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Fort Wayne – Band 2 – Kapitel 8

F. Randolph Jones
Fort Wayne
Eine Erzählung aus Tennessee
Zweiter Band
Verlag von Christian Ernst Kollmann. Leipzig. 1854

Achtes Kapitel

Eine herrliche Sommernacht hatte ihre kühlen Schat­ten über das Flusstal des Cumberland gebreitet. Die Gestirne strahlten wie leuchtende Funken von dem indigoblauen, wolkenreinen Himmelsgewölbe herab und spiegelten sich in den Wellen, die mit sanftem Rau­schen ihren Jahrtausende alten Weg zum Mississippi, dem stolzen Vater der Gewässer, verfolgten. Die er­habene Stille, welche die schlummernde Erde und deren Geschöpfe beherrschte, wurde durch nichts unterbrochen, als hin und wieder von dem langgezogenen, trauri­gen Schrei einer Eule oder dem Emporschnellen eines Fisches, dessen Bewegung eine Reihe silberglänzende Kresse auf der Stromfläche hervorrief. Ein leiser Wind strich wie der Hauch einer liebenden Mutter über die schlafende Schöpfung und bewegte unmerklich die Gipfel der Bäume und die roten und weißen Blütenkelche des Schilfes an den Uferrändern. Die Atmosphäre war so rein und klar, dass die in weiter Ferne liegenden Höhenzüge Kentuckys in ihren schar­fen, dunkelvioletten Umrissen deutlicher zu erkennen waren, als während der flimmernden Hitze des Tages – und, wie um die Reize des malerischen Bildes noch zu erhöhen, tauchte tief am Horizont die scharf gekrümmte Sichel des abnehmenden Mondes aus dem schwarzen Laubmeer des Waldes auf.

Vor der Höhle und nahe am Flussufer saß ein Mann auf einem Felsblöcke, die Büchse zwischen den Füßen und den Kopf müde an einen verwitterten Baumstamm gelehnt. Die wollüstige, einschläfernde Stille der Nacht übte augenscheinlich ihre Wirkung auf den getreuen Wächter, der vergebens alle Willenskraft aufbot, um sich munter zu halten. Bald das eine, bald das andere Augenlid senkte sich herab, ein tremulierendes Gähnen wiederholte sich in immer kürzeren Pausen und nach einem schwachen, in halber Ausführung aufgegebenen Versuch, aufzustehen, überließ sich der Besiegte machtlos der Gewalt des Schlafes, der wohl tief und fest sein musste, denn das regelmäßige Atemholen der breiten Brust verwandelte sich nach einigen Minuten in ein kräftiges Schnarchen, welches wunderbar schauerlich durch das nächtliche Schweigen erklang.

