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Der Detektiv – Band 28 – Das Rätsel des Indischen Ozeans – Teil 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Das Rätsel des Indischen Ozeans

Teil 3

Madras mit seiner flachen, weiten Reede lag nun vor uns. Der alte Hindu deutete dann auf ein Palmenwäldchen. »Dort fand man den weißen Sahib«, sagte er.

Gleich darauf stiegen wir aus, dankten dem freundlichen Greis, nickten dem Mädchen zu und betraten ein Unterkunftshaus für Eingeborene, wie man diese Art Staatsgasthäuser überall in Indien findet. Um elf Uhr vormittags standen zwei schmierige Chinesen vor dem Verwaltungsgebäude der Wolpoore’schen Plantagen am Hafenkai von Madras und verhandelte mit dem Pförtner, der uns immer wieder erklärte, wir würden hier keine Arbeit finden. Aber Harst war hartnäckig. Der Pförtner hatte ja erwähnt, dass Seine Lordschaft noch nicht eingetroffen sei. Man erwarte ihn heute aber bestimmt.

Wolpoore bewohnte außerhalb Madras nach Bangalore zu eine alte Radschaburg, in der wir vor noch nicht ganz drei Monaten ein paar ebenso aufregende wie erfolgreiche Tage verbracht hatten, die ich unter dem Titel Die Siegellacktröpfchen geschildert habe. Harsts Rechnung stimmte: Plötzlich kam ein elegantes Auto in schneller Fahrt daher und hielt vor dem stattlichen Haus. Wolpoore sprang eilig heraus. Er sah blass und übernächtigt aus. Sein misstrauischer Blick ruhte ein paar Sekunden auf uns.

Harst hatte dem Lord schon verstohlen ein Zeichen gegeben. Wolpoores Mienen veränderten sich. Aber er tat trotz der freudigen Überraschung über unsere Ankunft ganz so, als hielte er uns wirklich nur für chinesische Kulis, fragte barsch nach unserem Begehr und sagte dann, wir sollten im Vorraum warten.

Im Auto hatten auch noch Chester Blindley, der Chef der Sicherheitswache des Lords und ein Detektiv gesessen. Blindley holte uns fünf Minuten später durch den Garteneingang in das geräumige, luxuriös ausgestattete Privatkontor Wolpoores. Ich will alles Nebensächliche weglassen und sofort hier das anführen, was Lord Wolpoore in seiner Depesche als eine ihn sehr erregende Entdeckung unheimlicher Art bezeichnet hatte.

Als der Lord vor zwei Tagen frühmorgens in Madras, von Delhi kommend, eingetroffen war, hatte ihn sein Plantagendirektor Radley auf dem Bahnhof mit der Nachricht von der Erdrosselung Robinson Campells empfangen. Wolpoore war dann im Auto zu seiner zum Schloss umgebauten Radschaburg hinausgefahren, hatte seine Frau und seine Söhne begrüßt und war gegen elf Uhr vormittags wieder in Madras angelangt, um verschiedene geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen.

»Ich betrat mein Privatkontor hier etwa um 10 Minuten nach elf«, erzählte er weiter. »Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte, ging ich einige Male auf und ab, da mir die Gedanken an Campells Ermordung keine Ruhe ließen. Sie sehen nun dort links neben dem Fenster eine große, auf Leinwand aufgezogene Karte des Indischen Ozeans hängen, lieber Harst. Plötzlich fuhr ich zusammen. Meine Füße waren wie gelähmt. Mein Blick haftete stier auf der Karte. Zufällig nur hatte ich hingeschaut, hatte zunächst an eine Sinnestäuschung geglaubt, die mir meine infolge Campells Tod stark gereizten Nerven vielleicht vorgaukeln könnten. Jetzt sieht die Karte völlig harmlos aus! Aber damals war sie es nicht; damals waren gerade über der mitten in den blau gehaltenen Indischen Ozean hineingedruckten gleichnamigen Bezeichnung die Worte zu lesen: Campells Schicksal wird das deine sein!

Diese Worte schimmerten silbern weiß und sahen etwa so aus, als hätte sie jemand mit einem Pinsel in Druckschrift hingemalt.

Sie können sich mein Entsetzen denken, lieber Harst! Wer schon so viel wie ich unter den Verfolgungen der Thugs zu leiden gehabt hat, wer sich dann der Hoffnung hingab, dass diese Mörderbande nun endlich für alle Zeit unschädlich gemacht sei, der verliert leicht die Fassung, wenn er sich mit einem Mal von Neuem den entnervenden Schrecken derartiger Nachstellungen gegenübersteht.

