Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Lorenz, der hinkende Wirt am langen Steg – Kapitel 5

Lorenz, der hinkende Wirt am langen Steg
verfolgt von einem Hexenfluch
Ein höchst belehrendes Volksgeschichtchen für jedermann
Verlag der J. Lutzenberg’schen Buchhandlung, Altötting, ca. 1860

5. Kapitel

Lorenz, der Verbrecher, hinter Schloss und Riegel

Die ganze Umgebung kam darüber in Schrecken und Aufregung und am folgenden Sonntage hörte man von mehreren Kanzeln herab predigen, was die Leidenschaft aus dem Menschen macht und was daraus entstehe, wenn ein Christenmensch Gott beiseitesetzt und sein Herz ganz und gar an ein Geschöpf seines­gleichen hängt.

Einige Tage hindurch redete man von nichts als von dieser schrecklichen Mordnacht, betete für die Opfer und verfluchte Lorenz. Alles von dem Hexenfluch der langen Greth auf Kind und Kindeskind kam wieder zum Vorschein und auch der Holzhanns lief nicht sauber durch der Leute Mäuler. Er sei es gewesen, der dieses Unkraut habe groß werden lassen und diesen Unmenschen, der kein gutes Haar an sich gehabt hatte, sogar anderen Dienstboten vor­gezogen habe. Der Tischlermeister habe eine bessere Einsicht an den Tag gelegt als der sonst so gescheite Holzhanns; nun hat er es für seinen Unglauben und der Lorenz, der Hexenbursche bringt zuletzt noch jemand um, wenn ihn das Gericht nicht erwischt, so hieß es.

Doch trotz dieses, beinahe allgemeinen Geredes konnten die Zieheltern, der Holzhanns und die Wirt-Lise nicht zu dem Glauben gebracht werden, dass Lorenz der Mörder sei.

Dieser aber saß bereits in nächster Woche der Mordnacht wohl verwahrt hinter Schloss und Riegel. Das war für ihn die entsetzlichste Lage. Oft griff er nach dem eigenen Kopf und schaute auf wie einer, der aus einem schrecklichen Traum erwacht. Der Gedanke, dass er keiner Waldschnecke und Blindschleiche etwas zu Leide getan hatte, nun als Mörder des Krämers eingekerkert sei, drohte ihm, ihn um seinen Verstand zu bringen. Qualvoll drängte sich das Ge­spenst der langen Greth und ihres Fluches über seinen Großvater und dessen Kind und Kindeskind hervor. Doch ein herzlicher Ausruf »Gott sei mir armen Sünder gnädig und barmherzig« beruhigte und mahnte ihn, nicht auf so etwas zu denken, sondern an wirk­lich Erlebtes. Dies war aber:

Schon ein paar Stunden vor der schrecklichen Mitternacht hatte sich der stark angetrunkene Krämer, als er Lorenz und die Lise freundlich mitsammen reden gesehen, zu diesem hinzugedrängt und Stichreden fallen lassen vom Bettelbuben, vom hinkenden Braut­werber, wie die Knechte auch jetzt schon hoch hinauswollen, wenn sie auch kein Heiratgut sonst haben, als ein krummes Bein und eine Holzaxt oder eine Rosspeitsche und dergleichen.

Lorenz wurde da totenblass und zitterte an allen Gliedern vor Zorn und Scham, besonders, weil die Umstehenden darüber lachten und ihn begafften. Doch er bekämpfte seine Aufwallung wieder, als die Lise dem Krämer einen Blick voll Stolz und Verachtung zugeworfen und Lorenz gebeten hatte, er solle nicht böse sein auf diesen betrunkenen und groß­mäuligen Krämer und ihn mit sich in die Küche nahm, von wo er überall aus konnte, auch ihn, als ob sie eine Ahnung von Rauferei gehabt hätte, liebreich er­mahnt hatte, er solle sich bald zurückziehen, der Holzhanns vermeine ihn schon lange in den Federn.

So oft Lorenz an diese Bitte und Mahnung der Lise gedacht hatte, seufzte er nun bitterlich: »O hätte ich ihr gefolgt!«

Dessen ungeachtet trieb es ihn noch gegen Mitter­nacht in den Tanzsaal. Hauptsächlich um zu sehen, ob die Lise wohl nicht mehr mit dem Krämer tanze, stellte er sich möglichst unbemerkt unter die Zuschauer. Allein der scharfe Blick des Krämers traf ihn bald und es währte nicht lange, so drängte er sich neben ihn und ließ es an verächtlichen Blicken und Gebärden, als auch an Stichelreden nicht fehlen. Er schien den tiefen Unmut, den er an dem Ochsenwirt nicht auslassen konnte, an dem Knecht des Holzhanns auslassen zu wollen.