Corporal Jiggins – denn leider müssen wir in ihm den unzuverlässigen Wächter erkennen – hatte allerdings sein Schläfchen wohl verdient, denn zum ersten Mal seit dem Überfall des Forts schlossen sich seine Augen zu einem wirklichen, ordentlichen Schlum­mer, der denn auch, gleich dem Feind, der nur erst durch ein einziges Pförtchen in den lange verteidig­ten Platz eingedrungen ist, sich alsbald und mit un­widerstehlicher Gewalt der ganzen Festung bemächtigte. Vielleicht, ja, wir müssen zur Ehrenrettung des wackeren Soldaten sagen, jedenfalls hatte der taktmäßige Schritt einer Patrouille, wäre sie auch noch einen Büchsenschuss weit entfernt gewesen, ihn sofort geweckt und seinen militärischen Instinkt tatkräftig ins Leben gerufen; aber das leise, kaum vernehmbare Geräusch, welches in diesem Augenblick von der Höhle her kam, vermochte ihn so wenig aus dem Land der Träume zurückzurufen, wie der leichte Schritt des jungen Mäd­chens, welches nun sich vorsichtig umblickend an ihm vorüberschlüpfte und aus dem Gebüsch tretend mit Entzücken die frische Nachtluft einatmete. Miss Mary war es, die innerhalb der düsteren Steinwände ihres Zufluchtsortes vom Schlaf geflohen und von der mar­ternden Pein schreckhafter Erinnerungen gequält wor­den war, sodass sie es vorgezogen hatte, den Anbruch des Tages im Freien zu erwarten. Es war, als ob eine Zentnerlast von ihrem Herzen wiche, als sie den tiefblauen Dom des Himmels mit seinen tausend blitzenden Sternen über sich erblickte. Ein Gefühl heiligen Friedens, eine ahnungsvolle Hoffnung kom­mender glücklicher Tage durchströmte wonnevoll und belebend die Seele des jungen Mädchens, welches, langsam längs des Vorgebirges im Schatten der Sträucher hinschreitend, einer Dryade glich, die, ver­lockt durch die nächtliche Stille, es gewagt hatte, ihre Wohnung im Inneren eines der ungeheuren Wald­bäume zu verlassen. Allmählich und ohne es eigent­lich zu wollen, war Mary bis zur halben Höhe des Hügels emporgeklommen und stand, nachdem ein flüch­tiger Umblick sie gewarnt hatte, sich nicht allzu weit von dem Lagerplatz zu entfernen, im Begriff den Rückweg anzutreten, als der Ton einer menschlichen Stimme, der von dem Gipfel der Anhöhe her, obwohl gedämpft, doch deutlich an ihr Ohr schlug, plötzlich ihren Fuß am Boden wurzeln ließ. Diese Stimme drang wie ein schneidendes Schwert tief in das Innerste ihres Wesens und beschwor das Schreckgespenst einer furcht­baren Vergangenheit herauf. Von Entsetzen ergriffen wollte sie fliehen, aber ihre Glieder waren wie gelähmt und ein nervöses Zittern durchflog den zarten Körper, der vergebens nach einem Stützpunkt suchte. Mary glaubte ohnmächtig zu werden – da riss der Ton einer zweiten Stimme, welche der ersten sonor und klangvoll antwortete, sie jäh empor und durchbrach die Bande des Schreckens. Dieser Klang flog wie ein Strahl göttlichen Lichtes durch die Nacht ihres kummervollen Herzens! Nie hatte sie zu hoffen gewagt, dem je wieder zu begegnen, von dessen Lippen die Worte schall­ten, die nun ihr lauschendes Ohr im Fluge auffing.

Einem unwiderstehlichen Impuls folgend eilte sie pfeilgeschwind den Abhang hinauf, nicht achtend der Dornen und des stachligen Gestrüppes, welches ihr Hände und Füße zerriss; atemlos und zum Tode er­schöpft erreichte sie das Plateau und sank keuchend in das hohe Gras nieder, unfähig ein Glied zu regen, während ihre brennenden Blicke suchend umherflogen.

Was würde der gute Corporal Jiggins gesagt haben, wenn ein neckender Geist ihn in diesem Augen­blick an Marys Seite versetzt und plötzlich geweckt hatte! Da, wo am Morgen die Indianer das Strom­ufer besetzt und ihre grausame Rache gegen den Hiwassee ausgeübt hatten, flammte nun eine lange Reihe von Wachtfeuern, deren rote Glut auf dem stillen Spiegel des Flusses reflektierte. Wenn auch die dun­klen Gestalten, welche schlafend um die Feuer herum lagerten, einen Augenblick über den Charakter dieses Biwaks in Ungewissheit lassen konnten, so bekunde­ten doch alsbald die zusammengestellten Ge­wehrpyramiden, eine gewisse Ordnung in der Gruppierung des Korps und die langsam auf- und niederschrei­tenden Schildwachen, dass zivilisierte Truppen den Platz der Rothäute eingenommen hatten. Aber diesem militärischen Schauspiel, so malerisch es immer sein mochte, gönnte Mary kaum einen flüchtigen Blick, vielmehr hafteten ihr Augen unverwandt an zwei männ­lichen Gestalten, welche in der dem Fluss entgegenge­setzten Richtung den Hügel heraufstiegen und in so geringer Entfernung von der bebenden Lauscherin stehen blieben, dass nur die dunkle Farbe ihres Kleides und das hohe Gras und Gestrüpp ihre Entdeckung verhin­derte.