Wie vernichtet sank ich dort in jenen Sessel, konnte aber meine Blicke nicht losreißen von der Karte des Indischen Ozeans und von dieser furchtbaren Drohung, diesem unheimlichen Beweis, dass es Thugs waren, die Campell ermordet und sich jetzt sogar in diesen Raum eingeschlichen hatten. Mühsam nur gewann ich wieder die Herrschaft über meine Gedanken zurück. Ich wusste, dass Marbodly, der beste unserer Detektive, hier im Haus weilte. Ich ließ ihn rufen. Ich wollte ihm die drohende Inschrift zeigen. Aber sie war plötzlich verschwunden. Ich erzählte Marbodly alles. Er meinte, ich würde mich wohl getäuscht haben. Er suchte mich zu beruhigen, schickte mich in den Garten hinab und kehrte dann hier das oberste zuunterst, um sich zu vergewissern, ob die Thugs etwa eine Höllenmaschine irgendwo verborgen hätten. Er fand nichts Verdächtiges, gar nichts. Ebenso erfolglos blieben seine Ermittlungen, ob jemand mein Kontor betreten oder sich gewaltsam Zugang verschafft hätte. Nichts, nichts ergaben diese Nachforschungen! Auch nicht der geringste Anhalt bot sich, wer die Inschrift auf der Karte des Indischen Ozeans hervorgerufen haben kann! Auch Blindley war aufs Eifrigste bemüht, dieses Rätsel der geheimnisvollen Drohung zu lösen. Da depeschierte ich an Sie, lieber Harst. Nur Sie können mir die Ruhe wiedergeben! Harst – ich bitte Sie inständig: Klären Sie diesen Mord an Robinson Campell und das Rätsel dieser Inschrift auf; fangen Sie die noch in Freiheit befindlichen Thugs, damit ich wieder meines Lebens froh werde!«

 

*

 

Harst saß in einem Klubsessel mit übereinander geschlagenen Beinen und schaute unverwandt auf die große Karte. Ich lehnte hinter ihm an dem mit Papieren bedeckten Mitteltisch. Wolpoore saß links von uns auf einem Ledersofa, und der Polizeichef Chester Blindley stand am mittleren Fenster.

Harst ließ einige Minuten verstreichen, bevor er auf des Lords Bitte mit der in seltsam versonnenem Ton gestellten Frage antwortete: »Hat die Inschrift sich nochmals gezeigt, Wolpoore?«

»Nein«, erklärte der Lord. »Auch Blindley ist ja leider überzeugt, dass ich das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen bin. Er lässt sich das nicht ausreden, obwohl es Unsinn ist! Ich weiß, was ich gesehen habe. Die Worte waren so deutlich dort drüben auf der Karte zu lesen wie der Aufdruck in schwarz Indischer Ozean. Die Drohung war vorhanden, bester Harst! Lassen Sie sich nicht durch Blindley etwa einreden, ich hätte etwas gesehen, was gar nicht da war!«

Harst stand langsam auf und trat dicht an die Karte heran. Nach einer Weile fragte er dann ohne sich umzudrehen: »Haben Sie die Karte chemisch untersuchen lassen, Blindley? Wenn hier mit einer besonderen Farbe, die bald wieder verschwindet, die Inschrift hingemalt worden war, dann könnte jeder Gerichtschemiker dies feststellen.«

»Gewiss habe ich daran gedacht«, erklärte Blindley eifrig. »Gewiss! Doktor Maxwell hat drei Stellen des Papiers untersucht. Sie werden die Stellen leicht herauskennen, weil sie gelblich schimmern. Aber Maxwell fand keine Spur irgendeiner chemisch bemerkenswerten Farbe. Deshalb kann ich auch nur nach wie vor behaupten: Seine Lordschaft war nervös erregt und ließ sich durch eine Sinnestäuschung irreführen.«

»Doktor Maxwell hat also nur die drei Stellen geprüft?«, fragte Harst wieder in demselben versonnenen Ton wie vorhin. »Hat er die Karte im Ganzen angefeuchtet? Oder befinden sich die anderen Teile in genau demselben Zustand wie zu jener Stunde, als der Lord den Detektiv Marbodly hinzurief?«

»Die übrige Oberfläche der Karte ist unberührt geblieben. Ich verlangte das von dem Chemiker, damit Sie, Herr Harst, auch Ihrerseits noch nachprüfen könnten, ob …«

