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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 3 – Kapitel 6

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Dritte Episode
Der Bildhauer von Menschenfleisch

Kapitel 6

Im Lunatic-Asylum

Der Direktor des Irrenhauses war stolz darauf, eine so berüchtigte Persönlichkeit wie Baruch Jorgell, dessen Verbrechen die ganze Welt beschäftigt hatten, in seiner Anstalt zu haben.

»Mr. Jorgell«, sagte er, »wird hier mit der größten Hingabe gepflegt; er wird von berühmten Geisteskranken besucht, unter denen ich Dr. Cornelius Kramm erwähnen möchte. Er war vorgestern noch hier.«

»Ist er der Meinung«, fragte Miss Isidora gerührt, »dass wir irgendeine Hoffnung haben, wenn schon nicht auf eine vollständige Heilung, so doch zumindest auf eine Verbesserung des Zustands des Kranken?«

»Ich möchte ganz offen mit Ihnen sein, Miss, der Doktor hat keine Hoffnung. Mr. Baruch Jorgell leidet an vollständiger Amnesie, und die Herren Irrenärzte sind sich einig, dass diese Amnesie durch einen heftigen Schlag verursacht worden sein muss, der eine Verletzung hervorgerufen hat, die mit Sicherheit nicht heilbar ist … es sei denn, es geschieht ein Wunder.«

Miss Isidora seufzte tief und folgte dem Direktor schweigend über einen Sandweg, der von kistenförmigen Sträuchern gesäumt war.

»Wie Sie sehen können«, fuhr er fort, »werden die Bauarbeiten mit fieberhafter Aktivität vorangetrieben. In wenigen Monaten werden wir alles zur Verfügung haben, was für die Heilung von Geisteskrankheiten am besten geeignet ist: große Gärten für Freiluftkuren und körperliche Betätigung, Operationssäle, elektrische Bäder, Radium- und Sonnenbäder, nicht zu vergessen ein Frigotherapieraum, der für die Behandlung von Hypochondrie und akuter Neurasthenie unentbehrlich ist.

Als er merkte, dass Miss Isidora und ihre Haushälterin ihm nur halbherzig zuhörten, sagte er: »Vielleicht«, und fügte er mit einem verheißungsvollen Lächeln hinzu, »möchten Sie einige unserer Kranken sehen?  Das ist ein Gefallen, den ich nicht oft gewähre, und wir haben hier einige sehr interessante Themen!«

»Ich danke Ihnen, gnädiger Herr«, erwiderte das Mädchen kühl.

»Wir haben hier zum Beispiel den Flieger Nelson, der glaubt, er sei in ein Flugzeug verwandelt worden, und den wir in Gewahrsam nehmen müssen, damit er nicht auf die Dächer klettert, um wegzufliegen; den Automobilisten, der den ganzen Tag in Reifen eingewickelt herumläuft und den man nur mit Mühe davon abhalten kann, Benzonaphthol zu trinken; den Katzenmenschen, der jede andere Nahrung als Milch und rohe Leber ablehnt; er verbringt seine Zeit damit, zu miauen, zu schnurren und seine Nägel auf einem Brett zu kräuseln. Wir haben noch …«

»Ich zweifle nicht daran«, unterbrach die Haushälterin, »dass all diese Kranken sehr interessant sind, aber Miss Isidora ist nicht daran interessiert, diese unglücklichen Menschen zu sehen, deren Anblick sie nur zutiefst traurig machen würde. Sie ist gekommen, um ihren Bruder zu besuchen, nur aus diesem Grund!«

»Nun gut«, murmelte der Direktor leicht beleidigt, weil seine Angebote so wenig beachtet wurden, »ich dachte, ich würde Ihnen gefallen, aber da es nun einmal so ist, lassen wir das Thema… Leider muss ich Sie wegen eines dringenden Termins verlassen, aber hier ist der Oberaufseher, der Ihnen als Führer dienen wird.«

Nach einer zeremoniellen Begrüßung übergab Dr. Johnson die beiden Frauen in die Obhut eines athletischen Mannes in einer gelben Uniform mit Metallknöpfen und einem seltsamen Helm aus gesottenem Leder, dem Oberaufseher.

Miss Isidora stellte ihm einige Fragen über die Situation ihres Bruders, aber er hatte genaue Anweisungen, wie er den Eltern reicher Kunden antworten sollte.

»Mr. Jorgell«, sagte er in unterwürfigem Ton, »geht es so gut, wie es sein Zustand zulässt. Wir können uns nur zu seinem Verhalten beglückwünschen. Was die Fürsorge betrifft, die er genießt, so wissen Sie, Miss, dass das Motto unseres Hauses lautet: Sanftmut, Menschlichkeit, Komfort.«

Der Mann in der gelben Uniform hütete sich, von der Zwangsjacke, den eiskalten Duschen und der Peitsche zu sprechen, die er ohne Skrupel einsetzte, wenn die Kranken etwas unruhig waren.

Sie waren vor einer hohen Mauer angekommen, in der sich eine kleine Eisentür mit einem Guckloch befand.

Der Aufseher nahm einen Schlüsselbund von seinem Gürtel und führte die Besucherinnen in ein Gehege, dessen Boden mit spärlichem Gras bedeckt war und auf dem ein paar kümmerliche Bäume wuchsen. Miss Isidora dachte mit einem Stich im Herzen, dass dies zweifellos die weitläufigen Gärten waren, von denen der Direktor gesprochen hatte und die sich für Kuren im Freien und für körperliche Betätigung eigneten.