»Wohlan, Monsieur Laroche!«, begann nun die Stimme, welche Mary zuerst vernommen hatte, »werde ich bald das wichtige Geheimnis erfahren, mit dem Ihr mich von meinem behaglichen Plätzchen am Feuer gelockt habt? Ich bin nicht Willens weiter zu gehen, ehe …«

»Wir sind weit genug von menschlichen Lauscherohren entfernt!«, erwiderte der Angeredete im tiefen, fast drohenden Ton. »Was ich Euch jetzt mitteilen werde, Monsieur Chevalier de Raucourt, hört nur Gott, den ich in dieser feierlichen Stunde zum Richter anrufe zwischen mir und Euch!«

Es entstand eine kurze Pause, augenscheinlich her­vorgerufen durch das Erstaunen und die stolze Ent­rüstung, mit welcher der Chevalier die rätselhaften und mit der bisherigen Stellung der redenden Person so wenig im Einklang stehenden Worte des Akadiers vernahm.

Marys pochendes Herz schien still zu stehen un­ter der Ahnung eines schrecklichen Ereignisses.

»Seid Ihr betrunken, mein lieber Laroche?«, nahm endlich der Chevalier das Wort mit einer Be­tonung, als fühle er sich halb gelangweilt, halb be­lustigt von dem feierlichen Wesen des Akadiers.

»Wenn Ihr die Absicht hattet, mir durch den Vortrag dramatischer Effektszenen Euer Talent zu empfehlen, warum wähltet Ihr dann so unpassend Ort und Zeit? Ich bin müde, guter Freund …«

»Nennt mich nicht Freund!«, rief Laroche mit ausbrechender Wut, »wenn Ihr je einen Feind hattet, der Euch hasste, der nach Eurem Blut dürstete, so mögt Ihr ihn Bruder nennen im Vergleich zu den Gefühlen wütenden Hasses und glühender Rache­sehnsucht, die mich beseelen Euch gegenüber, dem Zerstörer meines Lebensglückes, meiner zeitlichen und ewigen Seligkeit! Kennt Ihr mich, Chevalier? Seht her – ich bin Jacques Renaudot, der Verlobte von Madelon Rossin, dem bejammernswerten Opfer Eurer Schandtat!«

Damit riss der Sprecher die schwarze Haartour und das breite Pflaster ab und zeigte dem bestürzten Chevalier ein wohlgebildetes, aber totenbleiches Ant­litz, in welchem jede Fiber vor innerer Aufregung zuckte. Die dunklen Augen sprühten Blitze und schie­nen den Feind durchbohren zu wollen, während die zitternde Rechte krampfhaft ein paar Pistolenläufe umklammerte, welche aus der Tasche seines Jagdrockes hervorragten.

»Ich brauche Euch nicht zu erinnern«, fuhr der Akadier nach einigen fruchtlosen Versuchen, seiner zornbebenden Stimme Klang und Festigkeit zu geben, fort, »wie schmachvoll Ihr an einem alten geistesschwachen Mann, an einem unschuldigen Mädchen und an mir gefrevelt habt. Seit dem Tag, wo Ihr zuerst in die Wohnung Rossins, des Juweliers, tratet, mit der überlegten Absicht, Madelon zu verführen, bis zu jenem schrecklichen Moment, wo ich Euch mit dem unglücklichen Opfer Eurer höllischen Anschläge den Weg zu dem geheimen Schauplatz Eurer Orgien einschlagen sah, hasste ich in Euch den Räuber meines einzigen, höchsten Schatzes auf Erden und rief des Himmels Strafgericht auf Euch herab. Aber auch Madelon verfluchte ich, denn ich glaubte sie schuldig. Ich stieß die Unglückliche, als sie verzweifelnd auf meine Schwelle trat und unter heißen Tränen um ein Obdach, um einen Bissen Brot bat, unter Ver­wünschungen von mir – denn ich glaubte sie schuldig. Ich ließ sie in den Tod gehen, Monsieur! In den Tod – denn dem verbannten Vater folgte sie, eine Ausgesto­ßene, mit Schmach Bedeckte, an Bord des Schiffes, welches den entehrten Namen des unglückseligen Paa­res in den Tiefen der amerikanischen Wildnis verber­gen sollte. Das Schiff erreichte nimmer die Küste – Madelon und ihr Vater ruhen auf dem Grund des Meeres; aber ich, der ich, ach zu spät, die Kunde von Madelons Unschuld und Euren höllischen Intri­gen erfuhr, ich folgte Eurer Spur und heftete mich, Rache gelobend, an Eure Fersen!«

