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Der Welt-Detektiv – Band 10 – 5. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 10
Die Dame in Schwarz
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

5. Kapitel

Die Dame in Schwarz

In der Nähe des Hauses, das die Witwe Dougdan bewohnte, sah sich Sherlock Holmes vergebens nach Jonny um. Unwillkürlich verfinsterte sich sein Ant­litz. Hatte sich Jonny zu einem voreiligen Schritt verleiten lassen, oder war etwas Außergewöhnliches geschehen? Wieder hielt sich die volle Scheibe des Mondes hinter undurchdringlichen Wolken verbor­gen, und vergebens war Sherlock Holmes bemüht, die Finsternis mit seinen Blicken zu durchdringen. Minute auf Minute verrann. Jonny war und blieb ver­schwunden. Schier rundeten sich die Minuten, die der Weltdetektiv in unbeweglichem Lauschen verbrach­te, zu einer Viertelstunde, als ein keuchender Atem sein scharfes Ohr berührte.

Da tauchte auch schon im Garten des Hauses eine dunkle Gestalt auf, die sich Hals über Kopf über den Zaun schwang und auf die Stelle zusteuerte, wo Sherlock Holmes wartete. Es war Jonny.

»Mr. Holmes«, stieß er, schneeweiß im Gesicht, hervor. »Mr. Holmes – um alles in der Welt … es ist entsetzlich!«

Der Weltdetektiv packte ihn am Arm und zog ihn tief in den Schatten einer Linde.

»Sprich!«, raunte er. »Was ist passiert? Du warst drüben im Haus?«

»Ja. Unten im Keller. Sie läuft immer zwischen Keller und Haus hin und her und klappert mit Blechgefäßen. Ich verbarg mich in einem Lattenverschlag. Und dort … dort …«

Sherlock Holmes fühlte instinktiv, dass Jonnys Weg etwas Furchtbares gekreuzt haben musste. So fuhr er ihm beruhigend über die Stirn.

»Und was entdecktest du?«, murmelte er. »Was?«

Jonnys Atem verlor an Heftigkeit.

»Ich … ich fand im Keller … eine Leiche, Mr. Hol­mes!«

Der Weltdetektiv zuckte zusammen.

»Du hast dich nicht geirrt?«, presste er fragend her­vor.

Aber Jonny schüttelte bestimmt den Kopf.

»Nein. Es kann keine Täuschung geben. Ich ließ die Lampe aufflammen und … nein, nein, es ist so, wie ich sage. Es ist eine Frau, die im Keller liegt. Unter Säcken vergraben. O, es war entsetzlich, Mr. Holmes«

Der berühmte Kriminalist stand da und überlegte. Dann stieß er hervor: »Ja, nur so kann es sein!« Und in wild aufflammen­dem Zorn ballte er die Hand zur Faust. »Bestie!«, murmelte er. Dann fasste er Jonnys Arm. »Warte hier, bis ich zurückkomme. Kommt er heraus, lass ihn nicht aus den Augen. Und wenn …«

»Er?«, murmelte Jonny.

»Von wem sprechen Sie, Mr. Holmes?«

»Von dem Radfahrer!«

»Dem … Rad…?«

».Ja. Er ist es, der die Rolle der Schwarzen Da­me, der Schlafwandlerin spielt. Wahrscheinlich noch nicht lange. Ein paar Wochen vielleicht erst. Aber darüber werden wir uns später unterhalten. Aber, wie sagtest du vorhin? Er habe mit blechernen Gefäßen geklappert?«

»Ja.«

Sherlock dachte angestrengt nach, aber er er­riet die Ursache nicht. »Auch das werden wir noch herausbekommen«, knirschte er. »Jetzt gilt es, keine unnötige Zeit mit Grübeleien zu verlieren. Warte hier. In fünfzehn Minuten bin ich spätestens zurück.«

Sekunden später war er in der Nacht verschwun­den. Fröstelnd schlug Jonny den Rockkragen hoch und nahm hinter dem Baum Aufstellung, sodass es ausgeschlossen war, dass man ihm von Haus aus erspähen konnte.

Währenddessen jagte Sherlock Holmes zur Poli­zeistation. Der Inspektor sperrte Mund und Nase auf, als ihm der Weltdetektiv die sensationellen Eröff­nungen machte. Er fasste es nicht. Er zweifelte. Sträubte sich mit Händen und Füßen gegen das, was Sherlock Holmes behauptete.

Aber der erfahrene Detektiv ließ sich nicht beirren.

