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Der Welt-Detektiv – Band 9 – 6. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 9
Der geheimnisvolle Schoner
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

6. Kapitel

Ein furchtbarer Augenblick

Drei Tage später lag der Schoner abfahrbereit im Ha­fen. Alle waren sie an Bord: Kapitän Mixton seine drei Freunde, die Kaufleute, die sich das Vergnügen, das man sich mit dem hypereleganten Greenhorn machen wollte, nicht entgehen ließen, sowie die vollzählige Mannschaft.

Nur der Veranstalter dieser Fahrt, der junge Tiefseeforscher, war noch nicht an Bord. War er im letzten Augenblick anderen Sinnes geworden? Nein, keine Spur. Fünf Minuten vor der vereinbarten Abfahrtzeit erschien er längsseits des Schiffes in einem Motorboot. Aber nicht allein. Sechs junge Leute befanden sich in seiner Begleitung, die schnell, einer nach dem anderen, über die Strickleiter heraufkamen.

Kapitän Mixton zog die Stirn in unmutsvolle Falten. Was bedeutete das?

»Meine Freunde!«, stellte Sherlock Holmes liebens­würdig lächelnd vor, auf die sechs jungen Leute deu­tend. »Sie brennen darauf, der Hebung des Goldschat­zes beizuwohnen!«

Mixton wollte barsch erwidern, dass man die Mitnah­me von Passagieren nicht vereinbart habe; aber dann schwieg er doch. Es war schließlich gleich.

Auch eine Kiste wurde noch an Bord geholt.

»Sie enthält allerlei Apparate, die für Tiefseefor­schung nötig sind«, erklärte Sherlock Holmes harmlos.

Mixton ging auf die Brücke, und wenige Minuten später dampfte der Schoner aus dem Hafen. Nach drei­tägiger, von keinem bösen Wetter beeinträchtigte Fahrt erreichte man die Insel, an deren Klippen die MARIANNE zerschellt und versunken war.

Die Insel selbst war unbewohnt, bestand sie doch nur aus hohen, zackigen Felsen, auf denen keinerlei Vegetation gedeihen konnte. Sherlock Holmes blinzel­te stumm zum Eiland hinüber.

Ganz langsam und forschend glitt sein Blick über das kahle, wildzerklüftete Gestein. Bis er das entdeckte, was er suchte: einen kleinen, hellen Stofffetzen, der hoch oben an einer der Erhöhungen im Wind flatterte. Da nickte er und drehte der Insel wieder den Rücken zu. Seinen sechs Freunden aber, die in Wirklichkeit nichts anderes als verkappte Polizeibeamte aus Trini­dad waren, flüsterte er bei passender Gelegenheit die Worte zu:

»Alles in Ordnung. Sie sind schon angekommen!«

Der erste Abstieg des Tauchers auf den Meeresgrund war auf den morgigen Tag angesetzt. Der Mann war derselbe, der auch seinerzeit für die Reederei hinabge­gangen war und der – keinen Augenblick zweifelte der Weltdetektiv daran – mit dem Kapitän unter einer Decke steckte. Es geschah, wie verabredet. Kaum war der neue Tag angebrochen, als Watson, der Taucher, in den Tauchanzug schlüpfte, sich den unförmigen Helm aufschrauben ließ und schwerfällig über die ins Meer geworfene und mit Blei beschwerte Strickleiter den ersten Abstieg unternahm.

Dann kam er wieder herauf.

»Nun?«, rief Sherlock Holmes in scheinbarer Aufre­gung.

Watson zuckte die Achseln.

»Von dem Wrack ist nicht die geringste Spur zu ent­decken. Señor Pringlay«, sagte er. »Weiß der Teufel, wie das möglich ist. Aber wer weiß, vielleicht hat sich der Zeichner des Planes geirrt!«

Davon aber wollte der Tiefseeforscher nichts wis­sen.

»Das glaube ich nicht«, behauptete er. »Sie müssen die ganze Umgebung absuchen. Vielleicht hat eine unterirdische Erdverschiebung stattgefunden, die die Lage des Wracks ein wenig verändert hat!«

Der Taucher schwieg, ruhte sich zwei Stunden aus und verschwand noch einmal in der Tiefe. Natürlich kehrte er wiederum mit enttäuschter Miene zurück. Aber Pringlay entwickelte eine seltsame Zähigkeit.

