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Nick Carter – Band 15 – Ein verbrecherischer Arzt – Kapitel 1

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verbrecherischer Arzt
Ein Detektivroman

Ein geheimnisvoller Diebstahl

Heller Lichtglanz flutete aus den Fenstern eines modernen Wohnpalastes an der vornehmen Madison-Avenue. Charles Ramsay, der bekannte Baumwollkönig und Börsenbeherrscher von New York, gab die letzte Abendgesellschaft der Saison, und noch einmal fanden sich in seinen Prunkräumen die oberen Vierhundert – von denen auch der Ärmste immer noch mit geringschätzigem Mitleid auf einen lumpigen Millionär herabsah und nicht begreifen konnte, wie solch ein armer Teufel überhaupt satt werden konnte – zu fröhlichem Tanz zusammen.

Nur wenige der Geladenen, welche durch den in einen Palmenhain verwandelten unteren Korridor schritten, um sich zu den im zweiten Stock gelegenen Festräumen zu begeben, achteten auf den jungen Eleganten, der gelassen und ruhig nahe der aus zwei massiven Spiegelscheiben bestehenden Eingangstür stand. Noch weniger ahnten sie, dass dies Patsy Murphy, der äußerst befähigte Gehilfe des Detektivs Nick Carter war.

Oben in dem prunkenden Salon, wo das Ehepaar Ramsay seine Gäste empfing, hatte Nick Carter, natürlich gleichfalls im eleganten Gesellschaftsanzug, Aufstellung genommen. Sein Cousin Chick dagegen durchwanderte die verschiedenen Festräume, ferner den Tanzsaal und auch das Speisezimmer, wo einladend ein kaltes Buffet aufgestellt war, das alle Leckereien der Jahreszeit darbot – und wo er sich, wie der berühmte Detektiv später lächelnd bemerkte, mit ganz besonderer Vorliebe den Abend über aufgehalten haben soll.

Natürlich fehlte auch Ida, die schöne Cousine des Detektivs, nicht; sie hatte sich unter einen Kreis junger Damen gemischt und erschien als eine der anmutigsten Mädchenblüten. Selbst Ten Itchi, der junge Japaner, welcher gleichfalls einer der befähigtsten Mitarbeiter Nick Carters geworden war, obwohl sein Vermögen nach Millionen zählte und sein Vater am Hof des Mikado eine der wichtigsten Ehrenstellungen einnahm, befand sich unter der Schar der Gäste – nicht so sehr aber, um sich an der seinem Meister gestellten Aufgabe ernstlich zu beteiligen, als um im Auftrag seiner Heimatregierung gewisse Personen, die im Sold der feindlichen russischen Regierung unter den maßgebenden amerikanischen Kreisen Stimmung für das Zarenreich zu machen bestrebt waren, auf Schritt und Tritt nachzufolgen. Dieser Auftrag hielt ihn, sehr zu seinem schmerzlichen Bedauern, schon seit geraumer Zeit davon ab, seine Kräfte und Fähigkeiten in den Dienst des schwärmerisch von ihm verehrten Meisterdetektivs zu stellen.

Nick Carter und seine Gehilfen waren auf Wunsch des Hausherrn erschienen, welcher den Ersteren zu seinen persönlichen Freunden zählte. Bei zwei vorhergegangenen Festlichkeiten im Ramsay’schen Haus hatten sich auf unerklärliche Weise Diebstähle ereignet, welche nach Lage der Sache nur von dem einen oder anderen der geladenen Gäste begangen worden sein konnten. Immer handelte es sich um wertvolle Schmuckgegenstände, welche leicht in der Tasche zu verbergen waren. Auch an dritten Orten waren unter den gleichen geheimnisvollen Umständen derartige Diebstähle verübt worden, doch die im Ramsay’schen Haus erfolgten erschienen in umso schieferen Licht, als es sich bei den Geladenen nur um die Vertreter der allerersten Gesellschaftskreise – nach amerikanischen Begriffen – handelte. Mr. Ramsay war nur schwer dazu zu bewegen gewesen, noch eine dritte Gesellschaft zu geben; als er den Bitten seiner Angehörigen schließlich nachgegeben hatte, hatte er dies nur unter der Bedingung getan, dass er seinen Freund Nick Carter dazu überreden konnte, mit seinen bewährtesten Gehilfen am Ball teilzunehmen.