»Danke, Blindley, danke! Noch etwas. Wer ist denn vorgestern Vormittag, bevor Wolpoore das Kontor betrat, hier in diesem Zimmer gewesen?«

»Morgens um 8 Uhr die Frau, die die Kontorräume säubert. Dann Direktor Radley; ferner der Kontordiener, der Prokurist und der Detektiv Marbodly, der im Verwaltungsgebäude gerade Dienst hatte. Sonst hat niemand hier unbemerkt hineingelangen können – niemand!«

Harst murmelte nun irgendetwas vor sich hin, was wir nicht verstanden. Dann abermals ein paar gemurmelte Worte und nun glaubte ich, den Satz zu hören: »Ja … die Haken … die Haken …!«

Was hatte er nur wieder mit den Haken? Schon in der kleinen Tempelruine hatte er eine so merkwürdige Redensart gemacht. Und jetzt nochmals?

Da drehte er sich bereits um und sagte zu Wolpoore: »Lieber Wolpoore, eins weiß ich jetzt schon ganz bestimmt: Die Inschrift war vorhanden! Vielleicht weiß ich auch alles Übrige, bevor noch die Sonne untergeht. Schraut und ich, wir werden uns nun an die Arbeit machen. Auf Wiedersehen, Wolpoore!«

Er reichte dem Lord und dann auch Blindley die Hand. Bevor wir hinausgingen, sagte er noch zu mir: »Schau dir mal die Karte an, mein Alter! Dieses Rätsel des Indischen Ozeans ist recht lehrreich.«

Ich tat es. Ich stand auch zum Schein eine Weile vor der Karte. Ich sah auch die drei handgroßen, gelblichen Flecke, die durch die Untersuchung des Chemikers hervorgerufen worden waren. Im Übrigen sah ich nichts, jedenfalls nichts, das auffallend gewesen wäre.

Dann sagte ich, nur um etwas zu äußern: »Die Karte ist recht unsauber aufgeklebt …« und wandte mich um. Harst nickte mir zu. »Ganz recht: unsauber aufgeklebt! Es freut mich, dass dir das nicht entgangen ist.«

Gleich darauf schlenderten die beiden schmierigen Chinesen der inneren Stadt und auf Umwegen dem Nelson-Platz zu. Unterwegs begann Harst unvermittelt über das Rätsel des Indischen Ozeans zu sprechen, nachdem er mir auf meine Frage, weshalb ihm denn die Tatsache, dass die Karte etwas unsauber aufgeklebt war, so wichtig erschiene, geantwortet hatte: »Weil wir dem Kartenfabrikanten unrecht tun.« Das war wieder einmal so ganz eine Antwort a la Harst, mystisch – dunkel, und doch fraglos sehr bedeutungsvoll.

»Mein lieber Alter. Du hast auch bemerkt«, sagte er nun leise, aber mit Nachdruck, »dass das Papier in breitem Strich gerade dort in Fältchen liegt, wo sich der Aufdruck Indischer Ozean befindet. Deshalb erklärtest du auch: ›Unsauber aufgeklebt!‹ Du irrst jedoch. Diese Fältchen sind nicht durch nachlässiges Aufkleben des bedruckten Papiers auf die Leinewand entstanden, sondern dadurch, dass jemand mit einem nassen Lappen oder einem nassen Schwamm mehrmals an jener Stelle über das Papier hin und her gewischt hat. Dieser Fältchenstrich reicht noch etwa 15 Zentimeter über den Aufdruck Indischer Ozean hinweg. Und dort soll ja die Inschrift gestanden haben.«

Ich blieb stehen. »Ah, du meinst, dass …«

»… dass jemand die Inschrift oder besser deren chemische Rückstände auf diese Weise entfernt hat!«, fügte er meinen Worten voller Eifer hinzu. »Mithin konnte der Doktor Maxwell nichts von Chemikalien mehr auf dem Papier feststellen! Mithin konnte die Inschrift auch nicht mehr erscheinen! Aber gehen wir weiter. Überlege dir mal Folgendes, mein Alter. Wolpoore ruft den Detektiv Marbodly herbei. Dieser ist Blindleys rechte Hand, sein Vertrauter, in der Tat ein sehr befähigter Mensch. Wir kennen ihn von früher her. Marbodly möchte nun um jeden Preis den Lord von der Angst befreien, dass ein Thug sich in das Kontor eingeschlichen und den Satz auf die Karte gemalt hätte. Er schickt den Lord in den Park und reinigt die Karte mit Wasser gerade da, wo ungefähr die Inschrift zu sehen gewesen sein soll. Er wird die Karte mit dem nassen Strich dann in die Sonne zum Trocknen gelegt haben, wodurch die Fältchen entstehen. Ob er nachher Blindley eingeweiht hat, bezweifle ich. Blindley hätte diese eigenmächtige, wenn auch gut gemeinte Handlungsweise Marbodlys nie gebilligt.«

