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Der Welt-Detektiv – Band 10 – 6. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 10
Die Dame in Schwarz
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

6. Kapitel

Auf Leben und Tod

Aus dem ersten Stockwerk drangen allerlei Laute. Dort also hantierte der unheimliche Mensch. Wie Schatten huschten Sherlock Holmes und Jonny die Treppe hinauf. Auf einem Absatz lag, achtlos hingeworfen, eine der Petroleumkannen. Drei Stufen höher fand sich ein durch und durch mit Petroleum getränktes Bündel mit Kleidern. Wahrhaftig, der Bursche ging überlegt vor, die Spuren seiner Untaten ein für alle Mal zu verwischen.

Furchtlos drangen die beiden Detektive weiter vor. Nun hatten sie das erste Stockwerk erreicht. Fast alle Türen, die zu beiden Seiten des Korridors abführten, standen weit offen. Aber während die meisten Zim­mer völlig im Dunkeln lagen, fiel aus dem Türrah­men eines einzigen Raumes ein heller Lichtschein. Ein Blick zwischen Sherlock Holmes und Jonny ge­nügte, eine Verständigung herbeizuführen. Sie zogen leise ihre Brownings hervor, entsicherten sie und schlichen langsam auf die Tür zu.

Ein seltsames Bild bot sich ihren Blicken, als sie ihr Ziel erreichten und durch den Spalt in das Innere spähten. Das Erste, was sie sahen, war ein größerer Handkoffer, der – noch geöffnet, aber bis zum Rand mit Gegenständen gefüllt – auf einem Stuhl stand. Dann fiel ihr Blick auf den Schurken. Er stand am Tisch und wandte ihnen den Rücken zu. Sie konnten nicht sehen, was er tat, nur hören: Er zählte Geld! Ganz deutlich vernahm Sherlock Holmes das Knis­tern der Scheine.

Der Hintergrund des Zimmers verblieb im Halb­dunkel, weil das Licht der Petroleumlampe, die auf dem Tisch ihren Platz gefunden hatte, nicht ausreichte, den Raum gänzlich zu erhellen. Aber was küm­merte es den Weltdetektiv in diesem Augenblick, was für Gegenstände das Zimmer noch enthalten mochte! Er sah den Mörder der unglücklichen Witwe und den Mörder Tom Corners dort stehen! Das genügte vollkommen!

Schon duckte sich Sherlock Holmes zusammen, um den Verbrecher auf den Rücken zu springen, da wendete sich dieser plötzlich um. Für Sekunden sah der Weltdetektiv sein Gesicht. Nur flüchtige, win­zige Sekunden. Aber sie genügten ihm, um in dem Mann Englands gefährlichen Schwerverbrecher Pattison zu erkennen, der vor einiger Zeit aus dem Zuchthaus entkommen war und dessen gelungene Flucht in der weitesten Öffentlichkeit das größte Aufsehen erregt hatte. Daher also die Bekanntschaft mit Tom Corner! Der letzte Schleier fiel. Sherlock Holmes sah restlos klar.

Aber im gleichen Augenblick wurde es ihm auch bewusst, was es bedeutete, sich einem Mann vom Schlage Pattisons entgegenzustellen, der nichts zu verlieren hatte, wurde es ihm klar, dass ein Kampf mit Pattison ein Kampf auf Leben und Tod sein musste. Er hätte den Verbrecher niederschießen kön­nen. Ein kurzes Zielen – ein blitzschnelles Abdrücken – und der Mann wäre ungefährlich für alle Zeiten gemacht. Wer hätte danach gefragt? Nie­mand!

Aber Sherlock Holmes wäre sich fortan wie ein Meuchelmörder vorgekommen. Einen Menschen hinterrücks niederschießen, auch wenn dieser Mensch eine Bestie war, nein, dies widerstrebte ihm – das wäre Feigheit gewesen.

Sherlock Holmes Gestalt reckte sich hoch auf. Ein Fußtritt, und die Tür sprang weit auf. Dann stand er in der Tür. Breitschultrig und einem ehernen Monu­ment gleich. Die Hand mit dem Browning zuckte vor. Und dann scholl es kalt und eisig durch den Raum: »Hände hoch, Jim Pattison! Das Spiel ist aus. Sie sind verhaftet!«

Ein tierischer Schrei brach von des Verbrechers Lippen. Ein Schrei, der in ein wildes Kreischen überging, als auch noch Jonny in der Tür erschien.