Auf solche Weise waren Nick Carter und seine Getreuen in das Ramsay’sche Haus gelangt. Mitternacht war nahe, als Chick, auf der Suche nach dem Meister begriffen, diesen im Gespräch mit Patsy wahrnahm. Er trat an ihn heran und raunte ihm hastig zu: »Der Teufel ist schon wieder los! Oben im blauen Parlor beklagt eine Lady den Verlust ihrer Diamantbrosche?«

»Weißt du Näheres darüber?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Eben wurde ein Kotillon getanzt, an welchem die Lady teilnahm. Beim Beginn des Tanzes, so behauptet sie wenigstens, war dieselbe noch an ihrem Platz. Nach dem Schluss der fünften Tour dagegen war das Schmuckstück verschwunden.«

»Bei einem solchen Kotillon gibt es viel Durcheinander«, mischte sich Patsy ein. »Vielleicht hat sich die Brosche von selbst gelöst und ist unbemerkt zu Boden gefallen.«

»Nein«, unterbrach ihn Chick bestimmt. »Diese Brosche war mit einer Sicherheitsnadel angesteckt und wurde gewaltsam aus dem kostbaren Spitzenkragen, der womöglich noch wertvoller als die Diamantbrosche selbst ist, gerissen oder geschnitten.«

»Um welche Lady handelt es sich?«, erkundigte sich der Detektiv mit umwölkter Stirn.

Chick nannte ihm einen der stolzesten Namen der ganzen amerikanischen Handelswelt; es handelte sich um die Gattin eines Ölmagnaten, der die Reputation hatte, einer der reichsten Männer der Welt zu sein.

In diesem Augenblick kam Ramsay auch schon selbst, offenbar in großer Aufregung begriffen, herangeeilt, fasste den Detektiv vertraulich beim Arm und raunte ihm zu: »Denken Sie sich, Carter, die Geschichte ist wieder passiert, Mrs. Rockefeller vermisst eine auf 20.000 Dollar bewertete Brillantbrosche.«

»Hat sie Alarm geschlagen?«

»Wo denken Sie hin, sie erwähnte mir gegenüber vertraulich das Vorkommnis und erscheint mir über die Verstümmelung ihres Spitzenkragens, der sehr kostbar ist, bedeutend unglücklicher als über den Verlust der Brosche selbst.«

»Well, bitten Sie die Lady, sich durchaus still zu verhalten. Eröffnen Sie ihr, dass ich mit meinen Gehilfen hier im Haus bin und mir nach einer Weile gestatten werde, sie persönlich zu befragen«, versetzte der Detektiv nach kurzem Besinnen.

Unverzüglich suchte Nick Carter Ida auf und ersuchte sie, sich ohne Weiteres mit der Bestohlenen ins Einvernehmen zu setzen und vor allen Dingen von ihr zu erfahren, aus welchen Personen die Kotillonreihe, zu welcher sie selbst gehörte, bestanden hatte.

Eben trat der Hausherr wieder an sie heran und erklärte sich gern bereit, das Mädchen der bestohlenen Lady vorzustellen. Er bot ihr galant den Arm und geleitete sie in das obere Stockwerk.

Doch schon wenige Minuten später kehrte Ramsay wieder zu dem Detektiv zurück und bat ihn, ihm zu einem Hinterzimmer zu folgen, in welchem Ida ihn dringlich zu sprechen wünschte.

Als Nick Carter mit dem Hausherrn das Zimmer betrat, fand er hier seine Gehilfin im Gespräch mit einer vornehm aussehenden, älteren Dame, welcher er nun gleichfalls vorgestellt wurde. Es war die Bestohlene, und diese schilderte ihm nun die Umstände, unter welchen die Diamantbrosche verlorengegangen war. Prüfend betrachtete Nick Carter das von Vandalenhand ruchlos zerstörte Spitzentuch.