Der Akadier, der rasch und mit gesteigertem Affekt gesprochen hatte, hielt erschöpft inne und trocknete sich den Schweiß von der Stirn, ohne einen Blick seiner glühenden Augen von dem Chevalier zu wenden, als fürchte er denselben plötzlich verschwinden und seinem Hass entrissen zu sehen. Aber de Raucourt hatte in­zwischen Zeit genug gehabt, sich von der jähen Be­stürzung zu erholen, die ihn bei der Erinnerung an das unglückliche Opfer seiner Zügellosigkeit ergriffen hatte. Der harte Panzer des Egoismus, der sein Herz um­gab, war nicht so leicht zu durchdringen, und selbst die Erwähnung von Madelons schrecklichem Ende war nicht imstande, auch nur annähernd die Wirkung hervorzubringen, welche Jacques Renaudot von seinem Bericht erwartet hatte. Der Chevalier spielte ruhig mit der Degenquaste; sein Gesicht war zwar außer­ordentlich bleich, aber die Züge kalt, unbewegt, ja ge­langweilt, und als nun sein Gegner innehielt, sagte er mit der gleichgültigsten Betonung: »Nun – und das Ende dieser larmoyanten Ge­schichte, Monsieur Don Quixote? Sollten vielleicht die Pistolen in Eurer Tasche bestimmt sein, das Drama mit einem Knalleffekte zu schließen? Da Ihr so gütig wäret, mich von Euren wenig zärtlichen Gesinnungen gegen meine Person zu unterrichten, so muss ich ge­stehen, dass ich mich mit einiger Verwunderung noch am Leben finde. Ihr hattet auf dieser Reise Gele­genheit genug, mir im Schlaf ein Messer in die Kehle zu stoßen?«

Renaudot bebte. »Ich hätte es getan, Monsieur!«, keuchte er, »mehr als zwanzig Mal würdet Ihr mich beim Erwachen über Euch gebeugt und mei­nen Arm zum Stoß erhoben gefunden haben. Aber, ich weiß nicht, was es ist – der Gedanke, einen Meu­chelmord zu begehen, macht mich kraftlos, entwaffnet mich. Und dann – wenn ich Eure Seele zur Hölle gesendet hätte, schmerzlos, ohne Kampf, ohne dass Ihr erfahren hättet, warum Ihr sterben müsst, so wäre meine Rache nur halb befriedigt gewesen.«

»Es liegt Sinn darin!«, sagte der Chevalier. »Indes werdet Ihr es natürlich finden, wenn ich Eurer zartes Gewissen künftighin nicht mehr auf so bedenkliche Proben stelle und mir fortan das Vergnü­gen Eurer Gesellschaft versage.«

»Wir wären nicht hier, wenn Eure Befürchtun­gen gegründet wären!«, versetzt der Akadier finster. »Ihr wisst jetzt, dass ich ein Recht auf Euer Le­ben habe; dies genügt … den Urteilsspruch lege ich in die Hände des allmächtigen Gottes. Hier, wählt eine dieser Pistolen; beide sind geladen …«

»Ah, also ein Duell? Das ist großmütig, Monsieur! Wenn Ihr nun selbst das Unglück hättet, zu fallen?«

»Ich wünsche nichts Besseres, als mit Euch ins Schattenreich hinabzusteigen – und bei drei Schritten Distanz, welche ich verschlage …«

»Drei Schritte! Seid Ihr von Sinnen? Warum setzen wir uns dann die Mündungen nicht gleich an die Stirn?«

»Wie es Euch beliebt; jedenfalls wird der Zweck erreicht. Ich bin des Lebens müde, Ihr seid des Lebens nicht wert – also müssen wir beide hin­unter!«

Der Chevalier trat einen Schritt zurück und blickte unwillkürlich umher, als suche er jemanden, der ihn aus den Händen seines wütenden Feindes befreie. Dieser beantwortete die Bewegung mit einem bitteren Hohngelächter, während er den Hahn des einen Pistols spannte und dasselbe auf die Brust des Gegners richtete.

