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Der Detektiv – Band 28 – Das Rätsel des Indischen Ozeans – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Das Rätsel des Indischen Ozeans

Teil 2

Meine Fesseln bestanden aus Büffelriemen, die an in die Mauer getriebenen Eisenhaken so befestigt waren, dass ich mich kaum bewegen konnte. Mein Hinterkopf schmerzte stark. Zuweilen wurde mir so übel infolge der Nachwirkungen des Schlages, dass ich wieder ohnmächtig zu werden fürchtete.

Harst regte sich nicht. Dann brachte ich mühsam die Worte heraus: »Harald – wir sind hier in eine böse Falle geraten …«

»Ich schäme mich«, lautete seine merkwürdige Antwort. »Ich habe mich diesmal unglaublich blamiert. Ich hielt den Schaden am Bahnkörper für das Hauptattentat, und es handelte sich dabei doch nur um eine Vorbereitung für unsere Gefangennahme.«

Ich glaubte nicht recht verstanden zu haben. Vorbereitung – Schaden am Bahnkörper?! Dann begriff ich.

»Die Unterwaschung des Dammes war also …«

»… ja, war durch Menschenhand sehr schlau veranlasst worden«, vollendete Harst meinen Satz. »Das Wasserrinnsal hatte ursprünglich eine andere Richtung. Man hat es erst auf den Bahndamm zugeleitet und bei diesem durch Spatenstiche nachgeholfen. Als der Platzregen kam, wurden dessen Wassermassen eine für die Thugs sehr willkommene Hilfe. Ich sagte dir doch vorhin, dass die rötliche Tonerde das Wasser gefärbt hatte. Nun, dieser Farbstrich des ursprünglichen Weges des Rinnsals war so genau zu verfolgen, dass ich genau die Stelle fand, wo die Schufte dem Wasser eine neue Richtung gegeben hatten. Und an der einen Schienenschwelle klebte unten ein Erdklumpen, der glatt abgestochen war, also Spatenarbeit. Ich habe mich diesmal tatsächlich vollkommen täuschen lassen. Die beiden Thugs sind ganz geriebene Kerle. Ich nahm an, es hätte sich bei der Beschädigung des Dammes lediglich darum gehandelt, eine Entgleisung unseres Extrazuges herbeizuführen. Aber wir haben nun den Beweis, dass die Kerle anderes planten. Sie wussten, dass wir in dem einsamen Gehöft nach einer Fahrgelegenheit uns erkundigen würden. Deshalb suchte der Händler dort Schutz vor dem Unwetter. Und wie geschickt benahm der Mensch sich dann. Seine Unfreundlichkeit, dass er uns erst lange bitten ließ, ehe er uns mitzufahren erlaubte, alles war schlau berechnet. Ich schäme mich tatsächlich, dass mir dieser Zufall nicht verdächtig vorkam, dass gerade ein Händler aus Madras auf dem entlegenen Grundstück eingekehrt war. Und auch nachher der Überfall auf uns! Dieser Trick mit dem schweren Sack, den der Kerl mir auf den Schoß warf! Mein Alter, wir stecken hier in einer bösen Patsche. Wenn es uns nicht gelingt, sehr bald freizukommen, dann – dann gebe ich für unser Leben keinen Pfifferling. Die beiden Kerle bringen jetzt sicher den Wagen weg und werden in Kurzem wieder hier sein. Gerade weil sie uns nicht mal die Taschen ausgeräumt haben, müssen wir mit ihrer baldigen Rückkehr rechnen. Befühle jetzt mal die Haken, an die deine Hände gefesselt sind. Kannst du es? Meine beiden Haken vermag ich mit den Fingern nicht zu erreichen.«

Ich drehte die Hände in den Schlingen. Ja – ich konnte die starken Haken, durch deren geschlossene Ösen die Riemen durchgezogen waren, mit den Händen umspannen.

»Rüttele daran!«, sagte Harst nun. »Packe recht bequem zu. Dann versuche, ob du sie durch kurze Rucke lockern kannst.«

Bei dem linken Haken war alle Mühe umsonst. Aber der rechte – und mit der rechten Hand konnte ich ja größere Kraft entwickeln – schien nicht so fest in der Mauerfuge zu sitzen.

Ohne Rücksicht auf meine sehr bald stark schmerzte Hand arbeitete ich an dem Haken herum. Ich merkte, wie er sich immer mehr lockerte. Harst feuerte mich durch Zurufe an.

»Schone dich nicht, mein Alter!«, wiederholte er verschiedentlich. »Bedenke – hier geht es ums Leben.«

Endlich konnte ich den Haken herausziehen. Damit hatte ich mit dem rechten Arm volle Bewegungsfreiheit erlangt. Das Weitere war ein Kinderspiel: Ich holte mein Taschenmesser hervor, öffnete die große Klinge mit den Zähnen – ein paar Schnitte und Harsts Taschenlampe blitzte auf. Er hielt sie in der Linken, in der Rechten aber die bewährte Waffe, die neunschüssige Repetierpistole.

»So, nun sollen sie nur kommen!«, flüsterte er. »Ich werde die Scharte auswetzen! Aber lebend müssen wir sie fangen! Vorwärts denn – nach oben!«

Der Kellerraum hatte nur eine Türöffnung. Wir gelangten bald auf die halb zerstörte Steintreppe. Auch der Kellerhals besaß keine Tür. Wir standen nun in einem gewölbten, mit Schutt teilweise gefüllten Gang, der auf die Haustür zulief. Unsere Lampen beleuchteten die Wände. Bunter Steinmosaik überall. Also ein früherer Tempel. Rechter Hand hing eine schwere Tür schief in rostigen Angeln. Dahinter lag das Gemach, in dem vorhin Licht gebrannt hatte. Wir lauschten. Totenstille. Dann zwängte sich Harst durch die Tür. Auch in diesem Raum nichts als Schutt. Und auf einem Schutthaufen in der Ecke standen unsere Koffer.

»Sehen wir uns draußen um«, flüsterte Harst.

Die Haustür war nur angelehnt. Kaum waren wir im Freien, als Harst plötzlich davonstürmte.

Der Mond stand schon tief. Aber ich erkannte deutlich den Karren, auf dem die beiden Thugs saßen und langsam nach Norden zu über das steinige Plateau fuhren.

Nun begann der Gaul davonzustürmen. Dann das Peng – Peng – Peng von Pistolenschüssen. Harst hatte im Laufen gefeuert, aber offenbar nicht getroffen. Der Wagen verschwand im schwarzen Schatten einer fernen Baumkulisse.

Harst kam zu mir zurück. »Verdammt!«, murmelte er wütend. »Zwei Minuten früher, dann hätten wir die Kerle gehabt.«

»Wir sind frei – das ist die Hauptsache!«, tröstete ich ihn.

Er lachte hart auf. »Ja – vogelfrei! So lange diese beiden Thugs noch einen Finger rühren können, werden sie alles daransetzen, uns heimzuzahlen, was wir Maria Bellingson antaten! Lassen wir unsere Koffer hier. Wir müssen schleunig nach Madras. Ich bin sehr besorgt um Wolpoore. Diese Schufte bekommen alles fertig. Aber bevor wir aufbrechen, wollen wir doch dafür sorgen, dass die Thugs uns so leicht nicht herausfinden aus dem Völkermischmasch der Hafenstadt Madras. Legen wir unsere Chinesenkostüme an, mein Alter. Darin haben wir schon manchen angenehm-aufregenden Tag verlebt.«

Eine Stunde drauf – es war mittlerweile zwei Uhr morgens geworden – wanderten zwei armselige chinesische Kulis auf der nach Madras führenden Hauptstraße entlang. Jeder der Kulis trug ein Bündel über dem Rücken.

Harst war nun sehr schweigsam. Als ich ihn fragte, ob es ihm denn noch immer so nahe ginge, dass er sich seiner Ansicht nach vorhin böse blamiert hätte, antwortete er erst nach einer Weile: »Lieber Alter, die ganze Geschichte behagt mir nicht.«

Ich wurde aufmerksam. »Was behagt dir nicht?«, meinte ich gespannt.

»Die Geschichte hat einen Haken!«, erklärte er mit besonderer Betonung. »Eigentlich waren ja vier für jeden – vier Haken in der Mauer! Einer genügt davon aber.«

Ich zuckte die Achseln. »Zum Rätselraten habe ich heute weniger Lust denn je«, erwiderte ich.

»Und doch würde ich es dir gerade heute empfehlen. Aber da kommt ein Wagen die Straße entlang. Offenbar ein Gemüsehändler, der nach Madras will. Versuchen wir, ob er uns mitnimmt.«

Es war ein steinalter Hindu, der den mit zwei Maultieren bespannten Wagen lenkte. Neben ihm saß ein Mädchen, ein halbes Kind noch. Der Greis forderte 2 Rupien von uns als Fahrgeld. Wir saßen dann zwischen Gemüsekörben und genossen das Schauspiel eines prachtvollen Sonnenaufgangs. Die Inderin war wohl noch nicht häufig in der Stadt gewesen. Jedenfalls schien sie noch nie chinesische Kulis gesehen zu haben. Sie betrachtete uns wiederholt mit neugierigen Blicken, bis Harst dann mit ihr eine Unterhaltung in einem beiderseits fürchterlichen Englisch begann. Harst ahmte das Chinesenkauderwelsch tadellos nach. Das Gespräch wurde bald lebhafter. Die Kleine war recht zutraulich. Harst tat so, als ob er Madras nur oberflächlich kenne. Dann fragte er das Mädchen, wo der Nelson-Platz in Madras liege. Ein Bekannter habe ihm gesagt, wir würden dort in Nr. 12 vielleicht Arbeit finden.

Da drehte sich der Greis um und meinte: »Das muss wohl ein Irrtum sein. Nr. 12 ist ein neues Gebäude. Dort gibt es nur teure Europäerwohnungen und unten einen einzigen Laden.« Er drückte sich recht gewandt aus. Nachher erzählte er uns, dass er früher Zollbeamter gewesen sei.

»Was für ein Laden?!«, fragte Harst. »Wohnt dort nicht ein Master Faringdall?«

»Es ist ein Papier- und Schreibwarengeschäft«, erklärte der Hindu. »Es gehört der Witwe eines englischen Sahibs namens Faringdall, die mit ihrer Tochter das Geschäft versieht. Ich liefere seit Jahren das Gemüse dorthin. Es sind zwei sehr fleißige Frauen. Jetzt ist das Unglück bei ihnen eingekehrt. Der Verlobte der Tochter wurde ermordet aufgefunden. Ich kam gerade mit meinem Wagen vorüber, als der Tote zur Stadt geschafft wurde.«

Harst tat so, als ob ihn jeder Mord über alles interessiere. Der Alte ließ sich auch gern ausfragen. Es machte ihm offenbar Vergnügen, zu zeigen, wie genau er über alle Einzelheiten unterrichtet sei. Er hatte einen Bekannten unter den Polizeibeamten und dieser war dabei gewesen, als man die Leiche abgeholt hatte. So erfuhren wir denn Folgendes:

Links der Straße dicht vor Madras lag ein Palmengehölz. Dort hatten zwei Eingeborene den toten Detektiv frühmorgens bemerkt und dann sofort die Polizei benachrichtigt. Campell war mit einem Seidentuch erdrosselt worden, das mithilfe eines kurzen Stockes fest zugedreht war. Der Stock, ein frisch abgeschnittenes Aststück, war etwa ein halbes Meter lang und mit dem einen Ende hinter das rechte Ohr des Toten geklemmt worden. Da die Polizei in Madras ein paar sehr gute Polizeihunde besaß, hatte man das Beste der Tiere die Witterung des Stockes nehmen lassen. Der Hund hatte denn auch sehr bald eine Fährte verfolgt, die zum Europäerviertel führte. Aber das Ende dieser Spur war das Haus gewesen, in dem Robinson Campell ein möbliertes Zimmer bewohnt hatte. Der Hund hatte also die Fährte des Ermordeten angenommen. Alle Versuche, ihn dann am Tatort erneut auf eine andere Spur zu bringen, waren umsonst gewesen.