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Der Welt-Detektiv – Band 10 – 1. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 10
Die Dame in Schwarz
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

1. Kapitel

Die braune Mütze

Sehr geehrter Herr Holmes! Ich bin kein aber­gläubiger Mensch, aber was seit einiger Zeit in Cro­ydon geschieht, ist geradezu unverträglich. Es ist möglich, dass Sie mich auslachen, wenn ich Ihnen mitteile, dass ein dämonisches Wesen hier seine Rän­ke spinnt. Eine Hexe, Mr. Holmes, die nichts wie Unheil anrichtet. Sie verhext das Vieh, verdirbt die ohnehin geringe Ernte und treibt auch sonst Scha­bernack, wo sie nur kann.

Des Nachts schleicht sie durch unser Städtchen und erschreckt Mensch und Tier. Aber das ist es nicht allein. Das Weib bewohnt am Ende Croydons ein kleines Haus, in dem es bei Tag und Nacht ru­mort. Kommen Sie, Mr. Holmes, und befreien Sie uns von der unheimlichen Person. Dafür würde Ihnen von ganzen Herzen dankbar sein.

Frau Mary Caill. Croydon. 24 Blackburn Street

Als Sherlock Holmes dieses Schreiben überflog, konnte er sich wirklich eines Lächelns nicht erweh­ren.

»Hier, Jonny«, wandte er sich an seinen jungen Freund und Schüler, der an einem der hohen Regale stand und mit dem Ordnen des Archivs beschäftigt war, »lies nur einmal, was in Croydon, kaum ein Stündchen von London entfernt, für fürchterliche Dinge geschehen.«

Jonny Buston kam herbei und las den Brief der Frau Mary Caill mit sichtlichem Vergnügen.

»Eine Hexe!«, rief er amüsiert. »Die gute Frau Caill scheint noch im tiefsten Mittelalter zu leben. Was es doch für närrische Menschen gibt!«

»Nicht nur närrische«, verbesserte Sherlock Hol­mes, »sondern auch gemeingefährliche. Da haust viel­leicht in dem Hüttchen am Ende der Stadt ein altes, verhutzeltes Weiblein, das ein sonderliches Leben führt. Gleich ist es eine Hexe, die ihre dämonischen Pläne spinnt, das Vieh verzaubert und die Ernte verdirbt. Nicht die als Hexe verschriene Person, sondern diejenigen, die diesen Unsinn in die Welt setzen, sollte man bestrafen.«

»Das werden wir der Frau Caill schreiben, ja?«

»Ja, ich werde dir nachher den Brief diktieren. Jon­ny. Jetzt aber muss ich noch einmal zur Brandstreet, um mir einige Bücher zu besorgen.«

In diesem Augenblick schrillte die Telefonglo­cke. Die Direktion der Londoner Untergrundbahnge­sellschaft war am Apparat und verlangte dringend Sherlock Holmes zu sprechen.

»Sie wünschen?«, erkundigte sich der Weltdetektiv. Was er hörte, ließ ihn aufhorchen. Vor wenigen Minuten hatte sich auf der unterirdischen Station Moorgate Street, dicht bei Finsbury Circus, ein schreckliches Unglück oder, besser gesagt, ein Verbrechen ereignet.

Zwei Männer waren in Streit geraten, und im Au­genblick der höchsten Wut hatte der eine den ande­ren vom Bahnsteig auf die Schienen gestoßen. Ehe der Unglückliche imstande war, sich zu erheben und in Sicherheit zu bringen, kam schon der einfahrende Zug herangebraust und fuhr über ihn hinweg. Unter den auf dem Perron wartenden Fahrgästen und de­nen, die den ankommenden Zügen entstiegen, brach eine furchtbare Panik aus, die es dem Mörder ermög­lichte, zu entkommen, obwohl die beiden Ausgänge der Station von den ihre Ruhe bewahrenden Beamten sofort gesperrt wurden.

