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Eine Reise ins Jahr 2000 – Kapitel I

William Wallace Cook
Eine Reise ins Jahr 2000
Kapitel I.
Der Mann und die Stunde

Lumley stand auf dem verlassenen Pier am North River und blickte in das dunkle Wasser. Ein Sprung würde alles beenden. Warum sollte er es nicht tun?

Fröstelnd zog er seinen abgetragenen Mantel fest um sich und lehnte sich an einen der Pfähle. Eigentlich schien ihm nur dieser eine Sprung als Ausweg zu bleiben, aber – nun, er zögerte.

Das unbekannte Land erschien ihm in diesem Augenblick gerechter als alles, was er bisher hatte erkunden können.

Dort und nirgendwo sonst hatte er Freunde. Die Frage nach Nahrung und Kleidung war in diesem schönen Land nicht von entscheidender Bedeutung; noch konnten die Bluthunde des Gesetzes ihn über seine Grenzen hinaus verfolgen oder ihn von seinem Aufenthaltsort wegbringen, um ihm vor einem weltlichen Gericht Unrecht zu tun.

Die Stunde war günstig. Die Lichter des dahingleitenden Flusses schwebten in gezogenen Linien über Lumleys Blickfeld, und das Tuckern der vorbeifahrenden Boote und die heiseren Warnungen ihrer Sirenen drangen undeutlich an sein Ohr, als er am Ufer zögerte.

Einen Moment lang schwankte er, dann, mit einem langen, zitternden Atemzug, streckte er sich zu seiner vollen Größe, breitete die Arme aus und – zog sich zurück.

Nicht, dass er Angst gehabt hätte, nein, nein. Er war ein Mann, der seiner Zeit voraus war, und es hätte ihn zu sehr befriedigt, in den Sog dieser engstirnigen Epoche um 1900 hineingezogen zu werden.

Bei näherem Hinsehen hätte er überlebt. Andere waren Opfer widriger Umstände geworden und hatten schließlich Gerechtigkeit erfahren. Er würde sein Schicksal ertragen, bis einige seiner fortschrittlichen Ideen Fuß fassen und ihn von seinem Schicksal befreien würden. Als er sich umdrehte, um den Pier zu verlassen, hörte er ein krächzendes Lachen.

In einiger Entfernung sah er eine schwarze Gestalt im Schatten. Lumley blieb stehen und die Gestalt kam auf ihn zu.

»Warum bist du nicht gesprungen?«, krächzte eine trockene, monotone Stimme.

Der kleine Mann – Lumley konnte sehen, dass er einen Buckel hatte – hielt inne und lachte wieder, als er die Frage stellte.

»Ich erkenne Ihr Recht, Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben, nicht an«, erwiderte Lumley eisig.

»Nein?«, kam es in unerschütterlichem Ton von der anderen Seite. »Erkennen Sie mein Recht an, Mr. Everson Lumley, Ihnen in Ihrer Notlage eine helfende Hand zu reichen?«

Lumley zuckte zusammen und betrachtete den Mann vor ihm genau. Außer einem glatten Gesicht mit spitzer Nase und Kinn und einer großen runden Brille konnte er nichts über sein Gegenüber herausfinden.

»Sie scheinen mich zu kennen«, mutmaßte Lumley, »und doch kann ich mich nicht erinnern, wo ich Sie schon einmal getroffen habe.«

»Das ist unsere erste Begegnung.«

»Woher kennen Sie dann meinen Namen?« Wieder ertönte das krächzende Lachen des Zwerges.

»Ich weiß alles über Sie, und wie ich schon sagte, bin ich Ihnen heute Abend gefolgt, um Ihre Bekanntschaft zu machen und mich in Ihrer Stunde der Not als Freund zu erweisen. Sie sind der Mann, Lumley, und dies ist die Stunde!«

»Ja?«, erwiderte Lumley vage.

»Ganz sicher. Die Mühlen des Gesetzes, mein Freund, drehen sich bereits um dich.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, dass Kinch Ihnen auf der Spur ist.«

»Kinch! Gütiger Himmel!« Lumley presste die Hände zusammen und blickte grimmig hinter sich zum Fluss.

»Und Sie wissen davon?«, flüsterte er und wandte sich wieder dem Buckligen zu.

»Ich weiß mehr, als Sie sich vorstellen können. Kommen Sie mit, und ich zeige Ihnen, wie Sie den Detektiv austricksen können. Wenn Sie meine Hilfe ablehnen, sind Sie morgen früh hinter Gittern.

Lumley lief ein kalter Schauer über den Rücken. Zweifellos schwebte er in großer Gefahr, aber sie war nicht so groß, dass er dem geheimnisvollen Buckligen bereitwillig gehorchte.