»Die Witwe weilt schon seit Wochen nicht mehr unter den Lebenden«, sagte er. »Sie wurde ermordet. Zwei Männer verübten wahrscheinlich die Tat. Zwei Verbrecher, von denen der eine Tom Corner war, der heute Mittag unter den Rädern der Untergrundbahn sein Ende fand. Der, der ihn auf die Schienen stieß, war sein Komplize. Dieser Mensch hat vielleicht schon lange gute Gründe, sich versteckt zu halten. Er kannte die Gewohnheiten der Witwe. Sie unterhielt keinerlei Verkehr. Niemand betrat ihr Haus. Jeder ging ihr aus dem Weg. Was konnte für den Bur­schen vorteilhafter sein als diese Kenntnis!

Nach dem Mord spielte er ihre Rolle weiter, die al­lerdings nur darin bestand, als Schlafwandlerin auf den Friedhof zu gehen. Hier stand ein Fahrrad in Bereitschaft, mit dem der Mensch, so oft es ihm be­liebte, nach London fuhr. Das Erdbegräbnis gab aber auch einen vorzüglichen Ort ab, wo man nicht nur unauffällig das Rad aufbewahren, sondern auch die Kleidung wechseln konnte, wie es beispielweise heu­te geschah!«

»Aber …«

»Die Diebstähle, die Einbrüche, der Überfall: Tom Corner und sein Komplize waren die Urheber! Sie hatten es nicht nötig, sich nach einem sicheren Ver­steck oder nach einem Platz umzusehen, an dem sie ihr Diebesgut aufbewahren konnten: Die Villa der Witwe bot die beste Gelegenheit dazu. Wer wäre wohl je auf den verrückten Gedanken gekommen, die alte Frau der Fassadenkletterei zu beschuldigen?

Na also! In der Villa waren die Burschen vor je­der Entdeckung sicher. Nur durfte es nicht auffallen, dass man die Frau nicht mehr sah. Und darum spielte einer der Schufte ihre Rolle.

Begreifen Sie nun endlich, was hier für eine schändliche Komödie gespielt wurde? Dass es sich nicht nur um einen Überfall, Diebstahl und Einbruch, sondern um weit mehr, um einen Mord handelt?«

Der Inspektor erhob sich erregt.

»Und was … was brachte Sie so schnell auf die Spur?«, stammelte er.

»Die Mütze«, erwiderte Sherlock Holmes. »oder, noch besser gesagt, ein kleiner, winzig schmaler Pa­pierstreifen. Aber lassen wir das jetzt. Ich brauche einige zuverlässige Beamte, die das Haus umstellen. Alles andere übernehme ich selbst.«

Der Inspektor stürzte davon. Er schien endgültig von des Meisterkriminalisten Behauptungen über­zeugt zu sein.

Als er wiederkam, hatte er bereits den Hut auf das Haupt gedrückt.

»Sechs Mann habe ich zur Verfügung«, rief er. »Werden die genügen?«

»Wenn jeder für zwei auf dem Posten ist – ja«, erwiderte Sherlock Holmes.

»Es sind meine tüchtigsten Beamten.«

»Umso besser. Und nun hören Sie gut zu.«

Und Sherlock Holmes entwickelte seinen Umzingelungsplan, der des Inspektor ungeteilten Beifall fand.

»Ich gehe jetzt!«, schloss Sherlock Holmes, »und Sie folgen mir mit ihrem Leuten in drei Minuten nach. Lassen Sie sich nicht beirren, wenn Sie mich nicht am Haus sehen. Und dann vergessen Sie nicht das Signal: ein schriller Pfiff. Also abgemacht!«

Er verließ die Polizeistation und eilte zu Jonny zu­rück, der unbeweglich hinter der Linde stand.

»Was Neues?«

»Nichts, Mr. Holmes. Im Haus regt sich nicht das Geringste. Aber mir ist etwas eingefallen: Das hängt mit dem merkwürdigen, blechernen Klappern zu­sammen.«

Sherlock Holmes sah den jungen Freund gespannt an.

»Nanu?«

»Der Inspektor erzählte uns doch, es sein unter anderem auch ein halbes Schwein gestohlen worden. Vielleicht weckt sie – weckt er sich das Fleisch nur ein!«

Für Sekunden huschte wieder ein Lächeln über Sherlock Holmes’ Antlitz. Aber er sagte nichts, son­dern winkte Jonny nur zu, ihm zu folgen.

Das halbe Schwein einzuwecken! Nein, dafür würde der Kerl kaum Muße haben.