Lorenz schwieg indessen und stellte sich möglichst gleichgültig; allein, alle Passion auf diesen Krämer wehrte er nicht. Da kam es nun, dass der Krämer dem mit der Lise ruhig vorüberwalzenden Ochsenwirt den Fuß stellte und dieser mit der Tänzerin stürzte; Lorenz aber mit der Wut eines hungrigen Tigers den bos­haften Täter in den Saal stieß und sich auf ihn warf. Alles andere war ein Werk von wenigen Sekunden.

Lorenz erinnerte sich bloß noch, wie sein großes Sackmesser, das er beständig bei sich trug, beim Niederstürzen ihm herausfiel und wie der Krämer mit einem Messer nach ihm stieß. Er entwand dasselbe der knöchernen Faust, die es wie ein Schraubstock umspannte, dann wusste er einen Augenblick nicht mehr, was er tat, da er bis zum Erdrosseln gewürgt wurde. Dieser Augenblick war hinreichend gewesen, um einen tätlichen Stoß zu führen. Der Krämer schlug wie rasend um sich; Lorenz fand Gelegenheit sich frei zu machen, brach sich Bahn zu der ihm wohlbekannten Tür und stand unten im Hof am Brunnen, als es oben im Tanzsaal wieder hell wurde.

»Jesus, Maria und Joseph! Der junge Ochsen­wirt stirbt! Der Krämer schwimmt auch in seinem Blut, der hat auch seinen Teil!« So hörte Lorenz rufen und ohne umzusehen und zu fragen, ohne auch zu wissen wo aus und wohin, ohne zu verspüren, dass er selbst aus einer Armwunde blute, rannte er über Äcker und Wiesen dem Wald zu. Eine namenlose Angst und Bangigkeit bemächtigte sich seiner Seele. Er rannte und schwitzte und betete für sich hin, Gott möge ihn doch zu keinem Mörder werden lassen. Zum ersten Mal kam ihm der Wald unheimlich und schauerlich vor. Als schien er plötzlich seine Seh­kraft eingebüßt zu haben, lief er alle Augenblicke an einen Baum und stolperte über einen Stein. Er kannte sich in der Gegend gar nicht mehr aus. Stundenlang irrte er umher, hinter jedem Baum arg­wöhnte er einen Verfolger, jeder Baumstumpen kam ihm gespenstig vor. Sein Arm blutete nicht mehr, er brannte und spannte; todesmüde sank er endlich in einem Gebüsch nieder und schlief ein.

Als er aufwachte, war es heller Tag. Bleich und entstellt, todesmüde und hungrig wagte er sich aus dem Wald hervor. Ein armer alter Mann mit einem Korb auf dem Rücken, der den Berg heraufkeuchte, begegnete ihm und holte ihm um ein kleines Trinkgeld aus dem nächsten Bauernhof ein Stück Speck nebst Brot. In einem Gebüsch niedergekauert, aß er sich satt und schlief abermals ein. Als er aufwachte, ging es bereits gegen Abend. Er hinkte, vor­sichtig umschauend den Bergpfad hinab und gelangte bald zu einigen Häusern. Das stattlichste war, wie fast immer und überall ein Wirtshaus, das im Schild einen roten Ochsen führte. »Wie heißt es hier«, fragte Lorenz ein barfüßiges Mädchen, das ihn scheu betrachtete. »Beim Ochsenwirt in S…«, lautete die Antwort, »den heute Nacht ein hinkender Räuber im Tal drüben totgestochen hat und noch einen Zweiten dazu. Sie streifen aber schon nach ihm, denn er soll gehenkt werden.«

Vor Schrecken beinahe von Sinnen eilte Lorenz, so schnell er vermochte, fort, die Höhe hinauf dem schützenden Wald zu. »Also ein doppelter Mörder soll ich sein, o mein Gott, du weißt es«, seufzte er. »O wäre ich tot.« Es kamen ihm Gedanken an Selbstmord und schon hatte er in einem finsteren Augenblick der Raserei sein Halstuch gelöst und zusammengedreht, wirren Blickes herumspähend. Da trat plötzlich das Bild seiner Mutter ihm entgegen, seiner elendiglich verbrannten, längst begrabenen Mutter. Sie hatte ein so großes Entsetzen geäußert, als vor vielen Jahren – Lorenz ging damals noch in die Schule – der Schnaps-Toni sich endlich, wie er schon oft freventlich gedroht, wirklich erhängt hatte. Der Knabe Lorenz hatte den erhängten Säufer gesehen: die grässlich stierenden Augen, das blaurote Gesicht, die hervorhängende Zunge, die krampfhaft ineinander geballten Hände, und diesen schauderhaften Anblick nun so lebhaft vor sich, als hätte ihn seine Mutter hingestellt und aber auch das wieder vor sich, was sie damals gesagt hatte, nämlich dass derjenige, der sich wohlbewusst selbst umbringt, des Teufels sei, denn dieser ist es, der dem Selbstmörder einlügt, mit dem Tod sei alles aus und die ewige Ruhe gewonnen. Wer Gott verlässt, über den bekommt der Teufel die Obmacht.