»Wenn Ihr noch eine Sekunde zögert«, sagte er, »so schieße ich Euch nieder wie einen Hund! Ich fühle, dass meine Gewissensskrupel in Eurer ver­hassten Gegenwart völlig verschwunden sind, und da Ihr jetzt wisst, warum Euer Blut fließen muss, so sehe ich in der Tat nicht ein, was mich abhält, der Sache ein Ende zu machen.«

Der Chevalier begriff, dass ein längeres Zaudern ebenso sein Leben wie den Ruf seiner Unerschrockenheit und Kaltblütigkeit in Gefahr bringen musste. Rasch und mit stolzer Miene ergriff er eine der Pisto­len, untersuchte sie sorgfältig und stellte sich schussfertig.

»Da wir ohne Zeugen sind, Chevalier«, nahm Renaudot nach einer Pause das Wort, »so erlaubt, dass ich selbst das Zeichen gebe. Sobald ich den teuren Namen Madelon rufe, feuern wir.«

»Es sei! Ich bin bereit.«

Eine halbe Minute lang herrschte eine tödliche Stille; die beiden Gegner standen einander so nahe, dass die Mündungen der Pistolen beinahe ihre Körper berührten. Ihre flammenden Blicke kreuzten sich wie schneidende Schwerter, und jeder hörte das Herz des anderen pochen. Nun durchflog ein leichtes Zucken die Glieder des Akadiers, er öffnete den Mund zu der verhängnisvollen Losung …

Da hallte ein leiser, halb erstickter Schrei durch die Nacht, und wie ein Schatten aus dem Reich des Jenseits tauchte eine weibliche Gestalt aus dem Ge­strüpp auf und stürzte sich zwischen die beiden Kämpfer. Mit einem wilden Fluch sprang Renaudot zurück; nur mit seiner Rache beschäftigt und selbst das Wun­derbare der Erscheinung nicht beachtend unter der Furcht, das Opfer seines Zornes sich entrissen zu sehen, richtete er sein Pistol aufs Neue gegen die Brust des Che­valiers und schrie mit heiserer Stimme: »Habt Acht auf das Signal! Ma­delon!«

Er drückte ab – der Schuss krachte! Aber in demselben Moment wurde sein Arm zur Seite ge­wendet und die Kugel, für das Herz des Feindes be­stimmt, durchschnitt pfeifend den leeren Raum. Und aus dem Pulverdampf tauchte ein blasses Antlitz auf, bei dessen Anblick Renaudot zusammenschauerte, wäh­rend gleichzeitig die Ahnung eines unermesslichen Glückes in seiner Seele aufdämmerte.

»Riefest du mich nur darum, Jacques!«, sagte die geheimnisvolle Erscheinung, in welcher wir bereits Miss Mary erkannt haben, »um Zeugin einer blutigen Tat zu sein? Überlass die Vergeltung dem, der mich aus den Fluten des Meeres hierhergeführt hat, dass … dass ich noch einmal den er­blicken durfte, den ich so heiß und innig geliebt habe!«

Renaudot fühlte sich von einem krampfhaften Zittern ergriffen; das abgeschossene Pistol entsank sei­ner Hand, und mit einer Mischung von abergläubiger Furcht und unsäglicher Wonne hing sein Blick an dem lieblichen Wesen, das wie ein versöhnender Engel des Lichtes den Raum zwischen den beiden Todfeinden einnahm.

»Bist du … bist du es wirklich, Madelaine Rossin?«, murmelte er mit kaum vernehmlicher Stimme. »Ist es kein Gaukelspiel einer aufgereg­ten Fantasie, die dein teures Bild aus der Tiefe des Meeresgrundes heraufbeschwört? Madelon! Madelon! sprich noch einmal … lass mich noch einmal die süße Stimme vernehmen, die Tag und Nacht vor meinen Ohren und in meinem Herzen klang, seit … seit …«