Die Leiche lag noch unter dem Zug.

»Die alarmierte Feuerwehr muss jeden Moment eintreffen. Sie wird den Waggon heben und den Un­glücklichen bergen. Auch die Polizei wird erwartet. Trotzdem möchten wir Sie bitten, Mr. Holmes, eben­falls zu kommen.«

Der Weltdetektiv bestieg eine Autodroschke und jagte zur Moorgate Street. Vor den geschlosse­nen Toren der Untergrundbahnstation hatte sich eine riesige Menschenmenge angesammelt, durch die sich einen Weg zu bahnen keine Kleinigkeit war.

Unten traf Sherlock Holmes bereits die Feuerwehr in voller Tätigkeit an. Auch die Polizei war schon erschienen. Der Weltdetektiv erkannte Inspektor Birds herkulisch gebaute Gestalt und neben ihm noch eine Anzahl seiner tüchtigsten Mitarbeiter.

Kaum gewahrte der Inspektor den berühmten Kol­legen, als er mit raschen Schritten auf ihn zueilte.

»Guten Tag, Mr. Holmes!«, rief er und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Eine scheußliche Geschichte, was?«

»Wissen Sie bereits, wer die Tote ist?«

»Nein, wir müssen warten, bis die Feuerwehr den Waggon vollkommen gehoben hat.«

Sie traten langsam an den Rand des Perrons und verfolgten die Tätigkeit der emsig arbeitenden Be­amten. Endlich war es so weit! Der Tote wurde auf eine Bahre gelegt und zum Bahnsteig emporge­hoben.

Kaum hatten Sherlock Holmes und Bird jedoch ei­nen Blick auf das blasse, stark verzerrte Antlitz des Überfahrenen geworfen, als sie fast gleichzeitig ei­nen Ruf der Überraschung ausstießen.

»Tom Corner!«

Wahrhaftig, er war es: Tom Corner, der berüchtig­te Fassadenkletterer, der seit vielen Jahren den Be­hörden bekannt war und schon mehr als einmal emp­findliche Freiheitsstrafen verbüßt hatte. Seine Spezi­alität war es, exklusive Hotels heimzusuchen.

Er kletterte zur Nachtzeit wie eine Katze an der Fassade der infrage kommenden Gebäude empor, drang durch offenstehende Fenster in die Hotelzim­mer ein und raubte Geld, Goldbarren und Schmuck­sachen.

Dieser Mann lag nun hier. Tot. Ermordet. Wer war der Mörder? Ein Komplize, mit dem Corner viel­leicht in Streit geriet? Sherlock Holmes und der In­spektor verloren keine Zeit. Bird durchsuchte die Taschen des Toten, während sich der Weltdetektiv einstweilen darauf beschränkte, den Schauplatz des schrecklichen Ereignisses in genaueren Augenschein zu nehmen.

Seitwärts der Schienen lag eine braune Mütze. Wem gehörte sie? Tom Corner? Nein, denn der Tote trug jetzt noch die tief in die Stirn gezogene Kopfbe­deckung. Wenn nicht Corners, so musste sie des Mörders Eigentum sein. Wie ein Beamter, der Augenzeuge des sich blitzschnell abspielenden Vorfalls geworden war, berichtet hatte, war dem Sturz auf die Schienen ein Sekunden währendes Ringen vorausge­gangen. Hierbei mochte Corner seinen Angreifer die Mütze vom Kopf geschlagen oder gerissen haben.

Sherlock Holmes ließ sich die Kopfbedeckung heraufreichen und würdigte sie einer eingehenden Untersuchung. Je mehr er sich mit ihr beschäftigte, umso gespannter wurden seine Züge. Er trat abseits, zog die Lupe aus der Tasche und untersuchte das Fut­ter Zoll für Zoll. Auch dem inwendigen Lederstrei­fen schenkte er starke Beachtung. Als er ihn umbog, sah er, dass er eine Einlage aus Zeitungspapier besaß. Die Mütze war also dem Mörder etwas zu weit ge­wesen, und er hatte versucht, dieses Übel durch die Einlage abzuhelfen. Er faltete den mehrfach geknif­fenen Zeitungsstreifen auseinander und sah, dass sie neuesten Datums war. Es war kein Londoner Blatt, sondern eines, das in Croydon erschien. Croydon!