Mir leuchtete all das ein. Als ich dies nun auch zu Harst äußerte, meinte er: »Lassen wir die Karte jetzt mal aus dem Spiel. Ich will dir etwas anderes mitteilen. Ich habe dich nämlich nachts im Kellerraum der Tempelruine so etwas angelogen. Es stimmte nicht, dass ich die Eisenhaken mit meinen Händen nicht erreichen konnte. Als ich dir nahelegte, mit aller Kraft an deinen Haken zu rütteln, hatte ich schon festgestellt, dass der eine, linke Haken meiner Fesselung recht locker saß. Nur um zu prüfen, ob dies auch mit einem der deinen der Fall wäre, ließ ich dich so emsig daran herumarbeiten, bis du den Haken eben herausgezogen hattest. Nun eine Frage: Meinst du, dass die Thugs die Haken aus Nachlässigkeit so lose in die Fugen getrieben haben, dass wir sie lockern konnten? Weiter noch: Meinst du, dass sie uns den Inhalt unserer Taschen belassen hätten, wenn sie ernstlich die Absicht gehabt hätten, uns umzubringen? Nein, mein Alter, diese Gefangennahme und diese Fesselung waren meiner Überzeugung nach Spiegelfechterei. Genauso wie nachher die Flucht der Kerle im Wagen. Ich wette: Sie saßen auf dem Karren und wussten, dass wir sehr bald vor der Haustür erscheinen würden! Dann erst flohen sie, damit sie den Eindruck erweckten, als hätten wir sie durch unser Auftauchen völlig überrascht; dann erst peitschten sie auf den Gaul ein und jagten davon. Schon als ich merkte, dass der eine Eisenhaken meiner Fesselung ganz lose in der Mauerfuge saß, wurde ich stutzig. Als dasselbe dann auch bei dir zutraf, als noch diese Flucht der beiden hinzukam, die uns unsere Koffer ungeöffnet zurückgelassen hatten, da musste ich notwendig vermuten: Diese Thugs haben euch durch diese Gefangennahme nur beweisen wollen, dass sie gefährliche Gegner sind! Nur das! Den Hauptstreich gegen uns und Wolpoore werden sie erst später ausführen. So – das ist meine Meinung über diese Dinge. Du wirst einräumen, dass diese losen Haken überaus vielsagend sind. Die Fesselung war Spiegelfechterei. Wir sollten uns befreien! Dabei bleibe ich!«

Ich ließ ein zweifelndes »Hm – hm!« hören. Inzwischen waren wir jedoch schon vor das Haus Nelson-Platz Nr. 12 gelangt, und Harst schritt nun auf die Tür des Papiergeschäfts zu, trat ein und fragte das blonde, kräftige Mädchen hinter dem Ladentisch: »Miss Lydia Faringdall, nicht wahr?«

Ich war dicht hinter ihm geblieben. Ich sah, wie das Mädchen bei diesen höflichen Worten leicht zusammenzuckte. Dann stammelte sie verwirrt: »Ja – Lydia Faringdall. Sind Sie etwa Master Harald Harst?«

»Ich bin es. Können wir Sie ungestört sprechen? Dies hier ist mein Freund Max Schraut.«