»Wer sind Sie«, fragte Lumley misstrauisch, »dass Sie mich retten wollen?«

»Ich glaube an Ihre Unschuld, und es ist ein Grundsatz meines Glaubens, dass ein Philosoph einem anderen helfen sollte, wann immer er kann. Ha!« Der Unbekannte drehte sich um und deutete auf die beleuchtete Straße hinter ihm. »Da ist Kinch – er kommt. Schnell! Sie haben nur einen Moment, um sich zu entscheiden. Wollen Sie mitkommen?«

»Ja, ja«, murmelte Lumley. »Ich werde alles tun, um diesem Mann zu entkommen!«

»Gut!«

Der Bucklige packte Lumleys Arm und stürzte mit ihm in die Dunkelheit, die links von ihnen lag. Auf einem Umweg erreichten sie die Straße und sprangen in eine wartende Kutsche.

»Schneller!«, rief der Zwerg dem Kutscher zu. »Ihr wisst, wohin wir fahren.«

Als sie sich in Bewegung setzten, raste eine Droschke hinter ihnen her, die einen Block weiter auf der Straße gewartet hatte. Lumley sah durch das heruntergelassene Fenster in der oberen Hälfte der Kutschentür.

»Kinch folgt uns!«, rief er und ließ sich in den Sitz zurücksinken.

»Soll er doch kommen«, erwiderte der andere selbstgefällig. »Wenn wir vor ihm ankommen, ist mir alles egal.«

»Mir nicht. Wenn er weiß, wohin ich fahre, wird er mich einholen.«

»Das wird er nicht, wenn du tust, was ich dir sage.«

»Was soll ich denn tun?«

»Warte, warte. Hab Geduld.«

In diesem Augenblick hielt die Kutsche an. Der Bucklige, dicht gefolgt von Lumley, sprang heraus und rannte die Stufen eines Hauses hinauf.

Ein scharfes Hüh! und das Schleifen der Räder ertönte vom Bürgersteig, als die Kutsche hinter ihnen herjagte.

»Halt!«, befahl eine Stimme, und ein Mann sprang vom Zweirad auf den Bürgersteig.

»Steig ein, Lumley!«, befahl der Zwerg und riss die Tür auf.

Außer Atem und völlig erschöpft stolperte Lumley ins Haus, und der Zwerg schloss und verriegelte die Tür hinter ihnen.

»Gerettet!«, rief er.

»In Sicherheit, meinst du«, keuchte Lumley. »Wie lange wird Kinch wohl brauchen, um die Tür aufzubrechen und mich zu fangen?«

»Selbst wenn er die Tür aufbricht, wird er dich nicht erwischen, wenn du meinen Anweisungen folgst. Hier entlang, wenn ich bitten darf.«

Als der kleine Mann die Treppe hinaufging, erschien im Flur ein Diener.

»Ich brauche eine halbe Stunde, Chester«, rief der Zwerg über das Geländer.

»Ich verstehe, Sir«, antwortete der Diener.

Lumley bemerkte, dass sein Begleiter offenbar jeden Punkt eines umfassenden Plans abgedeckt hatte. Aber es war keine Zeit für Kommentare oder Erklärungen.

In wenigen Augenblicken befanden sich Lumley und der geheimnisvolle Zwerg hinter einer weiteren verschlossenen Tür in einem geräumigen, hell erleuchteten Arbeitszimmer.

»Wir haben dreißig Minuten, Mr. Lumley«, mahnte der kleine Mann und warf den Mantel beiseite, der seine unförmige Gestalt verhüllt hatte. »Bitte setzen Sie sich und beruhigen Sie sich.«

»Ich kann mich setzen«, sagte Lumley und ließ sich auf ein Ledersofa fallen, »aber es wird schwer sein, mich zu beruhigen, wenn dieser Detektiv an Ihre Tür klopft.«

»Ach, Chester wird sich um ihn kümmern.«

»Vielleicht für eine halbe Stunde. Danach wird sich Kinch um mich kümmern.«

»Nicht, wenn Sie den Mut meiner Überzeugungen haben.«

»Würden Sie mich bitte aufklären?«

Der Zwerg warf sich in einen Stuhl, schien darin zu versinken, und starrte Lumley mit blitzenden Augen an.

»Sie werden es bald erfahren. Zunächst einmal bin ich Doktor Kelpie …«

»Nicht Doktor Alonzo Kelpie, der Autor von Zeit und Raum und ihre Grenzen

»Genau der«, antwortete der gelehrte Doktor. »Kennen Sie mein Werk?«

»Ich könnte sie rückwärts aufsagen.«

»Ah! Umso besser – umso besser, Herr Everson Lumley. Sie sind in der Tat der helle, besondere Stern, nach dem ich am Himmel des Zufalls gesucht habe. Außerdem sind Sie selbst ein Wahrheitssucher und haben dieses bewundernswerte Werk Die Möglichkeiten des unterbewussten Egos geschrieben.

