Nein, ich bin nicht unverschämt, sondern nur hartnäckig, und ich befehle Ihnen, mir zu gehorchen!«, lautete die scharfe Entgegnung des Detektivs, welcher mit durchbohrendem Blick den vor Ärger sich Verfärbenden betrachtete.

»Herr, Sie wagen es …«

»Nur ruhig, Mr. Collins, Sie kennen mich als Mr. Carter – doch kennen Sie auch meinen Beruf?«

»Gewiss, Sie sollen einer der vorzüglichsten Detektive der Welt sein!«

»Gut, dann lassen Sie uns sofort zu Tatsachen übergehen. Ihr Schwiegervater, Mr. Ramsay, beauftragte mich, eine Anzahl geheimnisvoller Diebstähle, die sich in den besten Gesellschaftskreisen und bei drei verschiedenen Festlichkeiten sogar in seinem eigenen Haus zugetragen hatten, auf den Grund zu kommen und den verbrecherischen Urheber ausfindig zu machen!«

Er hatte mit starker Betonung gesprochen und den anderen scharf dabei beobachtet, doch in dessen Zügen prägte sich nur ungeheures Erstaunen aus.

»Weiter«, fuhr der Detektiv fort, »ich habe mich meines Auftrags entledigt, und es ist mir gelungen, in mindestens zwei Fällen die Person des Diebes festzustellen – eines in der New Yorker Gesellschaft hoch angesehenen Mannes!«

»Und wie heißt dieser Erbärmliche?«, entfuhr es den Lippen des Hausherrn.

»Der Dieb steht vor mir – Mr. Collins, Sie sind der Dieb!«

»Ich?« Mit einem entsetzten Aufschrei trat der schrecklich Überraschte einen Schritt zurück, um jedoch gleich darauf empört hinzuzusetzen: »Das ist eine Nichtswürdigkeit – ich lasse mich von niemandem entehren, am wenigsten in meinem eigenen Haus – dort ist die Tür …!«

Dann, als der Detektiv gelassen stehen blieb, überkam den so furchtbar Beschuldigten die Wut, und er stürzte auf seinen Besucher zu, wie um sich tätlich an diesem zu vergreifen.

Doch im Nu hatte ihn Nick Carter bei den Handgelenken gepackt und hielt ihn trotz seines Sträubens mit eisernem Griff fest, indem er zugleich sagte: »Es liegt in ihrem eigensten Vorteil, mich ruhig anzuhören, Mr. Collins. Ihr gerechtfertigtes Aufbrausen überrascht mich nicht, denn ich bin der festen Überzeugung, dass Sie von Ihren Verfehlungen überhaupt keine Ahnung haben. Doch bitte, setzen Sie sich und hören Sie mich geduldig an.«

Es lag solch zwingende Überredung in Ton und Auftreten des Detektivs, dass der Hausherr unwillkürlich gehorchte.

»Es tut mir leid, Mr. Collins, dass ich mich gezwungen sah, Ihnen so schonungslos die Wahrheit zu enthüllen«, begann der Detektiv nunmehr. »Doch es ist leider Tatsache, dass Sie die Diebstähle begangen haben, als Sie von Ihren beklagenswerten Anfällen heimgesucht wurden. So raubten Sie während des Ballabends im Haus Ihres Schwiegervaters eine Diamantbrosche, welche seither von mir der Eigentümerin zurückgegeben wurde, ohne dass diese natürlich Kenntnis von dem Täter erlangt hat. Während der verwichenden Nacht beobachtete ich Sie in Ihrem väterlichen Haus, wie Sie einer der anwesenden Damen ein wertvolles Armband fortnahmen. Ich sah, wie Sie den Gegenstand in die hintere Fracktasche steckten, und als die Lady ihren Verlust bemerkt hatte, zog ich Ihnen unbemerkt das Armband aus der Tasche und ließ es Sie gleich darauf auf dem Teppich finden. Wie gesagt, ich weiß, dass Sie für Ihre Handlungsweise nicht mehr verantwortlich gemacht werden können als etwa Ihr Vater, Ihre Gattin oder ich selbst, und auch die Ihrem Herzen teuren Personen sind nicht minder davon überzeugt, dass Sie unter einem uns noch unerklärlichen unheilvollen Zwang handeln. Erst als Ihr Vater und Ihre Gattin sich nicht mehr zu helfen wussten, riefen sie meinen Beistand an. Ich bitte Sie nun, einstweilen in Ihrem Haus zu bleiben. Bei nüchterner Überlegung werden Sie einsehen, dass ein solches Ersuchen nicht zu weit geht, denn mag Ihr in Dr. Staples gesetztes Vertrauen auch noch so gerechtfertigt sein, so hat dessen Behandlungsweise doch bisher keine Erfolge gezeigt – er kann auch nicht immer zu Ihrem Schutz zugegen sein, und es könnte sich ereignen, dass Sie bei einem neuerlichen Anfall vor der Öffentlichkeit bloßgestellt werden würden. Sie begreifen also, dass mein Ersuchen nur einen gutgemeinten Vorbeugungsakt darstellt!«

