Der Detektiv – Band 28 – Das Rätsel des Indischen Ozeans – Teil 5
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Das Rätsel des Indischen Ozeans
Teil 5
Nun, diese Versammlung enttäuschte mich sehr. Wolpoore begrüßte uns in seiner nervösen Art mit allerlei Fragen, auf die Harst nur erwiderte: »Sie werden mit mir zufrieden sein, lieber Wolpoore.«
Dann erklärte er den Anwesenden etwa Folgendes, wobei mir auffiel, wie merkwürdig er im Verlaufe seiner Ausführungen seine Annahme (er sprach nur von Annahme) begründete, es müssten andere Leute und nicht Thugs Campell ermordet haben.
»Ich nehme jetzt an«, begann er, »dass Thugs bei dem an Campell verübten Verbrechen nicht infrage kommen. Der Polizeihund fand keine Fährte der Täter. Das Tier hat noch nie versagt. Wenn aber Thugs nicht für diesen Mord in Betracht kommen, können sie auch nicht die Urheber der drohenden Inschrift sein und ebenso wenig Schraut und mich durch die Beschädigung des Bahndammes haben unschädlich machen wollen. Nein, für diese drei ineinandergreifenden Ereignisse müssen wir die Täter anderswo suchen.«
Harst entstellte hier also das, was wir bereits als Tatsachenmaterial zur Verfügung hatten, vollständig und ließ besonders alles weg, was auf den Selbstmord Bezug hatte. Später, als das Rätsel des Indischen Ozeans uns nochmals beschäftigte, wurde mir klar, wie überaus fein gerade bei diesem Problem die Geistesarbeit war, die Harst hier hatte.
»Sie haben also keinerlei Grund, lieber Wolpoore, sich noch zu beunruhigen. Ich bin überzeugt, es gibt keine Thugs mehr, die sich in Freiheit befinden und Ihnen nachstellen könnten. Ich glaube vielmehr, dass die Mörder Campells lediglich die Polizei und Ihre Detektive durch die Inschrift und durch den Überfall auf uns irreführen wollten. Es sollte der Eindruck erweckt werden, Thugs seien hier am Werk. Dann konnten die wahren Täter desto gelassener die polizeilichen Ermittlungen abwarten. Das ist es, was ich hier vortragen wollte. Unsere Aufgabe wird es nun also sein, die Nachforschungen in anderer Richtung fortzusetzen, und zwar derart, dass wir den Bekanntenkreis Campells scharf aufs Korn nehmen. Dort vermute ich die Mörder. Jedenfalls betone ich nochmals: Thugs hat niemand mehr zu fürchten – niemand!«
Gleich darauf zerstreute sich die Versammlung, nachdem sowohl Blindley, der Chef der Privatpolizei, als auch Marbodly und ein anderer Detektiv namens Harrison in bescheidener, aber auch bestimmter Art Harsts Ausführungen widersprochen hatten, indem sie darauf hinwiesen, dass der Polizeihund versagt haben müsse und dass der Umstand, dass er keine andere Fährte als die Campells aufgenommen hätte, doch keineswegs gegen die hohe Wahrscheinlichkeit spräche, nur Thugs könnten die Täter sein. Harst hatte hierauf auch nur in offenbar übertrieben erregtem Ton erklärt, man solle sich nur auf sein Urteil verlassen, da ihm wohl die größere Erfahrung zu Gebote stände.
Wolpoore fuhr dann mit Blindley wieder zu seinem Schloss hinaus. Er hatte noch am Schluss der Versammlung betont, er habe zu Harst volles Vertrauen und glaube nun selbst nicht mehr an Thugs.
Wir verbrachten im Hotel eine ruhige Nacht. Als wir um halb zehn vormittags im Speisesaal beim Frühstück saßen, sagte Harst ganz unvermittelt: »Ich bin nur neugierig, in welcher Weise die Entscheidung sich anmelden wird. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Wer weiß, welcher Art diese Schatten …«
Da kam schon der Hoteldirektor an unseren Tisch und sagte hastig: »Lord Wolpoore hat soeben aus dem Verwaltungsgebäude telefoniert. Master Harst möchten sofort dorthin eilen. Seine Lordschaft sind in großer Aufregung, weil die Inschrift sich abermals gezeigt hat.«
»Ah – die Schatten!«, rief Harst und sprang auf.
Als wir das Privatkontor Wolpoores betraten, fanden wir dort den Lord, Blindley, Marbodly, Harrison und noch zwei Detektive vor. Wolpoore war leichenblass und saß völlig gebrochen in einem Sessel. Er konnte kaum sprechen, wies auf die Karte des Indischen Ozeans, wo in silberweißer Farbe in dem Blau des Wassers die Worte deutlich zu lesen waren:
Du wirst noch heute sterben!
»Harst«, murmelte Wolpoore, »vor einer Viertelstunde kam ich hierher, sah die Inschrift, rief Blindley und seine Leute hierbei, und diese fanden dann dort hinter jenen Büchern auf dem Wandbrett eine Höllenmaschine mit einem Uhrwerk, das so eingestellt war, dass die Explosion um halb zwölf erfolgt wäre. Harst, es sind also doch wieder Thugs hinter mir her! Wer sollte auch sonst mir nach dem Leben trachten?«
Harst drückte dem Lord die Hand.