Etwa dreißig zahlende Patienten waren dort, einige in dumpfer Niedergeschlagenheit, andere liefen ruckartig und gestikulierend unter dem abwechselnd starren und beweglichen Blick von vier Wächtern herum – dem speziellen Blick der Kerkermeister, die immer damit rechnen, unerwartet angegriffen zu werden.

Nur mit Mühe erkannte Miss Isidora ihren Bruder.

Mit Schrecken betrachtete sie den stumpfen, warmen Blick, das abgemagerte, von Reue und Krankheit zerfressene Gesicht und die verfärbten Lippen eines alten Mannes. Ein furchtsames, gebeugtes Wesen ohne genaues Alter, dessen Glieder von einem ständigen Zittern bewegt wurden – das war alles, was von dem robusten, energischen Baruch übrig geblieben war.

»Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass dies mein Bruder ist«, murmelte das Mädchen mit ergreifender Traurigkeit.

»Doch, das ist er«, sagte die Haushälterin, »aber wie niedergeschlagen, er ist nur noch ein Schatten seiner selbst!«

Miss Isidora nahm die Hand des Dementen und setzte sich neben ihn.

»Ich bin es, deine Schwester Isidora«, sagte sie und bemühte sich um ein Lächeln, »wie geht es dir?«

Baruch blickte das Mädchen mit einem Blick an, in dem kein Gedanke war, und zog seine Hand mit einer ängstlichen Geste zurück.

»Baruch!«, sagte Miss Isidora mit hartnäckiger Sanftheit, »komm, gib dir Mühe! Sieh mich an … Isidora, erinnert dich dieser Name an etwas?«

»Nichts«, murmelte er mit rauer Stimme.

Er betrachtete das Mädchen nun mit einem etwas weniger erloschenen Blick, in dem plötzlich ein flüchtiger Gedankenblitz aufblitzte, dann legte er die Hand mit einer kläglichen Geste an die Stirn.

»Ich erinnere mich nicht mehr«, stotterte er, »ich weiß nicht mehr … Was wollen Sie von mir? Ich bin sehr unglücklich! Oh, ja! Sehr unglücklich!«

Miss Isidora wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen stiegen; sie war am Ende ihres Mutes. Sie wollte nicht weggehen, ohne ein wenig Hoffnung mitzunehmen.

»Nenne mir deinen Namen?«, forderte sie.

»Ich weiß nicht …«

Er verbarg seinen Kopf in seinen Händen und es war Miss Isidora unmöglich, etwas anderes aus ihm herauszubekommen.

Während dieser betrüblichen Szene hatte die Haushälterin geschwiegen. Sie war unwiderstehlich von den Grimassen eines alten Gentlemans angezogen, der auf allen vieren und mit einem Buckel durch die Nachbarschaft schlich. Es war genau der Mann, der sich einbildete, in eine Katze verwandelt worden zu sein. Plötzlich begann er so schaurig zu miauen, dass die ehrenwerte Mistress trotz der Anwesenheit der Wächter erschrak.

»Miss Isidora«, sagte sie, »ich glaube, es ist besser, wenn wir gehen. Die hagere Miene all dieser Unglücklichen lässt mir das Blut in den Adern gefrieren … Vielleicht nervt sie unsere Anwesenheit. Lassen Sie uns gehen.«

»Sie haben recht«, murmelte das Mädchen traurig.

»Gehen wir weg«, wiederholte die Schottin unwirsch und trat näher an ihre Herrin heran, »dieser Herr macht mir Angst mit seinem Miauen.«

Sie zeigte auf den Verrückten, der ein paar Schritte von ihr entfernt stehen geblieben war.

»Wir gehen«, sagte Miss Isidora, »aber vielleicht ist es doch besser, wenn Baruch jede Erinnerung an die Vergangenheit verloren hat …«

Die beiden beeilten sich, den unheimlichen Garten zu verlassen und aus diesem Asyl des Schmerzes herauszukommen. Sie stiegen in das Auto, das auf sie wartete, und fuhren schnell in Richtung New York.

Miss Isidora erholte sich nur langsam von dem schrecklichen Gefühl, das sie gerade erlebt hatte.

»Es ist seltsam«, murmelte sie, «ich kann mir nicht vorstellen, dass das mein Bruder Baruch ist, den ich gerade gesehen habe. Es scheint mir, dass er es ist und dass er es nicht ist; dass der Unglückliche, den wir gerade verlassen haben, nur eine groteske und bemitleidenswerte Karikatur des alten Baruch ist.«

»Gewiss«, sagte die Haushälterin, »die Krankheit hat ihn sehr verändert.«

»Dann gibt es Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Es gibt Momente, in denen ich mich frage, ob mein Bruder wirklich an all den Verbrechen schuldig ist, derer er überführt wurde … Man kann ihn nicht als verrückt bezeichnen, und er ist auch nicht dumm, denn er erkennt seine Lage und leidet darunter … Dieser Besuch hat mir das Herz gebrochen.«

Miss Isidora kehrte traurig in den Palast ihres Vaters zurück, aber ihre Melancholie und ihre Sorgen hatten sich noch verstärkt. Sie zog sich von da an noch tiefer zurück als je zuvor.

Jeden Monat besuchte sie mutig das Lunatic-Asylum und stellte verzweifelt fest, dass sich Baruchs Zustand in keiner Weise veränderte; seine Intelligenz und sein Gedächtnis blieben in der Finsternis des Nichts versunken.