Die Stimme versagte ihm; ein Tränenstrom entrann den Augen des rauen Mannes, und wie ein Kind schluchzend sank er vor dem Mädchen nieder und umfasste ihre Knie. Madelon – wie wir Mary fortan nennen müssen – beugte sich zu dem Geliebten nieder und schlang ihren Arm um seinen Hals. »Ich bin es wirklich, mein teurer Jacques«, sagte sie. »Lass uns die Wege der Vorsehung preisen, die nach Sturm und Nacht uns so wunderbar in die­ser Wildnis zusammengeführt haben. Du sollst alles er­fahren; dir habe ich meine Liebe, meine Treue be­wahrt und keine Macht der Erde soll fortan uns trennen!«

Und sie legte schüchtern und doch liebevoll ihr Haupt auf die Schultern des Geliebten, der sie jauch­zend an sein Herz presste und ihren Mund mit heißen Küssen bedeckte. Solche Wonne kann nimmer geschil­dert werden. Zeit und Raum waren vergessen; die Sterne schimmerten friedlich auf das selige, wieder­vereinte Paar herab, und durch die heilige Stille der Nacht flog das stumme Gebet zweier Seelen zu dem Thron des Allmächtigen empor!

Während diese glücklichen Menschen mit vollen Zügen den Wonnebecher der reinsten Seligkeit schlürf­ten, tobte in der Brust des stolzen Mannes, der nur wenige Schritte entfernt mit verschränkten Armen und düsteren Blicken das rührende Schauspiel betrachtete, ein stürmischer Kampf, der sich in dem Zucken und der leichenhasten Blässe seines Antlitzes verriet. Cheva­lier de Raucourts scharfer und kalter Verstand hatte im ersten Augenblick die Wirklichkeit der Erscheinung Madelons begriffen; die Gefühle der Beschämung, verletzten Stolzes und bitteren Hasses gegen die Frau, welches die Ursache seiner Verbannung aus den Krei­sen der Pariser Gesellschaft und des Vaterlandes ge­wesen war, stritten mächtig gegen eine Empfindung, deren eigentliches Wesen er sich selbst nicht zu erklären wusste; es war wie ein Silberblick, der aus der starren Rinde seines Herzens, zwar schwach und unsicher, aber immer heller und bestimmter hervorblitzte – ein Funke der edlen Gottesflamme, welche auch der verderbteste Mensch, der kälteste Egoist nicht ganz aus seinem In­neren verbannen und auslöschen kann. Wie ein schwar­zer Schatten zog das Bild eines verlorenen Lebens an ihm vorüber, die nichtigen Freuden, die hohlen, unbe­friedigt lassenden Genüsse, die vereitelten Hoffnungen eines verfehlten, nutzlos in Tand und Sünde vergeude­ten Daseins. Ein beängstigender Krampf presste ihm die Brust zusammen; öde und trostlos wie die Ver­gangenheit erschien ihm die Zukunft und jenes bittere Gefühl der Verzweiflung, welches stets der echten und fruchtbaren Reue voranzugehen pflegt, übertäubte fast die schlimmen Regungen und Gedanken, welche den Hochmut eines mehr der Gewohnheit als dem In­stinkt des Bösen verfallenen Herzens aufstachelten. Mit einer raschen Bewegung schleuderte de Raucourt das Pistol fort und war im Begriff, den Platz zu verlassen, als Madelons süße Stimme seinen Fuß hemmte.

»Lass uns auch ihm vergeben, der uns Böses getan hat!«, sagte sie zu dem Geliebten. »Sicher fühlst du wie ich, dass diese heilige Stunde alle Bit­terkeit austilgen, allen Groll versöhnen muss. Ich glaube, Jacques, er ist unglücklich – unglücklicher in diesem Augenblick, als wir es jemals werden konnten.«

»Ich verzeihe ihm, du Engel des Himmels, mit vollem, freudigem Herzen! Aber nur unter einer Bedingung!«, setzte Jacques mit ernster Stimme hinzu, und zu dem Chevalier gewendet, sagte er: »Ich begreife vollkommen, Monsieur de Raucourt, wie peinlich Euch die gegenwärtige Situation sein muss, und versichere Euch, dass von unserer Seite alles vermieden werden soll, was irgend unangenehme Er­innerungen wecken könnte. Wir kehren nach Frank­reich zurück …«

»Hoffentlich nicht aus zarter Schonung gegen mich, Monsieur?«, unterbrach ihn der Chevalier mit einem bitteren Lächeln. »Der sentimentale Aus­gang dieses Duells wirft zwar ein ziemlich lächerliches Licht auf mich – indes wird die Gewissheit, Euch und die junge Dame glücklich zu sehen, mich über die erlittene Niederlage trösten.«

»Umso mehr, Chevalier«, antwor­tete Renaudot mit sehr bestimmter Betonung und einem bedeutungsvollen Blick, »da Ihr im Be­griff steht, Euch den Dank und die warme Erkenntlich­keit eines anderen braven Mannes zu erwerben, dem Ihr die aus Räuberhänden befreite Gattin wieder zuführtet.«

De Raucourt bebte zurück, wie von einem Schlag getroffen, und auf seiner hohen Stirn erschienen finster drohende Furchen. Vielleicht wäre der Schluss dieses Auftrittes dennoch ein höchst unerfreulicher geworden, wenn nicht das plötzliche Erscheinen neuer Personen die Unterredung abgebrochen hatte.

Von dem Schuss aufgeschreckt, welchen Renaudot abgefeuert hatte, war sowohl Corporal Jiggins auf der östlichen als auch das Soldatenlager auf der westlichen Seite des Hügelkammes alarmiert worden. Nachdem Jiggins, obwohl tief beschämt und zerknirscht ob seiner Nachlässigkeit, doch zu seiner großen Freude sich über­zeugt hatte, dass in nächster Nähe wenigstens keine Ge­fahr drohe, stürzte er in die Höhle und weckte deren schlafende Bewohner mit der Nachricht, dass der Feind entweder zurückgekehrt oder noch gar nicht abgezogen sei, da sich ein lebhaftes Gewehrfeuer hören lasse. Richard Morris und der Doktor griffen zu den Waffen, Mrs. Beagle fuhr aus schweren Träumen empor – aber wer beschreibt den Schrecken, das Erstaunen, die Angst der kleinen Gesellschaft, als sich herausstellte, dass Miss Mary verschwunden war! Einen Augenblick standen alle wie versteinert; dann stürzten sie gleich­zeitig hinaus ins Freie, Mrs. Beagle voll Verzweiflung und händeringend den Namen der teuren Freundin rufend, die Männer nicht im Entferntesten mehr an Jiggins kriegerischen Bericht denkend, den Abhang des Vorgebirges erkletternd, von wo sie einen freien Umblick zu der rätselhaft Verschwundenen erwarten durften. Oben angelangt, begrüßte sie in der Tat eine doppelte, freudige Überraschung. Wenige Schritte seitwärts sahen sie die Vermisste mit mildem, freudestrahlendem Antlitz zwischen Renaudot und dem Chevalier; gerade vor ihnen leuchteten die Wachtfeuer des Lagers, von wo eine Abteilung sich im Geschwindschritt dem Hü­gel näherte. Während Jiggins mit lautem Hurra! seinen Kameraden entgegeneilte, trat Richard, von dem Doktor gefolgt, zu der Gruppe, in deren Mitte die hohe Gestalt de Raucourts für ihn den lebhaftesten Anziehungspunkt bildete. Grollende Zurückhaltung und der brennende Wunsch, eine Kunde von dem Schick­sal Edistas zu erhalten, kämpften in Richards In­neren und gaben ihm ein nicht minder gezwungenes und verlegenes Ansehen, als das des Chevaliers bei dem plötzlichen Erscheinen dieses neuen und abermals beglückteren Nebenbuhlers war.

Dieser unbehaglichen Situation, deren Einflüsse sich selbst Doktor Littlewood nicht zu entziehen ver­mochte, wurde durch den angeborenen Takt und die Geistesgegenwart eines Frauengemütes ein Ende ge­macht. Madelaine Rossin, der ein paar Worte des Geliebten genügt hatten, um die Beziehungen zwischen dem Chevalier und Morris zu durchblicken, ergriff schnell de Raucourts Hand und führte den Erstaunten, widerwillig Folgenden mit versöhnendem Lächeln dem beleidigten Ehegatten entgegen.