Derselbe Ort, aus dem ihn heute ein Brief erreicht hatte, der Brief, der von der Hexe berichtete! Was für ein sonderbarer Zufall!

Sherlock Holmes legte den Zeitungsstreifen an sei­nen Platz zurück, um dann die Mütze Bird zu rei­chen, der sich just von der Seite des Toten erhob. Darauf winkte er den Beamten heran, der das Ringen der beiden Männer mit angesehen hatte, und forderte ihn auf, eine genaue Besenreibung des Täters zu ge­ben.

»Es war ein mittelgroßer, schlanker Mensch«, er­klärte der Mann. »Sein Gesicht sah kreideweiß aus. Sein Haar war blond und …«

»Blond?«, fiel im Sherlock Holmes ins Wort. »Wis­sen Sie das genau?«

Der Beamte wurde unter den prüfenden Blicken des Weltdetektivs unsicher.

»Ja«, stotterte er. »Gewiss … es muss blond gewesen sein … hellblond.«

»Nein!« Sherlock Holmes schüttelte den Kopf. »Es war schwarz, pechschwarz sogar.«

Bird zeigte eine erstaunte Miene.

»Woher wollen Sie das wissen, Mr. Holmes?«, fragte er.

»Nun«, antwortete Sherlock Holmes mit einem Lächeln, »Sie werden auch noch dahinterkommen, wenn Sie die Mütze da mit der Lupe untersuchen.«

Der Inspektor begriff.

»Aha. Sie haben kleine schwarze Härchen ent­deckt?« Dann aber wurde seine Miene verdrießlich. »Aber die Feststellung nützt uns nicht viel. Der Kerl, der Tom Corner auf die Schienen stieß, war mittel­groß. schlank, besaß ein bleiches Gesicht und schwarze Haare. Das ist alles. Ich befürchte, in London laufen fünfzigtausend Menschen herum, auf die die­ser Steckbrief passen würde. Wie alt war denn der Mensch ungefähr?«

»Vielleicht fünfunddreißig, Herr Inspektor.«

»Und seine Kleidung?«

»Er trug, wenn ich mich nicht irre, einen grünen Sportanzug.«

»Das ist interessant«, fiel Sherlock Holmes ein. »Nun überlegen Sie einmal ganz genau: War der An­zug neu? Oder machte er den Eindruck, schon länge­re Zeit getragen zu sein?«

Bird machte zu dieser Frage wieder sein verwun­dertes Gesicht und sah den Beamten der Unter­grundbahn erwartungsvoll an. Dieser dachte angestrengt nach. Schließlich erwiderte er: »Beschwören kann ich es nicht, Mr. Holmes, aber wenn ich mich nicht irre, so trug der Mann einen ziemlich neuen Sportanzug!«

»Allright«, versetzte der Weltdetektiv.

Dann wandte er sich an den Inspektor: »Wollen Sie mir die Mütze für vierundzwanzig Stunden überlassen?«

Bird zauderte. Misstrauisch blickte er den berühm­ten Kollegen an. Dann aber reichte er ihm die Kopf­bedeckung hin, wobei er sich aber eine ironische Fra­ge nicht verkneifen konnte.

»Wollen Sie inserieren: Mütze gefunden? Abzuho­len bei Sherlock Holmes?«

»Nein«, antwortete der berühmte Kriminalist, »das ge­rade nicht. Aber ich werde einmal nach Croydon hinüberfahren, vielleicht erfahre ich dort mehr. Guten Tag, Inspektor!« Und er ging, den Inspektor mit ge­mischten Gefühlen zurücklassend.