Jonny führte den Meister zum Kellerfenster. Sherlock Holmes warf sich nieder und lauschte angestrengt in das Haus hinein. Aber kein Geräusch war hörbar. Rasch richtete er sich wieder auf.

»Wir müssen versuchen, den Halunken in seiner Burg zu überraschen«, flüsterte er. »Der Inspektor erscheint in wenigen Augenblicken und umstellt mit seinen Leuten das Haus. Das Entkommen soll ihm also schwerfallen.«

Er schlüpfte zuerst durch das Fenster. Als Jonny ihm gefolgt war, wandte er sich um und raunte: »Führe mich zu dem Lattenverschlag.«

Jonny nickte. Lautlos schlich er den Gang entlang. Dann machte er Halt und wies auf die Tür. Sherlock Holmes trat langsam ein.

Da Jonny sich keine Zeit genommen hatte, die Sä­cke zurückzulegen, bot sich ihm der schreckliche Anblick, unverhüllt dar. Die Tote war – der Welt- Detektiv sah es auf den ersten Blick – einigen Mes­serstichen zum Opfer gefallen, die ihren sofortigen Tod herbeigeführt haben mussten.

»Die Hunde!«, knirschte er. »Den einen hat die Strafe bereits erreicht, der andere soll ihr ebenfalls nicht entgehen!«

Er wandte dem entsetzlichen Grab den Rücken zu und schlich weiter den Gang entlang. Plötzlich blieb er stehen. Auch Jonny hemmte jäh den Schritt. Beide hatten sie ein entferntes blechernes Klappern ver­nommen.

»Der Kuckuck mag wissen, was das zu bedeuten hat!«, stieß Sherlock Holmes hervor. »Aber – hell and devils – was ist das?« Er hob den Kopf und sog die Luft tief in die Lungen.

Dann wandte er sich in neu entflammender Erre­gung an Jonny.

»Riechst du nichts?«

Jonny Bustons Nase schnupperte in der Luft um­her.

»Nein«, gab er schließlich flüsternd zurück. »Es riecht nur so dumpf, so schrecklich …«

»Das meine ich nicht. Aber ich will auf der Stelle einen ausgewachsenen Besenstil verschlingen, wenn das … wenn das …« Noch einmal schöpfte er tief Atem, dann stieß er hervor: »Es ist kein Zweifel mög­lich. Weißt du, was der Kerl in den Blechkannen aus dem Keller holte? Womit er jetzt noch herumhan­tiert? Es ist Petroleum!«

»Petroleum?«, stammelte Jonny. Dann kam ihm jäh die Erkenntnis. »Um Himmelswillen. Beabsichtigt der Mensch etwa, das Haus … das Haus …« Die Erregung verschlug ihm die Sprache.

Sherlock Holmes bewahrte seine Ruhe, und lang­sam erwiderte er: »Nichts anderes wird hier geplant! Der Kerl will das Haus anstecken, nachdem er alles sorgsam mit Petroleum begossen hat. Dieser Teufel! Aber ich durchschaue ihn!«

Seine Augen leuchteten in einem gefährlichen Feuer. »Er will fliehen«, flüsterte er. »Vielleicht fürchtet er nach dem, was sich heute auf der Moorgate Street Station ereignete, eines Tages doch entdeckt und entlarvt zu werden. Vielleicht bringt er auch nicht den Mut auf, hier in diesem Haus, das sein Verbrechen mit ansah und das sein Opfer noch be­herbergt, weiterzuleben. Vielleicht rechnet er schließlich auch damit, dass sein Schwindel in abseh­barer Zeit herauskommt und er als Mann und als Mörder der unglücklichen Witwe entlarvt wird. Er zündet nun einfach das Haus an in der Hoff­nung, dass Schutt und Asche die Spuren seiner Tätig­keit für ewig verwischen werden. Wahrscheinlich verfügt er nunmehr auch über einige Mittel, die ihm eine Flucht – vielleicht sogar zum Kontinent hinüber gestatten. Wahrhaftig, eine Idee, die des Halunken würdig ist. Zu Mord und Diebstahl nun auch noch Brandstiftung! Sein Maß ist voll, zum Überlaufen voll!«

Das klappernde Geräusch war verstummt.

»Wir müssen hinauf, ehe es zu spät ist!«, flüsterte Sherlock Holmes. »Wehe, wenn die Flamme aufzüngeln! Das Haus wäre rettungslos verloren!«

Er huschte lautlos die Kellertreppe empor und öff­nete oben die auf den Hausflur führende Tür. Dick und schwer schlug ihm hier der beißende, scharfe Petroleumgeruch entgegen. Die Stunde des Handelns war gekommen!