Lydia Faringdall führte uns in ein Zimmer hinter dem Laden, rief ihre Mutter herbei, damit diese das Geschäft so lange versehe, bat uns, Platz zu nehmen und zeigte in ihrem ganzen Auftreten eine Sicherheit, die auf einen reifen, energischen Charakter schließen ließ. Sie trug ein dunkelgraues, schlichtes Kleid, sah trotzdem recht anziehend aus und hatte große klare Augen, in denen etwas wie schwermütiger Ernst lag.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, dankte sie Harst für seinen Besuch und fuhr dann fort: »Ich behaupte noch heute, Master Harst, dass Robinson Campell nicht von Thugs ermordet wurde. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie bemerken, wie ruhig ich über meines Verlobten schreckliches Ende spreche. Campell war mir in letzter Zeit entfremdet worden. Er … er liebte den Alkohol zu sehr. Ich will Ihnen gegenüber offen sein, Master Harst. Ich hätte dieses Verlöbnis gelöst. Dass ich an Sie telegrafierte, hat einen besonderen Grund: Ich habe eine ganz bestimmte Person als Mörder in Verdacht, kann aber wieder anderseits dem Betreffenden eine solche Tat nicht zutrauen. Nein, nein, er kann dieses Verbrechen nicht begangen haben!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Helfen Sie mir, Master Harst, helfen Sie mir!«, stieß sie leidenschaftlich hervor. »Ich liebe den Mann, den ich beargwöhne! Beweisen Sie, dass ein anderer der Mörder war. Nehmen Sie diese Seelenpein von mir! Ich leide so entsetzlich unter diesen Zweifeln!« Sie weinte stärker. Aber sie fasste sich schnell wieder, sagte dann: »Ich habe gehört, dass Lord Wolpoore jetzt wieder wie einst die Thugs fürchtet; ich kenne die Tragödie seines Lebens, diese seine ewige Angst vor der Rache der Mördersekte! Ich bin eine ehrliche Natur. Ich will nicht, dass er grundlos annimmt, es befanden sich noch Thugs in Freiheit. Robinson Campell ist ihnen nicht zum Opfer gefallen.«

Harst blickte das Mädchen freundlich an. »Miss Faringdall, Sie müssen wirklich ganz offen sein. Wer ist der Mann, den Sie beargwöhnen?«

Sie schluchzte auf, senkte den Kopf, flüsterte: »O mein Gott – all das ist ja so furchtbar! Aber ich will Gewissheit haben! Nur Sie können sie mir geben, Master Harst. Hören Sie denn. Ein Kollege Campells, der Detektiv Sheffring, der ebenfalls in Lord Wolpoores Diensten steht, lernte mich durch Campell kennen. Dieser war mir seiner Trunksucht wegen bereits gleichgültig, nein widerwärtig geworden. Sheffring gewann mein Herz. Ich weiß, dass er mich wieder liebt, wenn ich es ihm auch nie gesagt habe. Ich wollte erst frei sein. Vor drei Tagen abends, also am Abend vor dem Mord, war Campell hier bei uns. Ich erklärte ihm, dass ich das Verlöbnis von meiner Seite als aufgehoben betrachte. Da stieß er gegen Sheffring allerlei Drohungen aus, redete dann wieder von Selbstmord und war so erregt, dass ich zum Schein ihm versprach, ich würde noch eine Weile abwarten, ob er das Trinken wirklich sich abgewöhnen würde. Zum Unglück kam dann noch Sheffring zu uns. Es gab eine böse Szene zwischen Campell und Sheffring, bis Campell ohne Abschied davonstürmte. Auch Sheffring ging gleich darauf fort. Morgens fand man Campell dann erdrosselt auf, erdrosselt mit einem Seidentuch, das …«

Sie hüstelte, fügte schnell hinzu: »… das die Thugs ja häufiger bei ihren Morden benutzen sollen.«

Ich warf Harst einen besonderen Blick zu. Ich wollte ihn auf dieses verlegene Hüsteln aufmerksam machen, das mir darauf hinzudeuten schien, dass Lydia Faringdall den Satz anders hatte beenden wollen. Harst achtete jedoch nicht auf mich, schaute vor sich hin und sagte ebenso freundlich wie bisher: »Miss Faringdall, Sie sollen mich nicht umsonst um Hilfe gebeten haben. Ich werde für Sie tun, was ich kann. Nur eine Frage noch: Haben Sie Sheffring mal ein seidenes Tuch geschenkt?«

Ihr schoss das Blut ins Gesicht.

»Ja denn – ja!«, stammelte sie. »Und dieses Tuch war ja an dem Abend die Ursache des Streites zwischen Campell und Sheffring.«

»Und dieses Tuch ist wohl dasselbe, mit dem Campell erdrosselt wurde?«

»Dasselbe? Ich weiß es nicht. Es gibt viele Tücher desselben Musters. Aber nach der Beschreibung in den Zeitungen ist es eins von diesem Muster.«

»Haben Sie Sheffring seit jenem Abend wiedergesehen?«

»Nein – nein! Ich will ihn auch nicht sehen, nicht eher, als bis ich von seiner Schuldlosigkeit sichere Beweise habe.«

»Wohnt Sheffring hier in Madras oder auf dem Schloss des Lords?«

»Hier – drei Häuser weiter in derselben Straße wie Campell.«

Harst stand auf. »Sie sind ein tapferes, ehrliches Mädchen, Miss Faringdall«, sagte er herzlich. »Sie sollen sich nicht umsonst an mich gewandt haben.«

Wir verabschiedeten uns und gingen.