»Es scheint sich um keinen Riss, wohl aber um einen Messerschnitt zu handeln, durch welchen die Brosche samt dem Spitzenteil, an welchem sie befestigt gewesen war, herausgeschnitten wurde«, erklärte der Detektiv schließlich. »Ja, so muss es sein – ein ganz kleines Messer, das bequem in der Hand verborgen gehalten werden konnte, hat jedenfalls als Instrument gedient – und es war vermutlich während einer besonders bunten Tour des Kotillontanzes, da der Diebstahl sich ereignete?«

»Höchstwahrscheinlich«, nahm Ida das Wort. »Es handelte sich um eine Figurenreihe, an welcher sich fünf Herren und ebenso viele Damen beteiligten. Bald hielten die Damen die Arme hoch, reichten sich die ausgestreckten Hände und bildeten auf welche Weise eine Art Laubengang, durch welchen die Herren tanzten – und dann stellten sich diese in ähnlicher Anordnung auf und ließen wiederum die Damen passieren. Sämtliche Teilnehmer an der Kotillonreihe sind dem Namen nach bekannt, befinden sich noch hier im Haus und gehören den allerbesten Familien an.«

»Das leuchtet mir ein«, meinte Nick Carter bedächtig, der aufmerksam zugehört hatte. »Während die Lady beide Arme emporhalten und gleichzeitig noch die nötigen Tanzbewegungen ausführen musste, hatte sie keine Zeit, auf die Brosche zu achten. Dagegen war es einem Mittänzer leicht, an ihr vorüberzustreifen und mit einem Schnitt das duftige Spitzengewebe zu zerschneiden. Ganz entschieden muss der Diebstahl während jener Tour verübt worden sein. Wo wurde der Kotillon getanzt?«, unterbrach er sich.

»In verschiedenen Räumen«, erklärte die Lady. »Unsere Reihe tanzte hier in diesem Zimmer.«

»Dann habe ich auch schon das Instrument, mit welchem die Tat begangen wurde«, erklärte Nick Carter, dessen Falkenblick inzwischen auf dem Teppich ein winziges Federmesser, mit Schildpatt ausgelegt, entdeckt hatte. Er hob es auf und bemerkte, dass die schmale, scharfe Klinge noch geöffnet war. »Es ist ganz sicher, dass einer der Teilnehmer am Kotillon den Diebstahl begangen hat!«, setzte er bedeutsam hinzu.

»Dann bemühen Sie sich bitte nicht weiter«, erklärte die Lady resigniert. »Handelt es sich um eine Person aus unseren Kreisen, so wollen wir die Sache lieber auf sich beruhen lassen!«

»Das wird sich nicht gut machen lassen«, schaltete sich nun der Hausherr ein. »Wir sind es uns selbst schuldig, dass wir den Urheber all dieser Schändlichkeiten entdecken. Deshalb kommt es nicht zu einem öffentlichen Auftritt«, warf er beschwichtigend ein, »denn natürlich endet Mr. Carters Tätigkeit in dem Augenblick, da er den Schuldigen, an dessen Strafverfolgung natürlich niemand denkt, ermittelt haben wird. Auf die Verschwiegenheit meines Freundes Nick Carter aber können wir unter allen Umständen bauen.«

Das schien der Lady einzuleuchten, und ohne Weiteres gab sie allen weiter erforderlichen Aufschluss. Kaum war sie damit zum Ende gekommen, als eine junge, bildschöne Dame von etwa zwanzig Jahren in das Gemach gerauscht kam und sich in entsetzlicher Erregung an Ramsay wendete.

»Papa, ich kann kaum glauben, dass es wahr ist, was man sich in den Sälen erzählt. Jedenfalls solltest du sofort einschreiten, denn es wäre ja eine Beleidigung für unsere Gäste!«

»Wovon sprichst du eigentlich, liebes Kind?«, erkundigte sich der Hausherr betroffen.