»Versuchen Sie morgen nochmals Ihr Glück!«, rief er erregt. »Halten Sie sich einmal statt nach links mehr nach rechts!«

Zu alledem sagte der Kapitän kein Wort, und auch die Kaufleute und die Besatzung schwiegen. Man amü­sierte sich köstlich über den jungen Menschen, der mit aller Gewalt einen Schatz heben wollte – einen Schatz, der nicht für ihn bestimmt war! So kam die Nacht. Pringlay und seine Freunde hatte sich zeitig zur Ruhe begeben, dafür erschienen sie auch am nächsten Mor­gen ausgeruht und mit frischen Kräften.

Besonders Pringlay lief mit strahlender Miene um­her.

»Ich habe eine famose Idee!«, rief er Kapitän Mixton zu. »Und wissen Sie auch, was für eine? Ich steige selbst einmal auf den Meeresgrund hinab!«

Für Sekunden wich alle Farbe aus des Kapitäns Ant­litz.

»Sie?«, stieß er hervor. »Mann, Sie haben wohl keine Ahnung, dass das Tauchen gelernt sein muss! Und dann geht das ja auch gar nicht. Wie ich Watson kenne, ver­traut er seinen Tauchapparat keinem anderen an. Nein, nein, das schlagen Sie sich nur aus dem Kopf!«

Aber Sherlock Holmes lächelte nur.

»Was brauche ich Watsons Taucherausrüstung«, er­widerte er unbeirrbar und wies dabei auf die Kiste, die er mitgebracht und die man auf Deck fest vertäut hatte. »Da drin liegt alles, was ich brauche!«

Kapitän Mixton biss sich auf die Lippen, als Sherlock Holmes mit seinen Freunden die Kiste öffnete, und nicht nur einen kompletten Tauchanzug, sondern auch eine vollständige Pumpeinrichtung, die dem Taucher die nötige Menge an frischem Sauerstoff durch Schläu­che zuführt, zum Vorschein brachte. Während der nächsten Viertelstunde blieb der Kapitän unsichtbar, aber Sherlock Holmes ahnte, wo er sich befand: bei Watson, dem Taucher wahrscheinlich.

»Man wird beratschlagen, wie man mich nun schleu­nig um die Ecke bringt«, dachte er. »Allmählich scheine ich anzufangen, dem Pack auf die Nerven zu fallen!«

Dessen ungeachtet machte er sich mit seinen Freun­den schleunig daran, alles für den Abstieg vorzube­reiten.

Als Watson erschien, war die Luftpumpvorrichtung bereits an Deck aufgestellt.

»Ich warne Sie vor Unbesonnenheiten«, knurrte Wat­son mit einem wütenden Blick auf das Bild, das sich seinen Blicken bot. »Es gehört eine große Übung dazu, sich als Taucher zu betätigen. Überdies ist es voll­kommen zwecklos. Auch Sie werden nichts von dem Wrack entdecken können!«

Aber Sherlock Holmes lächelte liebenswürdig.

»So lassen Sie mir doch das Vergnügen«, sagte er. »Und das die Übung anbelangt – o, ich habe auf dem Gebiet der Taucherei mehr Erfahrung, als Sie vielleicht annehmen!« Und er begann, mit der harmlosesten Mie­ne der von Welt den Taucheranzug anzulegen. Watson trat mit verkniffenem Gesicht abseits, um sich auch seinerseits für den Abstieg fertig zu machen, aber der Blick, den er dem Kapitän zuwarf, verhieß nichts Gu­tes! So kam es, dass sich plötzlich an Deck des Scho­ners zwei Taucher befanden! Als man ihnen den Helm aufschraubte, den Tornister mit Riemen auf den Rücken schnallte und die Luftkammern des Tornisters mit dem Atmungsschlauch verbunden hatte, legten sie den Gürtel mit dem Messer und der Signalleine an und stiegen langsam über die Strickleiter in die Tiefe, Wat­son zuerst, dann Sherlock Holmes ohne Furcht, obwohl er noch niemals zuvor unter Wasser gegangen war.

Klatschend schlug das Wasser über ihm zusammen. Es summte und brauste in seinen Ohren, und seine Handgelenke begannen unter den veränderten Blut­druck zu schmerzen. Dann aber wichen die quälenden Empfindungen wieder. Was blieb, war nur eine gewis­se Beklemmung, die dem Gefühl des Ungewöhnlichen entsprang.