»Das ist wahrlich eine gesegnete Stunde, Mr. Morris!«, sagte sie, »die nach langer Trennung mir einen teuren Freund, Euch eine geliebte Gattin wieder schenkt. Dieser Herr hat ein großes Anrecht auf Eure Dankbarkeit, denn er befreite die schöne Edista nicht nur aus der Gefangenschaft, sondern führte sie unter Gefahren aller Art nach Fort Wayne, um sie den Händen des betrübten Gemahls zu übergeben. Ist es nicht so, Chevalier?«

De Raucourt presste die Lippen zusammen und verbeugte sich schweigend, während Morris, in diesem Augenblick allen Groll vergessend, die widerstrebende Hand des so lange gehassten Feindes ergriff und herz­lich schüttelte.

»So lasst denn das Gedächtnis einer trüben Ver­gangenheit für immer zwischen uns begraben sein, de Raucourt!«, sagte er, »und möge der stille Frieden dieser Nacht ein Abbild des Friedens sein, der fortan in unseren verschiedenen Lebenskreisen segnend walten möge! Wann kehren wir nach Fort Wayne zurück? Ihr begreift, dass meine Sehnsucht …«

»Ihr müsst Eure Frage an Captain Turner, den Befehlshaber der Expedition, richten!«, erwiderte der Chevalier, der vergebens strebte, einige Unbefan­genheit zu heucheln. »Da der Indianeraufstand durch den Tod des Hauptführers Takannah und den missglückten Versuch auf das Fort als vollständig be­endet zu betrachten ist, und mich nichts mehr hier zurückhält, so gedenke ich bei Tagesanbruch den Heim­weg nach Charleston einzuschlagen. Colonel Beaufort wird sich freuen, einige Kunde von dem Schicksal sei­ner Tochter zu erhalten!«, setzte er mit einem Blick hinzu, der Richard deutlich genug bewies, dass es kaum gelingen werde, den Hass des gedemütigten Feindes zu versöhnen.

»Wie es Euch beliebt, Herr!«, erwiderte Mor­ris daher mit merklicher Kälte. »Ich gedenke von Fort Wayne aus gleichfalls ohne Ver­zug nach Charleston zu gehen, und mich und meine Frau vor Colonel Beaufort zu rechtfertigen – was mir vielleicht gelingen dürfte, selbst wenn ich das Un­glück hätte, Eure schätzbare Fürsprache entbehren zu müssen.«

Damit wendete er dem Chevalier, auf dessen blut­losen Lippen eine heftige Antwort schwebte, den Rücken und trat zu Madelon und Jacques, die sich während des kurzen Zwiegespräches der beiden Nebenbuhler zu­rückgezogen hatten und von der ebenso überraschten, wie hocherfreuten Mrs. Beagle mit tausend Fragen um Aufklärung all dieser wunderbaren Ereignisse bestürmt wurden. Nicht weit davon unterhielten sich Littlewood und Jiggins mit dem Captain Turner, der ihnen er­klärte, dass er eigens zu dem Zweck, die aus dem Fort Geflüchteten einzuholen und zurückzuführen, von Ge­neral Scott abgesendet sei und dass der Rückmarsch alsbald angetreten werden könne.

So fand sich denn der Chevalier allein – instinktmäßig gemieden von all diesen glücklichen Menschen – allein mit seinem verödeten Herzen, seinem unbefriedigten Hass, seiner zurückgewiesenen Liebe! Er war an einem Wendepunkt des Lebens angelangt, wo der Mann von Charakter entweder verzweifelt und den Tod sucht oder, unter den Hammerschlägen des stra­fenden Schicksals geläutert, wie ein Phönix aus der Asche sich zu einem neuen Leben, zu einer edlen, kräf­tigen, sich selbst und die Menschheit beglückenden Wirk­samkeit emporschwingt. Der Seelenzustand des Che­valiers, als er nun langsam, den Kopf schwer auf die Brust gesenkt, wie ein Trunkener den Hügel hinab­stieg, war ein so unbeschreiblich unglückseliger, dass sein unversöhnlichster Feind keine schrecklichere Strafe hatte ersinnen mögen; denn in den kalten Schweißtropfen auf der bleichen Stirn, in der gebrochenen Haltung, in den schlaffem Zügen dieses um zehn Jahre gealter­ten Antlitzes stand, von Gottes Finger geschrieben, das Wort Vergeltung!

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