Gleichsam vor sich selbst fliehend, hinkte er weiter. Es wurde abermals Tag und abermals Nacht. In einem Dickicht junger Tannen hatte er einen Schlupf­winkel gesucht und die misshandelnde Natur behauptete ihr Recht, er schlief ein. Als er erwachte, war es heller Tag und nach seinem scheuen Hervorkriechen beobachtete er einen Arbeiter im Wald und beide erkannten sich.

Es war Kaspar, vor einigen Jahren sein Mitknecht beim Holzhanns, der nun verheiratet war und ein kleines Gütlein hatte. »Komm nur her Lorenz und scheue dich nicht, ich weis alles!«, bedeutete ihm Kaspar. »Da nimm zuerst einen tüchtigen Schluck Branntwein und iss dazu. Ich kann dir sagen, dass der Krämer vor seinem Tod sich selbst als den Mörder des Ochsenwirts angegeben und ebenso eingestanden habe, dass er dich unmenschlich gereizt hat. Der Doktor soll den Messerstich nicht für totbringend erklärt und behauptet haben, der Tod sei fast mehr infolge einer Kopfwunde eingetreten, die er von einem kantigen Stuhlbein erhalten hatte. Schlecht wird es dir freilich ergehen, aber vom Gehenkt werden ist keine Rede und es gibt Leute genug, darunter auch der Holzhanns und die Wirts-Lise, die dich weit mehr bedauern als verdammen. Es ist unsinnig von dir, so im Gebirge herumzurennen, denn, wie lange wirst du denn dies noch treiben? Das Beste für dich wäre, du stelltest dich selbst beim Amt und je eher du dies tust, desto glimpflicher wird es kommen.«

Diese Reden waren nun wohl ein Balsam auf die Wunden des Verfolgten, aber zur Beobachtung des Rates war Lorenz nicht geneigt. Dem Kaspar herzlich dankend schlich er wieder weiter und hatte Zeit genug, sich in das Elend seines Hetzlebens hineinzudenken. Es war dunkel, als er ermüdet, hungrig und durstig und kaum mit aller Anstrengung seiner Kräfte, weinend über sein Elend, einen einsamen offenen Schuppen zuhinkte, wo er etwas Stroh und Reisig zum Nacht­lager fand.

Warum Lorenz so scheu und vorsichtig herumschlich, war das die Ursache, weil Schelme und andere Ver­brecher weit mehr in großen Städten mit Aufnahme und Verheimlichung gesichert sind als in der Einsamkeit des Gebirges. Denn da sind die Bewohner zu Berg und Tal argwöhnisch und vorsichtig und müssen es sein im eigensten Interesse. Eine Minute genügt, um den roten Hahn auf das Dach ihres Hauses und Hofes zu setzen und ihre Gebäude sind nicht derart vermauert und befestigt, dass ihnen nicht einige Lumpenkerle viel oder alles von ihrem Besitztum zu rauben vermöchten. Zudem haben sie da die Ansicht, dass derjenige, welcher imstande ist, ein Menschenleben auszulöschen, auch fähig ist zum Sengen, Brennen und Rauben.

Hätte auch Lorenz hie und da ein bekanntes Haus getroffen, so würde man sicher nicht an da­s gedacht, dass er sonst eine grundehrliche Haut war, sondern an das gedacht haben, dass er mit der Hexe, der langen Greth, im Verband sei.

Er mochte lange in dem Schuppen auf dem Stroh und Reißig geschlafen haben, als er unsanft aufgerüttelt wurde.

Vor ihm stand ein Landjäger, den Hahn des Gewehres gespannt.

»Gelt, Mordknecht, jetzt haben wir dich! Du bist arretiert. Beim ersten Muckser bist du ein Kind des Todes! Fest geschlossen an Händen und Füßen, vorwärts!«

Der heftig erschrockene Lorenz redete kein Wort und ließ alles geduldig über sich ergehen. Noch zwei Landjäger waren erschienen und in dieser Begleitung, in welcher ihn auch die Bekannten, die ihm begegneten, scheu und flüsternd betrachteten, was ihm oft mehr weh tat als seine Schellen an Händen und Füßen, wurde er zum Amt geführt.

Nach fast einjähriger Untersuchungshaft, die aber nicht in Abrechnung kam, lautete das Urteil auf 15 Jahre Zuchthaus.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert