Stephen King – Ihr wollt es dunkler
Stephen King
Ihr wollt es dunkler
Originaltitel: You Like It Darker
Storysammlung, Hardcover, Heyne Verlag (Penguin Random House), München, Mai 2024, 736 Seiten, 28 Euro, ISBN: 9783453274723. Ebenfalls als E-Book (21,99 Euro) sowie als ungekürztes Hörbuch als Download (27,95 Euro) oder auf 3 CDs (mp3, 28 Euro) erhältlich. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg und Sven-Eric Wehmeyer.
Betrachtet man die lange Karriere des US-amerikanischen Ausnahmeautors Stephen King, dann fällt auf, dass seine Prosa sich in vielfältiger Weise präsentiert, was die einzelnen Längen seiner Geschichten angeht. Zwar finden sich überwiegend Romane auf der Liste der Veröffentlichungen, aber auch zahlreiche Novellen hat der kluge und präzise Beobachter der amerikanischen Gegenwart veröffentlicht – und auch viele Kurzgeschichten, oder solche, die sich irgendwo dazwischen befinden. King – früher und vor seinem Durchbruch zur kurzen Form gezwungen, weil er mit solchen in Magazinen veröffentlichten Kurzgeschichten ein bescheidenes Zubrot verdienen konnte – hat inzwischen die Freiheit selbst zu entscheiden, wie viel Raum er einer seiner Ideen geben kann und möchte. Fans fiebern deswegen auch kürzeren Arbeiten Kings ebenso entgegen wie angekündigten längeren Romanen.
In Ihr wollt es dunkler versammelt King nun – wie schon in der Vergangenheit in Blut, Nachtschicht, Zwischen Nacht und Dunkel oder Basar der bösen Träume – insgesamt zwölf kürzere Prosatexte, überwiegend aus jüngerer Zeit und in ganz unterschiedlicher Länge. Thematisch sind diese breit gestreut: Es gibt einen umfassenden Thriller in Romanlänge, Geisterspuk und kleine Horror-Bonmots, die einzig auf die Pointe hin geschrieben sind. Sie sind durchaus auch von unterschiedlicher Qualität: Überwiegend repräsentieren sie Kings detailverliebten Stil mit klar umrissenen Figurenzeichnungen, die sich unvermittelt mit Krisen oder dem Übernatürlichen konfrontiert sehen. Bei der Fülle an Geschichten, die er bereits erzählt hat, bleibt mitunter eine gewisse Redundanz nicht ganz aus. Aber: Ist das was Schlechtes?
»Mach’s noch einmal, Steve!«
Nein, ist es nicht. Das zeigt schon die Auftaktgeschichte Zwei begnadete Burschen über zwei befreundete Männer, die nach einem Jagdausflug verstört zurückkehren und die auf einmal steile Karrieren als Schriftsteller und Maler starten. Eine Journalistin und der Sohn eines der Männer versuchen zu ergründen, was damals vorgefallen ist. Ungewöhnliche Begegnungen im Wald? Das kennen King-Leser beispielsweise aus Romanen wie Tommyknockers oder Duddits – Dreamcatcher, und auch hier ahnt der geneigte Leser die Pointe schnell. Aber: Die Figuren und das Drumherum sind gut gelungen, sodass man diese – Redundanz – im Werk gut verschmerzt.
Aus der Rubrik »Schnell und Dreckig« mit jeweils nicht einmal 20 Seiten folgen Der fünfte Schritt und Willie der Wirrkopf, zum einen eine launige Story-Spielerei zum Thema Suchtersatz und zum anderen ein wirklich hochkonzentriertes Kleinod über Vergänglichkeit, Todesfaszination und Zeit, das so einen erstaunlich hohen Ekelfaktor aufweist, dass man sich unweigerlich an die ganz frühen Horror-Schoten Kings erinnert, die man in Blut und Nachtschicht fand. Eine sehr positive Überraschung!
Dann folgte ein 250 Seiten langer eigenständiger Thriller-Roman, der gut und gerne als eigenes Buch hätte veröffentlicht werden können: In Danny Coughlins böser Traum träumt der namensgebende Protagonist aus dem Titel, wo an einer abgelegenen Landstraße eine Leiche verscharrt wurde. Nachdem sich Coughlin versichert hat, dass dort tatsächlich eine Tote liegt, meldet er es anonym der Polizei – und gerät an einen Ermittler mit einer Zähl-Zwangsneurose, der alles zu tun bereit ist, nur um dem Träumer den Mord anhängen zu können. Ein spannendes, sich stetig steigerndes Duell, bei dem es am Ende nicht mehr darum geht, wer die Frau ermordet hat, sondern ob die Unschuld über falschen Gerechtigkeitssinn siegen kann. Ein toller Text!
Auf den Hund gekommen
Nach diesem frühen Höhepunkt fühlen sich die folgenden kürzeren Storys fast ein wenig schal an. Finn ist eine Geschichte über einen vom Pech verfolgten jungen Mann, der stoisch alles Leid, das man ihm antut, erträgt und schließlich aufgrund einer Verwechslung in Gefangenschaft und Folter gerät – mit einer schwachen Pointe. Besser: Auf der Slide Inn Road, ein Tarantino-eskes Backwood-Slasher-Intermezzo, das an eine Mischung aus Wrong Turn und The Hills Have Eyes erinnert – ganz amüsant. Ziemlich originell kommt Ein Fachmann für Turbulenzen daher. Es geht um das Fliegen, Luftlöcher und Flugangst und eine Gruppe ungewöhnlicher Menschen mit bestimmten mentalen Fähigkeiten. In der Ausführung kein großer Wurf, aber in der Einzigartigkeit der dahinterstehenden Idee sticht diese Geschichte definitiv gegenüber den anderen heraus.
Aber: King kann auch Sachen, die ans Herz gehen. In Laurie geht es um einen gleichnamigen Hund, den ein Witwer in Florida von seiner Schwester geschenkt bekommt, damit er nach dem Tod seiner geliebten Frau wieder auf die Beine kommt. Rund zwei Drittel der Story drehen sich darum, wie sich der Mann mit der jungen Hündin anfreut – die ihm am Schluss in einer gefährlichen Situation zur Seite steht. Wer weiß, dass King ein absoluter Hunde-Liebhaber ist, dessen Corgie-Dame Molly („The Thing of Evil“) eine eigene Berühmtheit ist, liest hier seine Zuneigung aus jeder Zeile heraus. Ergreifend!
Und noch einmal ein Hund: Die 140-Seiten-Novelle Klapperschlangen erweist sich nicht nur durch eine wieder aufgegriffene Figur aus Kings frühem Hunde-Horror-Schocker Cujo (von 1981!) als eine Art veritable Fortsetzung, sondern mit überaus deutlichen räumlichen Referenzen zur Insel Duma Key auch als eine Art Bindeglied zum noch nicht ganz so betagten King-Künstler-Roman Wahn (OT: Duma Key, 2008). Auf der Insel Rattlesnake Key versucht Vic, dessen Ex-Frau mit ihrem gemeinsamen Sohn von Cujo angegriffen worden war – was der Sohn nicht überlebte – etwas Ruhe zu finden, muss sich allerdings bald mit der offenbar spinnerten Mrs. Bell herumschlagen, die einen leeren Zwillingskinderwagen durch die Gegend schiebt. Sie tut so, als würden die Kinder noch leben, die vor Jahrzehnten von Klapperschlagen vergiftet wurden und starben. Als auch Mrs. Bell aus dem Leben scheidet, findet Vic den Kinderwagen in der Auffahrt seiner Hauses – und es geschehen noch weitere seltsame Dinge. Klapperschlangen ist eine wunderbare Geister-Spuk-Geschichte mit einem spannungsmäßig grandios aufbereiteten und dramatischen Finale.
Ein Schuss Lovecraft, eine Prise Schicksal
Und auch die letzten beiden Beiträge können sich sehen lassen: In Die Träumenden muss ein Stenograph Hypnose- und Schlafexperimente eines besessenen Wissenschaftlers dokumentieren, der über seine Probanden einen Weg in die Welt hinter der Welt finden möchte, die sich nur im Schlaf offenbaren. Als sich erste Erfolge zeigen, werden die Tests immer riskanter und die Ergebnisse immer unheimlicher. Toller Lovecraft’scher Horror, wie ihn King zuletzt in seinem etwas schwierigen Roman Revival zelebrierte.
In Der Antwortmann, einem erweiterten Fragment einer frühen Story-Idee, wie King im Nachwort erläutert, bekommt Phil Parker während seines Lebens drei Mal die Gelegenheit, bei zufälligen Begegnungen dem zeitlosen Antwortmann für unterschiedliche Geldbeträge Fragen zu stellen – zum Wesen der Welt, zur eigenen Zukunft. Was er dabei erfährt, oder auch versäumt zu erfragen, ist manchmal wunderbar und manchmal grausam. Eine schöne Parabel auf die Ungewissheit, was einem im Leben alles widerfahren kann und dass man, auch wenn man etwas ahnt, nicht auf alles vorbereitet sein kann, was kommt.
Fazit:
Ihr wollt es dunkler versammelt in der Tat ein Dutzend King-Storys der düstereren Sorte, auch wenn das in Ausnahmefällen vordergründig gar nicht so erscheint. Während die gut ausgearbeiteten Storys überwiegen, gibt es doch auch solche, die mehr wie eine Fingerübung wirken und deren Pointe nicht immer so richtig gut zünden will. Die Figuren sind aber in jeder Geschichte gewohnt gut ausgearbeitet, und in dieser Pralinenschachtel der Abgründigkeiten muss einem nun auch nicht jede Kreation schmecken. Aber: Es ist immer noch King, einer der besten Geschichtenerzähler unserer Zeit. Für jeden weiteren Satz von ihm darf man dankbar sein.
(sv)