Als er den festen Untergrund unter den Füßen spürte, ließ er die Stricke los und schaute sich um. Da das Wasser klar war, sah er deutlich, wie Watson langsam auf ein dunkles Etwas zuschritt, das wie ein riesiges, schlafendes Ungeheuer regungslos auf dem Grund des Meeres kauerte: das Wrack der MARIANNE!

Fische und allerlei anderes Getier schwammen um­her, aber Sherlock Holmes schenkte weder ihnen noch der Fülle der anderen, bisher nie geschauten Dinge Beachtung. Das Wrack lockte ihn! Er ging darauf zu. Das Herz lachte ihm förmlich im Leib, als er das Schiff unversehrt vor sich sah. Wohl war es etwas ver­schrammt, wohl wucherten unübersehbare Mengen von Schlingpflanzen auf den faulenden Planken, aber was schadete das? Die Bergung der Goldbarren musste für geübte Taucher ein Leichtes sein! Die Schufte waren also überführt!

Sherlock Holmes genügte der Anblick. Mehr hatte er nicht feststellen wollen. Er wandte sich um und wollte zur Strickleiter zurückkehren. Da aber fühlte er sich plötzlich von hinten umklammert! Watson war es, und das Messer in seiner Hand sagte ihm alles! Watson wollte den Luftschlauch durchschneiden, der in Sher­lock Holmes Tornister mündete! Ein furchtbares Rin­gen setzte ein.

Anfangs gelang es Sherlock Holmes, die Oberhand zu gewinnen, dann aber geriet Watson in Vorteil, weil er sich doch geschickter in dem hemmenden Anzug zu bewegen verstand. Immer mehr fühlte Sherlock Hol­mes seine Kräfte schwinden. Da aber gelang es ihm, den Angreifer durch eine blitzschnelle Beinstellung zu Fall zu bringen. Ehe sich Watson erheben konnte, hatte er bereits die Bleisohlen unter den Füßen gelöst, was zur Folge hatte, dass er förmlich zur Wasseroberfläche emporschoss. Flugs packte er die Strickleiter und klet­terte an Deck. An Deck war die ganze Mannschaft samt dem Kapitän und seinen Freunden versammelt. Sie erstarrten fast, als unter dem Helm Sherlock Antlitz zum Vorschein kam. Zum Teufel, warum hatte Watson das Greenhorn dort unten nicht beseitigt?

Im Handumdrehen entledigte sich Sherlock Holmes der hindernden Kleidung.

»Wo ist Watson?«, schrie ihm der Kapitän zu.

»Unten am Wrack, um die Goldbarren herauszuho­len!« lautete des Weltdetektivs scharfe Antwort.

Ein vielstimmiger Fluch scholl als Antwort, ehe je­doch Weiteres geschehen konnte, zog Sherlock Holmes seinen Browning und feuerte zwei Schüsse in die Luft ab. Dann richtete er die Mündung der Waffe blitz­schnell auf Mixton und befahl mit donnernder Stimme: »Hände hoch, oder ich durchlöchere Euch den Kör­per, so wahr ich Sherlock Holmes heiße!«

Im gleichen Augenblick sprangen die verkappten Beamten heran und zogen ihre Schusswaffen. Da bückte sich Mixton urplötzlich, rollte sich über das Deck und verschwand hinter einem Bündel von Tauen.

Hinter den hohen Felsen der Insel aber tauchten drei Motorboote auf, die in rasende Fahrt näherkamen. Es waren Marinesoldaten, die seit zwei Tagen samt Jonny Buston auf der Insel lauerten und nur auf diesen Au­genblick gewartet hatten.

Vierundzwanzig Stunden später gelang es Sherlock Holmes auch noch, die unbewohnte Insel zu entdecken, die den Piraten zur Unterbringung des größten Teils ihrer Beute gedient hatte. Unermessliche Werte konnten hierdurch den Geschädigten wieder zur Verfügung ge­stellt werden.

Die Piraten aber empfingen samt ihrem Anhang schwere Strafen. Der Kapitän und Joe Trynn wurden hingerichtet, weil sie den Tod zahlreicher Menschen verschuldet hatten.

 

Ende