»Hände hoch!«, befahl Sherlock Holmes kaltblütig ein zweites Mal. »Pattison, ich schieße, wenn Sie nicht folgen – wir kennen uns!«

Die Augen traten dem Überrumpelten aus den Höhlen. Er sah die beiden Männer … ihre Revolver … ihre zum Äußersten entschlossenen Mienen. Da warf er die Hände hoch.

»Das ist vernünftig!«, sprach Sherlock Holmes. Dann wandte er sich an Jonny: »Tritt ans Fenster und gib das Signal!«

Pattison keuchte. Sein Blick triefte förmlich vor Wut und Hass. Als der Pfiff ertönte und von unten beantwortet wurde, schrie er noch einmal auf. Sein Körper geriet in zuckende Bewegungen – und dann war es geschehen – schneller, als ein Blitz zur Erde fährt: Er gab dem Tisch mit dem Fuß einen Stoß. Klirrend zerbarst die Lampe am Boden, und in das Klirren der Scherben mischte sich das Zischen der aufzüngelnden Stichflamme, die im Augenblick Nahrung fand und den Raum innerhalb gezählter Augenblicke einem Feuermeer gleichmachte.

Sherlock Holmes hatte bei der ersten Bewegung Pattison seine Drohung wahr gemacht und geschos­sen. Aber, entweder hatte es der Verbrecher verstan­den, sich rechtzeitig zu bücken, oder aber die Kugel hatte ihn nur leicht verletzt, jedenfalls sprang er den Weltdetektiv mit einem riesigen Satz an, ehe dieser dazu kam, weitere Schüsse auf den gefährlichen Bur­schen abzufeuern. Die Augenblicke, die diesen folg­ten, zählten zu den furchtbarsten in Sherlock Hol­mes’ Leben. Er kam unter der Wucht des Anpralls zu Fall, sodass Pattison über ihm lag.

Wie ein Schraubstock klammerten sich des Schur­ken krallige Fäuste um seinen Hals, und wer weiß, was für ein Ende dieser Kampf genommen hätte, wenn nicht Jonny rechtzeitig, sich vom Fenster her durch Rauch und Flammen kämpfend, erschienen wäre. Mit kräftiger Faust ließ er den Knauf seines Brownings zweimal, dreimal auf Pattisons Schädel niedersausen. Dann packte er mit beiden Fäusten zu und zerrte ihn von Sherlock Holmes fort.

Der Weltdetektiv richtete sich auf. Seine Augen füllten sich mit Entsetzen, als er sah, dass die Flam­men bereits gierig das Holz des Korridors bedeckten. Er sprang vollends auf die Füße und warf sich erneut auf Pattison, der sich noch immer wie ein tödlich verletztes Raubtier zur Wehr setzte. Schon züngelten die Flammen an den Kämpfenden empor. Da tauch­ten die Uniformen der Policemen im Gang auf. Das entschied den Kampf. Aber der Verbrecher war um keinen Augenblick zu früh zur Strecke gebracht worden. Der Korridor füllte sich bereits mit schwar­zem Qualm, der das Atmen unmöglich machte.

»Fort!«, erklang Sherlock Holmes Stimme. »Fort! Das ganze Haus ist mit Petroleum durchtränkt!«

Man packte den nun bewusstlos gewordenen Patti­son und schleppte ihn die Treppe hinab, um ihm un­ten Fesseln anzulegen, die ein neues Entkommen vereitelten. Die fünfzehn Minuten später erscheinen­de Feuerwehr fand keine Gelegenheit zum Eingrei­fen mehr. Das Haus war von oben bis unten eine einzige, glühende Feuersäule, die nach mehrstündi­gem Brand in sich zusammenbrach.

Pattison wurde noch in derselben Nacht dem Lon­doner Polizeigefängnis vorgeführt, wo er vor dem Inspektor und später dem Untersuchungsrichter zy­nisch seine Taten eingestand, ohne die geringste Spur von Reue zu zeigen. Er endete drei Monate später durch den Strang. Die braune Mütze mit dem Papierstreifen bewahrt Sherlock Holmes aber noch heute auf; erinnerte sie ihn doch an ein Abenteuer, das ihm um ein Haar das Leben gekostet hätte.

ENDE