Der unglückliche Mann war von den ihm soeben mitgeteilten Dingen so überwältigt, dass er zunächst keine Antwort fand. Dann, mühsam seine Sinne sammelnd, begann er eine Menge Fragen an den Detektiv zu stellen, welche ihm von diesem eingehend beantwortet wurden. Schließlich gestand er mit seinem Seufzer: »Ja, ich bin überzeugt. Was Sie mir sagen, ist zugleich so niederschmetternd und so beschämend für mich, dass ich es ohnehin nicht mehr wagen würde, vor meiner gänzlichen Heilung einem Fremden unter die Augen zu treten. Ich will mich von aller Welt ausschließen und zum Gefangenen machen!«

»Das ist ein männlicher Entschluss, welcher Sie nur ehren kann, Mr. Collins«, entgegnete der Detektiv, ihm herzlich die Hand schüttelnd. »Doch vergessen Sie nicht, dass Sie von einem neuen Anfall jederzeit überrascht werden und während eines solchen zu dem Entschluss kommen könnten, das Haus doch wieder zu verlassen. Wollen Sie nicht lieber Anordnungen treffen, welche dies unmöglich machen?«

»Sie haben recht«, erklärte der unglückliche Mann mit einem fast scheuen Blick auf den Detektiv, »ich will derartige Anordnungen ungesäumt treffen!«

Damit trat er auch schon zu einer Wandklingel, setzte sie wiederholt kräftig in Bewegung und kehrte dann zu seinem Arbeitstisch zurück, hinter welchem er sich erschöpft niederließ.

Als gleich darauf ein Diener erschien, befahl Collins ihm, ungesäumt seine Gattin und die gesamte Dienerschaft in die Bibliothek zu berufen. Es dauerte einige Minuten, bis sich sämtliche Hausbewohner erwartungsvoll um ihn versammelt hatten, und dann erklärte er mit schleppender, häufig versagender Stimme: »Ich wünsche bekanntzumachen, dass mir gewisse Dinge zur Kenntnis gebracht worden sind, welche sich während der Anfälle, denen ich durch meine Krankheit ausgesetzt bin, ereignet haben. Mit kurzen Worten, ich weiß zuweilen nicht, was ich tue. Bis zu meiner Wiederherstellung werde ich dieses Haus nicht verlassen. Es mag sein, dass ich in einem solchen Anfall doch den Versuch machen werde, mich aus dem Haus zu begeben. Darum gebe ich jetzt, da ich mich im Vollbesitz meiner Geisteskräfte befinde, den ausdrücklichen Befehl, mich an einem Verlassen des Hauses unter allen Umständen und nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt zu hindern. Nun lassen Sie mich allein!«

Dann, als er sich wieder allein mit dem Detektiv im Zimmer befand, klammerte er sich mit beiden Händen wie schutzsuchend an ihn.

»Habe ich es so richtig gemacht?«, versetzte er tonlos, um dann, noch ehe Nick Carter ihm antworten konnte, diesem unter bitterem Aufschluchzen um den Hals zu fallen. »Beim allmächtigen Gott beschwöre ich Sie, retten Sie mich, Mr. Carter, retten Sie mich vor Schande – retten Sie mich vor mir selbst!«, stöhnte er auf.

Der Unglückliche weinte wie ein Kind, und es bedurfte aller dem Detektiv zu Gebote stehenden Überredungskunst, um den aufgeregten Mann notdürftig wieder zu beruhigen. Erst als dies geschehen war, verabschiedete sich Nick mit freundschaftlichem Händedruck von dem Bedauernswerten, der sich freiwillig zum Gefangenen in seiner eigenen Behausung gemacht hatte.