Deutsche Märchen und Sagen 191
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
259. Geist an den Eichen
Wenn man von Cortemarke bei Turnhout nach Hooglede gehen will, sieht man in einiger Entfernung eine einzelnstehende Gruppe von Bäumen, und näherkommend, findet man zwischen denselben das alte Schloss Volmerbeke, dessen Grundstein zu Zeiten Balduins des Eisernen gelegt sein soll. Nun ist das Schloss eine Meierei und eine ganz friedliche Wohnung. Das war es aber nicht so ganz in früherer Zeit und selbst bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts; es hielt sich nämlich dort der Geist eines alten Herrn des Schlosses auf, der vor vielen Hundert Jahren gestorben ist, ohne dass er vor seinem Tod Zeit fand, den Ort anzugeben, wohin er eine große Summe Geld nebst vielen Kleinodien verbarg. Jede Nacht kam der Geist und klopfte auf Türen und Fenster, während er rief: »Slaep je öl? Slaep je öl? Slaep je öl?«1
Wenn niemand ihm Antwort gab, dann schlüpfte er durch die Spülsteinrinne und versicherte sich selbst, dass alles schlief, und wenn er das getan hatte, dann zerschlug er allen Hausrat, Töpfe, Kessel, Kannen und Krüge. Nichtsdestoweniger fand man morgens alles wieder ganz und genau auf derselben Stelle, wo man es abends hingestellt hatte. Am Tage hielt der Geist sich unter zwei tausendjährigen Eichen auf, die dicht neben dem Weiher standen. Da man nie wissen konnte, unter welchem der beiden Bäume er eigentlich saß, wagte man nicht, das Beil an sie zu legen, denn man fürchtete, der Geist werde sich darüber rächen und dem Führer des ersten Schlages den Nacken brechen. Nachdem die Franzosen hier waren, ist der Geist mit so vielen anderen verschwunden und nicht mehr gehört noch gesehen worden; auch hat man nun vor wenigen Jahren die zwei Eichen gefällt, ohne dass dabei sich irgendein Unglück zugetragen hätte.