»Es sollen sich Detektive unter den Gästen befinden – das wäre wirklich eine Schmach!«, rief die junge Dame empört.

»Pst! Liebes Kind, nicht weiter«, versuchte Ramsay die Aufgeregte unter einem verlegenen Blick auf den nachsichtig lachenden Nick Carter zu beschwichtigen. »Du befindest dich in Gegenwart des berühmtesten Detektivs unseres Vaterlandes, der zu meinen persönlichen Freunden zählt. Leider haben sich heute Nacht wieder Dinge zugetragen, welche die Gegenwart von Detektiven nur allzu sehr rechtfertigt. Wir haben es wieder mit einem jener rätselhaften Diebstähle zu tun, welche die Gesellschaft den ganzen Winter über beunruhigt haben, und sind gerade dabei, den Fall zu ermitteln.«

Mit hochmütigem Blick schaute die junge Dame, deren Unwillen durch die Worte des Hausherrn noch gesteigert worden zu sein schien, auf den berühmten Detektiv.

»Ihre Tochter, Mr. Ramsay?«, erkundigte sich dieser höflich.

»Ja, meine verheiratete Tochter, gestatten Sie, Freund Carter, dass ich Sie Mrs. Collins vorstelle.«

Der Detektiv verneigte sich, erhielt vonseiten der Dame aber nur ein kaltes, hochmütiges Kopfnicken. Dann wendete sie ihm kurz den Rücken zu und rauschte ohne ein weiteres Wort wieder aus dem Gemach.

 

*

 

Inzwischen hatte Patsy im unteren Korridor ein ihm äußerst merkwürdig vorkommendes Erlebnis gehabt. Eine junge Dame kam die Treppe herunter und schien im Begriff, achtlos an ihm vorüberzuschreiten, als sie sich plötzlich mit spöttischem Lächeln zu ihm wendete und ihn beim Namen nannte.

»Ja, Sie sind erstaunt, Mr. Murphy, ich sehe es Ihnen an – doch ich hörte oft meinen Bruder, der Sie genau kennt, von Ihnen sprechen. Ich weiß genau, wer Sie sind und was Ihre Gegenwart in diesem Haus zu bedeuten hat. Wenn Sie sich die Mühe geben, etwas abseits von diesem Haus, doch nicht allzu weit von mir entfernt, etwas schärfer zuzuschauen, so dürften Sie wohl finden, was Sie suchen!«

Mit einem fröhlichen Auflachen, ohne dem jungen Detektiv auch nur Zeit zu einer Entgegnung zu lassen, entfernte sie sich wieder und gesellte sich zu einer Gruppe plaudernder Herren und Damen.

Patsys Blick fiel auf seinen älteren Kollegen Chick, und hastig gesellte er sich diesem bei. Mit verstohlenem Blicke deutete er auf die blonde Schönheit.

»Weißt du, wer die Lady dort ist?«, erkundigte er sich in solcher Eile, dass sein älterer Kollege ihn überrascht anblickte und dann belustigt zu schmunzeln begann.

»Du wirst dich doch hoffentlich nicht in sie verliebt haben, Kleiner?«, scherzte er. »Da verbrenne dir lieber die Finger nicht, denn solche Trauben hängen für uns zu hoch!«

»Da bist du auf dem Holzweg«, gab Patsy, der glühend rot im Gesicht geworden war, zurück. »Die junge Dame kannte mich und gab mir einen unverständlichen Wink.«

»Ich kenne zufällig ihren Namen – es handelt sich um eine Miss Netta Thorne«, versetzte Chick, nachdem er die junge Dame schärfer betrachtet hatte.

Mittlerweile füllte sich der Korridor immer mehr mit sich verabschiedenden Gästen. Die Detektive kamen zu der Einsicht, dass ihre Anwesenheit im Haus nicht länger erforderlich war, und zogen sich unauffällig aus diesem zurück.

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