»Niemand tut es mehr, lieber Wolpoore«, meinte er ernst und lehnte sich dann an die Tür, sodass er jedem den Ausgang versperrte. »Niemand tut es! Die, von denen die Höllenmaschine aufgestellt wurde, wussten, dass sie sie vorher finden und das Uhrwerk abstellen würden. Ich will hierfür einige Beweise anführen. Master Marbodly«, wandte er sich an den Detektiv, der damals Wolpoore in den Garten geschickt und das Privatkontor durchsucht hatte, »Sie waren derjenige, der die erste Inschrift auf die Karte gezaubert hat. Sie hatten damals das Kontor betreten, bevor der Lord hierherkam. Sie haben die chemischen Reste der Inschrift dann weggewischt, als Wolpoore im Garten weilte. Sie und Ihr Kollege Harrison haben die Thugs gespielt, nachdem Campells Selbstmord, denn es handelt sich um einen solchen, Ihnen den Gedanken eingegeben hatte, Sie könnten diese Selbstentleibung zu einem ganz besonderen Plan ausnutzen, da gerade die Selbsterdrosselung schon auf Thugs hindeutete. Da haben Sie, Marbodly, hier im Kontor den Thug gespielt, haben die Drohung hingemalt! Und dann lauerten Sie beide uns an der Bahnstrecke auf, Sie beide in einer Verkleidung! Dann bedrohten scheinbar wieder Thugs uns mit dem Tod, fesselten uns aber so, dass wir freikommen mussten. Und schließlich sind Sie beide mir nun auch wirklich insofern auf den Leim gegangen, als ich gestern bei der Versammlung hier im Verwaltungsgebäude Lord Wolpoore darüber beruhigte, dass sein Leben nicht mehr in Gefahr sei, was er mir auch glaubte. Dies passte jedoch nicht zu Ihren Plänen! Das wusste ich, und deshalb sah ich voraus, dass die Thugs, nämlich Sie beide, sich wieder melden würden, damit Wolpoore abermals, wie jetzt geschehen, von einer ständig ihn umlauernden Gefahr überzeugt ist, der er nur durch stete Wachsamkeit seiner Detektive entgehen kann.«
Marbodly rief jetzt empört: »Das ist eine niederträchtige Verleumdung! Weshalb sollten Harrison und ich wohl die Thugs gespielt haben? He – weshalb wohl?«
»Oh – das kann ich Ihnen genau sagen. Zunächst war mir das Motiv für diese schändlichen Manöver allerdings unklar. Dann aber sah ich ein Extrablatt des MANDRAS-JOURNAL, auf dem als Überschrift stand:
Entlassung von 500 Arbeitern der Union-Werft wegen Arbeitsmangel! Unruhen im Eingeborenenviertel.
Da hatte ich das Motiv gefunden! Es heißt: Verhütung der drohenden Entlassung aus dem Dienste des Lords!
Sobald Wolpoore keine Thugs mehr zu fürchten brauchte, war ja seine Privatpolizei überflüssig. Er hatte auch schon in Delhi geäußert, er könne nun ohne seine Leibwache auskommen. Diese Entlassung aus einer Stellung, die so tadellos bezahlt wurde und dabei so angenehm war, wollten Sie beide vereiteln, indem Sie die Thugs wieder heraufbeschworen! Wolpoore sollte wieder in die alte Angst versetzt werden! Deshalb die erste Inschrift, deshalb der Überfall auf uns, deshalb jetzt das zweite Rätsel des Indischen Ozeans! Leugnen Sie nicht, Marbodly! Wo waren Sie und Harrison denn vorgestern Nacht?«
Marbodlys Gesicht war fahl geworden. Auch Harrison machte ganz den Eindruck eines überführten Übeltäters.
»Sie und Harrison waren vorgestern Nacht beurlaubt«, fuhr Harst fort. »Das hat mir gestern Abend Blindley auf meine Frage hin mitgeteilt. Nur Sie beide von den Detektiven waren beurlaubt! Und dann haben Sie in tadellosen Masken uns gefangen genommen! Geben Sie sofort alles zu, so will ich Wolpoore bitten, Sie laufen zu lassen und Sie nicht der Polizei auszuliefern.«
Die beiden sahen ein, dass sie am klügsten täten, ein offenes Geständnis abzulegen. Sie bestätigten alles, was Harst ihnen vorgehalten hatte. Noch an demselben Tag verschwanden sie aus Madras. Wolpoore löste seine Leibwache auf, stellte die Detektive aber auf seinen Plantagen mit demselben Gehalt ein, sodass Sheffring in der Lage war, Lydia Faringdall sehr bald zu heiraten.
*
Wolpoore hat nie wieder unter den Nachstellungen von Thugs zu leiden gehabt. Das Rätsel des Indischen Ozeans war das letzte, was ihn an diese Mördersekte erinnert hatte.
Als nächstes unserer Abenteuer will ich nun ein Problem schildern, dessen überaus harmloses Aussehen nachher sich in das gerade Gegenteil verwandelte, weshalb ich es auch betitele:
Nur ein Tintenfleck