»Das habe ich, Dr. Kelpie«, antwortete Lumley mit breiter Brust und erhobenem Kopf. »Mein Lebenswerk, Sir.«

»Eine großartige These«, murmelte Dr. Kelpie. »Wir sind beide unserer Zeit voraus.«

»Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Lumley mit Nachdruck.

»Wie weit, glauben Sie, sind Sie Ihrer Zeit voraus, Lumley?«

»Hundert Jahre, würde ich sagen«, sagte Lumley, nachdem er einige Minuten angestrengt nachgedacht hatte.

»Zumindest das«, sinnierte Dr. Kelpie und sah seinen Gast mit nachdenklich halb geschlossenen Augen an. »Die Welt hat schon immer diejenigen missbraucht, deren Ideen ihrer Umgebung voraus waren, Lumley. Früher waren es Folterbank und Streckbank, Scheiterhaufen und Fackel; in unserer modernen Zeit sind es Verachtung, Spott oder vielleicht ein Irrenhaus. Ich frage mich, wie Sie überhaupt einen Verleger für Die Möglichkeiten des unterbewussten Egos gefunden haben!«

»Ich habe es selbst verlegt«, gab Lumley zu, und die Bitterkeit des Genies lag in seinen Worten. »36 Exemplare wurden verkauft, und den Rest einer Auflage von 1000 Stück habe ich privat verteilt.«

Der krumme Mann gegenüber lehnte sich in seinem großen Stuhl zurück.

»Mein lieber Freund, Ihr Geist war zu stark für die Augen der Zeit! Die verblüffende Brillanz Ihrer Leistung hat Ihre Kollegen geblendet! Aber Mut! Mindestens 36 Exemplare dieses unglaublich wertvollen Werkes werden in Ehren gehalten und aufbewahrt, und im nächsten Jahrhundert wird man Denkmäler zur Erinnerung an den Autor errichten. Zeit und Raum und ihre Grenzen wurde in ähnlicher Weise aufgenommen.

Im Gegensatz zu Ihren revolutionären Ideen kann ich heute einige meiner Theorien in der Praxis beweisen. Aber werfe ich Perlen vor die Säue? Beweise ich mein Wissen zum Nutzen derer, die es nicht verstehen können? Nein! Aber Sie, Lumley, Sie …«

Mit einer klauenartigen Handbewegung versank der unförmige Körper wieder in der Tiefe des Stuhles.

»Mir«, flüsterte Lumley eifrig.

Bevor Dr. Kelpie antworten konnte, krachte es von irgendwo unten. Dem alarmierenden Geräusch folgte ein Getrampel auf der Treppe. Lumley sprang auf und sah sich erschrocken um.

»Kinch!«, rief er zitternd, »Kinch ist ins Haus eingebrochen, er ist hinter mir her!«

Dr. Kelpie riss sich zusammen.

»Beruhigen Sie sich«, sagte er beruhigend. »Wir wären wirklich Narren, Lumley, wenn wir die Früchte unserer weitreichenden Entdeckungen nicht zu unserem Vorteil nutzen könnten. Dieser Kinch hat Sie um die halbe Welt verfolgt, nicht wahr?«

»Das hat er!«, keuchte Lumley und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein Dutzend Mal war er kurz davor, mich zu erwischen, aber noch nie war ich so in der Klemme wie jetzt.«

Lumley warf den gequälten Blick eines Ertrinkenden um sich.

»Haben Sie Mut, mein Freund!«, flehte der Arzt.

»Mut?«, keuchte Lumley. »Wie kann ich Mut haben, wenn Kinch nur wenige Meter von mir entfernt ist? Sie kennen diesen Mann nicht, Doktor Kelpie!«

»Ich will Ihnen sagen, warum Sie dieser Gefahr gelassen entgegensehen können«, fuhr der Arzt mit funkelnden Augen fort. »Obwohl Ihr Feind nur wenige Meter von Ihnen entfernt ist, Lumley, wird er bald ein ganzes Jahrhundert von Ihnen entfernt sein, und Sie werden in Sicherheit sein.«

Der Arzt stand auf und ging zur Tür des Arbeitszimmers. Seine Worte waren voller Überzeugung und die Art, wie er sich bewegte, so selbstsicher, dass Lumley tief beeindruckt war.

»Sie meinen …«, stotterte Lumley und befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge.

»Ich meine, dass die Zeit, die Allmächtige, Sie aus den Klauen Ihres Feindes befreien wird. Wir haben dreißig Minuten. In einem Drittel dieser Zeit, also zehn Minuten, kann ich hundert Jahre komprimieren. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Während Lumley sich auf die Couch fallen ließ, ging der Arzt zur Tür.